Gustav Freytag
Soll und Haben
Gustav Freytag

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3

«Wir gaben Sie bereits verloren», rief der eintretende Rittmeister dem Kaufmann zu. «Es ist hier arg gewirtschaftet worden, und meine Erkundigung nach Ihnen war ohne Erfolg; ein Glück war es, daß Ihr Brief mich in dem Gewirr auffand.»

«Wir haben unsern Willen durchgesetzt», sagte der Kaufmann, «wie Sie sehen, nicht ohne Hindernisse -», er zeigte lächelnd auf seinen verbundenen Arm.

«Vor allem lassen Sie mich wissen, welche Abenteuer Sie erlebt haben», sagte der Rittmeister, sich zu dem Verwundeten setzend; «Sie haben mehr Spuren des Kampfes aufzuweisen als wir.» Der Kaufmann erzählte. Er verweilte mit Wärme bei Antons Heldentat, dem er seine Rettung zuschrieb, und schloß mit den Worten: «Meine Wunde verhindert mich nicht zu reisen, und meine Rückkehr ist dringend notwendig. Die Wagen will ich bis zur Grenze mit mir nehmen.»

«Morgen früh geht ein Zug unseres Trains nach der Grenze zurück, diesem können Sie Ihre Wagen anschließen. Übrigens ist die große Straße jetzt sicher. Von morgen wird auch der Postenlauf wieder beginnen.»

«Unterdes erbitte ich Ihre Vermittelung, ich will noch heut durch Stafette Briefe nach Hause senden.»

«Ich will sorgen», versprach der Rittmeister, «daß Ihre Rückkehr morgen keine Verzögerung erleidet.»

Als der Offizier das Zimmer verlassen hatte, sagte der Kaufmann zu Anton: «Ihnen, lieber Wohlfart, muß ich jetzt eine Überraschung bereiten, die Ihnen, wie ich fürchte, wenig willkommen sein wird. Ich wünsche Sie an meiner Stelle hierzulassen.» Erstaunt trat Anton an das Lager des Prinzipals. «Auf unsern Agenten ist in dieser Zeit nicht zu bauen», fuhr der Kaufmann fort; «ich habe in diesen Tagen mit Freuden erkannt, wie sehr ich mich auf Sie verlassen kann. Was Sie noch nebenbei getan haben zur Rettung meines Kopfes, das bleibt Ihnen unvergessen, solange ich lebe. – Und jetzt setzen Sie sich mit Ihrer Schreibtafel zu mir, wir überlegen noch einmal, was wir zu tun haben.»

Am nächsten Morgen hielt ein Postwagen vor der Herberge, der Kaufmann wurde von Anton hineingehoben und ließ an der Seite der Straße halten, bis die Frachtwagen einer nach dem andern zum Tore hinausgefahren waren. Dann drückte er noch einmal Antons Hand und sagte: «Ihr Aufenthalt wird Wochen, ja er kann Monate dauern. Ihre Arbeit wird sehr unangenehm und zuweilen ohne Erfolg sein. Und ich wiederhole Ihnen, seien Sie nicht zu ängstlich, ich vertraue auf Ihr Urteil wie auf mein eigenes. Fürchten Sie nicht, uns einen Verlust zu bereiten, wenn Sie unsichere Schuldner nicht zur Zahlung bringen können. Dieser Ort ist verwüstet und fortan für uns verloren. Leben Sie wohl, auf ein gutes Wiedersehen zu Hause.»

So blieb Anton allein in der fremden Stadt, in einer Stellung, in welcher großes Vertrauen ihm große Verantwortlichkeit auferlegte. Er rief den Wirt und schloß mit ihm auf der Stelle einen Vertrag über seinen ferneren Aufenthalt. Die Stadt war so angefüllt mit Militär, daß er es vorzog, in der kleinen Wohnung, welche er bereits in Besitz hatte, zu bleiben und die Unbequemlichkeiten des dürftigen Quartiers zu ertragen. Er durfte nicht erwarten, es irgendwo wohnlicher zu finden.

Wohl war es eine verwüstete Stadt, welche Antons Fuß durchschritt. Vor wenig Tagen füllte das Gewühl leidenschaftlicher Menschen die Straßen, jede Art von Unternehmungslust war auf den wilden Gesichtern zu lesen. Wo war jetzt der Trotz, die Kampfgier, die Begeisterung der vielen Tausende? – Die Haufen der Landleute, Schwärme des Pöbels, Krieger des Patriotenheeres waren zerstoben wie Geister, welche der Sturmschlag fremder Trommeln verscheucht hat. Was von Menschen auf den Straßen daherschritt, das waren eingedrungene Soldaten. Aber ihre bunten Uniformen gaben der Stadt kein besseres Aussehen. Zwar das Feuer war gelöscht, dessen Qualm in den letzten Tagen den Himmel verdunkelt hatte. Aber in dem bleichen Herbstlicht standen die Häuser da wie ausgebrannt. Die Türen blieben verschlossen, viele Scheiben zerschlagen, auf den Steinen lag der Unrat, faules Stroh, Trümmer von Hausgerät, hier mit zerbrochenen Rädern ein Karren, dort eine Montur, Waffen, die Leiche eines Pferdes. An einer Straßenecke standen Schränke und Tonnen, die man aus Häusern zusammengeworfen hatte als einen letzten Wall gegen die eindringenden Truppen, und dahinter lagen, mit einem Strohbund nachlässig zugedeckt, die Leiber getöteter Menschen. Anton wandte sich mit Grausen ab, als er die blutlosen Köpfe unter den Halmen erblickte. Auf den Plätzen biwakierten neu eingezogene Truppen, ihre Pferde standen in Haufen zusammengekoppelt, daneben aufgefahrene Geschütze; in allen Straßen dröhnte der Tritt starker Patrouillen, nur selten eilte eine Gestalt in Zivilkleidern über das Pflaster, den Hut tief in die Augen gedrückt, mit furchtsamem Blick von der Seite auf die fremden Krieger sehend, zuweilen wurde ein bleicher Mann von Bewaffneten vorübergeführt, und wenn er zu langsam ging, mit dem Kolben vorwärtsgestoßen. Die Stadt hatte häßlich ausgesehen während der Aufregung, sie erschien noch häßlicher in der Totenruhe, welche jetzt auf ihr lag.

Als Anton mit solchen Eindrücken von seinem ersten Gange zurückkehrte, fand er vor seiner Zimmertür einen Husaren, der wie auf Posten mit dröhnendem Tritt auf und ab ging.

«Herr Wohlfart!» schrie der Husar und stürzte dem Ankommenden entgegen.

«Mein lieber Karl», rief Anton, «das ist die erste Freude, die ich in dieser traurigen Stadt habe. Aber wie kommen Sie hierher?»

«Sie wissen ja, daß ich jetzt meine Zeit abdiene. Wir stießen zu unseren Kameraden an der Grenze, wenige Stunden nachdem Sie abgereist waren. Vom Wirt, der mich noch aus dem Geschäft kannte, erfuhr ich Ihre Abreise. Sie können denken, in welcher Angst ich war. Erst heut erhielt ich Urlaub, und es war ein Glück, daß ich einen der Fuhrleute in der Haustür fragte, sonst hätte ich Sie noch nicht gefunden. Und jetzt vor allem, Herr Wohlfart, was macht unser Prinzipal, wie steht's mit unsern Waren?»

«Kommen Sie nur ins Zimmer», erwiderte Anton. «Sie sollen alles hören.»

«Halt», rief Karl, «erst muß noch etwas in Ordnung gebracht werden. Sie sprechen Sie zu mir, das leide ich nicht. Tun Sie mir den Gefallen und reden Sie zu mir, als wäre ich noch der Karl im Geschäft.»

«Aber Sie sind's ja nicht mehr», sagte Anton lachend.

«Dies hier ist nur Maskerade», sagte Karl, auf seine Uniform weisend, «in meinem Herzen bin ich immer noch freiwilliger Auflader bei T. O. Schröter. Wenn mir bei Ihnen wohl sein soll, so führen Sie das alte Du wieder ein.»

«Wie du willst, Karl», erwiderte Anton, «komm herein und laß dir erzählen.»

Karl geriet in den heftigsten Zorn gegen den schlechten Wirt. «Dieser diebische Hundsfott! An unserer Firma, an unserm obersten Chef hat er sich vergriffen. Aber morgen führe ich einen ganzen Beritt unserer Jungen in seine Herberge. Ich lasse ihn in seinen eigenen Hof treiben, er wird als hölzernes Pferd aufgestellt, und wir springen eine Stunde lang über ihn weg, einer nach dem andern, und bei jedem Sprunge geben wir ihm einen Puff auf seinen boshaften Kopf.»

«Herr Schröter hat ihm die Strafe erlassen», sagte Anton begütigend, «sei du nicht grausamer. – Höre, du bist ein hübscher Junge geworden.»

«Es geht an», erwiderte Karl geschmeichelt. «Mit der Landwirtschaft habe ich mich ausgesöhnt. Mein Onkel ist ein guter Mann. Wenn Sie sich meinen Alten halb so groß denken, als er ist, und dünn statt dick und mit einer kleinen Stumpfnase statt einer großen Nase und mit einem länglichen Gesicht statt einem runden und mit einem eselsfarbenen Rock und ohne Lederschürze, dafür mit zwei hohen Kniestiefeln, so haben Sie ganz meinen Onkel. Ein prachtvolles kleines Kerlchen. Er meint's gut mit mir. Am Anfange freilich war mir's zu still auf dem Lande, dagegen viel wasserpolackisches Volk in der Nähe; aber es ging mit der Zeit. Man sieht bei der Wirtschaft immer, was man schafft, das ist die größte Freude. Daß ich Soldat werden mußte, war meinem grauröckigen Onkel ein Strich durch die Rechnung; mir war's recht, daß ich einmal im Ernste auf ein Pferd kam und etwas von der Katzbalgerei mitansehen konnte. Elende Wirtschaften hier auf dem Lande, Herr Wohlfart. Und dieser Platz, es ist eine greuliche Verwüstung!» So schwatzte Karl vergnügt fort. Endlich ergriff er seine Mütze: «Wenn Sie jetzt hierbleiben, so erlauben Sie mir, Sie manchmal auf eine Viertelstunde zu besuchen.»

«Du sollst tun wie zu Hause», sagte Anton. «Wenn du mich einmal nicht triffst, der Wirt hat den Schlüssel, hier stehen die Zigarren.»

So hatte Anton einen alten Freund wiedergefunden. Aber Karl blieb nicht seine einzige Bekanntschaft in Dolman und Schleppsäbel. Der Rittmeister freute sich über den Landsmann, der sich so wacker gegen die Insurgenten gehalten hatte. Er stellte ihn dem Obersten vor, welcher die Truppenabteilung befehligte. Anton mußte diesem seine Abenteuer erzählen und wurde in einem großen Kreise von Epauletten höchlich gelobt, darauf lud ihn der Rittmeister an einem der nächsten Tage zu Tische und stellte ihn den Offizieren seiner Schwadron vor. Antons bescheidene Ruhe machte einen günstigen Eindruck auf die bunten Herren. In der Garnison wären sie wahrscheinlich durch gewisse Ansichten über Menschengröße verhindert worden, mit einem jungen Kaufmann ungezwungen zu verkehren, hier im Felde waren sie selbst tüchtigere Männer als in der geschäftigen Langeweile des Friedens, ihre Vorurteile wurden geringer und ihre Anerkennung eines mutigen Mannes unbefangener. So betrachteten sie den Herrn aus dem Kontor bald als einen verdammt guten Jungen, sie gewöhnten sich, ihn im Scherz bei seinem Vornamen zu nennen, und wenn sie im Kaffeehaus ihre Tasse tranken und eine Partie Domino spielten, so riefen sie Anton unfehlbar in ihren Kreis. Eine dunkle Sage von großem Vermögen und von ungewöhnlichen Verbindungen des Zivilisten tauchte aus dem Dunkel der Jahre jetzt wieder auf, aber, um der Schwadron nicht unrecht zu tun, dies war nicht mehr der Hauptgrund für die rücksichtsvolle Behandlung, die sie ihrem Landsmann gönnten. Anton fühlte sich durch die leichte Verbindung mit den ritterlichen Knaben mehr gehoben, als er sich selbst oder Herrn Pix gestanden hätte. Er genoß jetzt den freien Verkehr mit anspruchsvollen Menschen und erschien sich manchem ebenbürtig, den er bis dahin von seinem Kontor aus mit stillem Respekt betrachtet hatte. Alte Erinnerungen wurden in ihm mächtig, er fühlte sich aufs neue hereingezogen in den Zauber eines Kreises, welcher ihm für frei, glänzend und schön galt. Auch der Leutnant von Rothsattel gehörte bald zu den guten Bekannten Antons. Anton behandelte ihn mit der zartesten Aufmerksamkeit, und der Leutnant, im Grunde ein verzogener, leichtsinniger, gutmütiger Mensch, ließ sich die herzliche Neigung Antons gern gefallen und lohnte ihm durch besondere Vertraulichkeit.

Die Geschäfte Antons sorgten dafür, daß er unter den neuen Bekannten seine Selbständigkeit nicht verlor. Wohl war die Stadt ein verwüsteter Ort, der wilde Rausch war verflogen, jetzt lag die Abspannung auf aller friedlichen Tätigkeit. Die täglichen Lebensbedürfnisse waren teuer, und lohnende Arbeit war nur für wenige vorhanden. Mancher, der sonst Stiefel getragen hatte, ging barfuß, wer in anderer Zeit einen neuen Rock gekauft hätte, ließ jetzt einen Lappen auf den alten setzen, der Schuster und der Schneider verzehrten zum Frühstück Wassersuppe statt Kaffee und Zucker, der Krämer bezahlte seine Schuld beim Kaufmann nicht, und der Kaufmann vermochte nicht seine Verpflichtung gegen andere Handlungshäuser zu erfüllen. Wer in solcher Zeit sein Geld zurückfordert von solchen, welche schwere Verluste mutlos beklagen, der hat eine harte Arbeit. Anton empfand das. Überall hörte er Klagen, die nur zu sehr begründet waren, an vielen Orten versuchte man, seinem Drängen durch allerlei Kunstgriffe zu entgehen. Täglich erlebte er peinliche Szenen, oft mußten beim Advokaten endlose Verhandlungen in polnischer Sprache aufgenommen werden, bei denen er sich wie verkauft vorkam, obgleich der Agent den Dolmetscher machte. Es war ein bunt zusammengewürfelter Handelsstand, in welchem Anton zu verkehren hatte, Männer aus allen Teilen Europas. Der Verkehr hatte vieles, was in deutschen Augen als wild und unregelmäßig galt. Und doch übte die Gewohnheit, Verpflichtungen zu erfüllen, einen so großen Einfluß auch auf mutlose Naturen, daß Antons Beharrlichkeit mehr als einmal den Sieg errang.

Die größte Forderung hatte sein Haus an einen Herrn Wendel, einen kleinen trockenen Mann, der stille Geschäfte nach allen Seiten gemacht hatte. Man sagte, er sei reich geworden durch Schmuggel und jetzt in großer Gefahr, zu fallen. Er hatte den Prinzipal selbst mit Trotz empfangen und gebärdete sich gegen Anton lange wie ein Verzweifelter. Anton hatte wieder einmal wohl eine Stunde lang in den mürrischen Alten hineingesprochen, und wie sehr der Mann sich drehte und wand, er war fest geblieben. Da brach Wendel endlich in die Worte aus: «Es ist genug, ich bin ein ruinierter Mann, aber Sie verdienen, zu Ihrem Gelde zu kommen. Ihr Haus ist gegen mich immer großartig gewesen. Sie sollen Deckung erhalten. Schicken Sie mir noch heut Ihren Agenten, holen Sie mich morgen früh ab.»


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