Gustav Freytag
Soll und Haben
Gustav Freytag

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2

Es war ein sonniger Morgen im April. Einer von den schönen Tagen, wo eine feuchte Wärme die Knospen der Bäume entfaltet und das Menschenherz zu schnelleren Schlägen treibt. Lenore ging mit Hut und Sonnenschirm aus dem Schlosse nach dem Hofe und schritt in dem Rinderstall die Reihe der gehörnten Häupter entlang. Mit großen Augen sah das Volk der Kühe nach ihr hin, alle erhoben die breiten Mäuler, zuweilen brüllte eine lustige Kuh und erbat etwas Gutes aus ihrer Hand. «Ist Herr Wohlfa[*]rt hier?» fragte Lenore den Amtmann, der am Stall vorübereilte.

«Er ist im Schlosse, gnädiges Fräulein.»

«Sein Besuch ist doch wohl bei ihm?» fragte sie weiter.

«Herr von Fink ist schon diesen Morgen nach Neudorf geritten, der hat keine Ruhe in der Stube, er ist am liebsten zu Pferde. Der wäre ein Husarenoffizier geworden!»

Als Lenore so erfahren hatte, wohin Herr von Fink geritten war, ging sie, um dem Gast nicht zu begegnen, langsam in anderer Richtung über den Bach und die Äcker dem Walde zu. Sie sah nach dem blauen Himmel und auf die sprossende Erde. In dem klaren Morgenlicht glänzten die Wintersaat und die grünen Spitzen des Grases so fröhlich, daß ihr das Herz lachte. Auf den Weiden am Bach lag der Frühling wie ein durchsichtiger Hauch, die goldgelben Ruten strotzten von Saft, und aus den geschwollenen Knospen brachen die ersten Blätter hervor. Auch der Sand war ihr heut kein Ärger, sie schritt mit leichtem Fuß über den breiten Gürtel, der den Wald umgab, und eilte auf dem Fußwege durch die Kiefern dem Försterhause zu. Im Walde tummelte sich mit Geschrei und Brummen die kleine Tierwelt. Wo eine Gruppe Laubbäume unter den Nadeln stand, tönte jedesmal der kräftige Schlag des Finkenhahns oder das eifrige Gezwitscher eines neuvermählten Paares kleiner Waldvögel, welche miteinander zankten, auf welchem Zweig sie ihr Nest in diesem Jahr erbauen wollten. In ihrem schwarzen Küraß schnurrten die Käfer um die Knospen der Birke, zuweilen summte eine wilde Biene, die früh aus dem Winterschlaf aufgeflogen war; auch die braunen Schmetterlinge flatterten schon über den Beerenstrauch, und wo der Grund tiefer war, leuchteten im Schatten die weißen Sterne der Anemone und gelbe Himmelsschlüssel. Lenore nahm den Strohhut ab und ließ die warme Luft um ihre Schläfe ziehen, mit tiefen Zügen atmete sie den Duft des Waldes ein, der um die jungen Stämme der Föhren schwebte. Oft stand sie still und horchte auf die Stimmen in ihrer Nähe, sie sah in das zarte Laub der Bäume und schlug mit der Hand auf die weiße Rinde einer Birke, sie stand an dem murmelnden Quell vor dem Försterhause und fuhr liebkosend in die kleinen Fichten am Zaun, welche gedrängt und regelmäßig wie Bürstenhaare standen. Ihr war, als hätte sie den Wald noch nie so lebendig gesehen. Die Hunde im Hofe des Försters bellten wütend, sie hörte den Fuchs mit seiner Kette rasseln und sah hinauf zu dem Dompfaff, der in seinem Bauer auf und ab sprang und wie die großen Herren, die Hunde, zu bellen versuchte.

«Still, Hektor, still, Bergmann», rief Lenore, an die Pforte klopfend. Der stürmische Ruf der Hunde verwandelte sich in freundliche Begrüßung. Als sie die Pforte öffnete, kam ihr Bergmann, der Dachshund, breitbeinig entgegen und wedelte unmäßig mit seinem Schwanze, und Hektor umsprang sie in kühnen Sätzen und roch nach ihrer Tasche, selbst der Fuchs kroch in seine Hütte zurück, legte den Kopf lauschend auf seinen Futtertrog und blinzelte sie schlau an. An der andern Seite des Zaunes aber sah sie einen Pferdekopf über die Fichten ragen – gerade er, den sie vermeiden wollte, war in der Einsamkeit. Sie stand einen Augenblick unschlüssig und war im Begriffe, sich still wieder zu entfernen, als der Förster auf die Türschwelle trat und sie begrüßte. Jetzt konnte sie nicht mehr zurück; sie folgte dem Alten nach seiner Stube. In der Mitte des Zimmers stand Fink, hell beleuchtet von dem gelben Sonnenstrahl, der durch die kleinen Scheiben fiel. Er trat ihr artig entgegen. «Ich ging aus, das Handwerk zu grüßen», sagte er, auf den Förster deutend, «und bin gerade dabei, mich über Ihren trotzigen Vasallen und seine heimliche Wohnung zu freuen.» Der Förster rückte einen Stuhl, Lenore mußte sich setzen, Fink lehnte ihr gegenüber an der braunen Holzwand und sah sie mit unverhohlener Bewunderung an. «Sie sind ein mächtiger Gegensatz zu dem alten Knaben hier und diesem Raume», sagte er sich umsehend. «Ich bitte, winken Sie nicht mit Ihrem Sonnenschirm, alle diese ausgestopften Vögel erwarten nur Ihren Befehl, um wieder lebendig zu werden und sich zu Ihren Füßen niederzulassen. Dort der Reiher hebt schon seinen Kopf in die Höhe.»

«Es ist nur der Schein von der Sonne», sagte der Förster beruhigend.

Lenore lachte. «Diese Ausreden kennen wir», rief Fink. «Ihr seid mit im Komplott, Ihr seid der Gnom dieser Königin. Wenn hier keine Zauberei getrieben wird, will ich alle Tage meines Lebens verschlafen. Ein Zeichen mit diesem Stabe, und die Deckbalken dieses großen Vogelbauers klappen zurück, und Sie fliegen mit Ihrem Gefolge aus der Hütte hinaus in das Sonnenlicht. Es ist kein Zweifel, in dem Gipfel der Föhren draußen ist Ihre Residenz, die luftige Halle, in welcher Ihr Thron steht, mächtige Herrin dieser Hütte, blondlockige Göttin des Frühlings.»

«Mein Trost ist nur», sagte Lenore etwas verwirrt, «daß nicht ich es bin, die Sie zu solchen Erfindungen veranlaßt, sondern die Freude an der Erfindung selber. Ich bin nur zufällig der unwürdige Gegenstand Ihrer Laune, Sie sind der Dichter.»

«Pfui, wie können Sie mir so etwas nachsagen», rief Fink. «Ich ein Dichter! Außer einigen lustigen Matrosenliedern, deren Text ein gütiges Geschick ewig von Ihrem Ohr fernhalten möge, kenne ich kein einziges Gedicht auswendig. Was ich von Poesie schätze, sind nur einige Bruchstücke der ältern Schule, zum Beispiel: ‹Hurre, hurre, hop, hop, hop›, in einem Gedicht, welches, wenn ich nicht irre, Ihren Namen trägt. Und selbst an dieser klassischen Zeile habe ich noch auszusetzen, daß sie mehr den harten Trab eines Bauerngaules als den Karrierelauf eines Geisterpferdes ausdrückt. Indes, man muß es mit den Herren von der Schreibstube nicht so genau nehmen. Außer dieser Zeile wird wenig Dichterarbeit in mir aufzufinden sein. Etwa noch der ansprechende Reim des großen Schiller: ‹Potz Blitz, das ist ja die Gustel von Blasewitz.› In dieser Stelle liegt viel Wahrheit.»

«Sie spotten über mich», sagte Lenore gekränkt.

«Wahrhaftig nicht», beteuerte Fink. «Wenn es Ihnen Freude macht, will ich gern noch einige poetische Kleinigkeiten einiger Dichter gelten lassen, vorausgesetzt, daß ich sie nur selten lesen darf. Wie kann man in unserer Zeit Gedichte lesen oder gar machen, wenn man alle Tage selbst welche erlebt. Seit ich wieder in diesem alten Lande bin, vergeht kaum eine Stunde, wo ich nicht etwas sehe oder höre, woran sich in hundert Jahren die Herren von der Feder berauschen werden. Gloriose Stoffe für jede Art von Kunstgeschäft. Hätte ich das Unglück, ein Poet zu sein, so müßte ich jetzt vor Begeisterung hinausstürzen und kopfüber zum Fuchs in die Hütte springen, um dort in sicherer Entfernung von der Leidenschaft ein leidenschaftliches Sonett zu machen, während mich der Fuchs in die Beine beißt. Da ich aber kein Mann von der Feder bin, so ziehe ich vor, das Schöne, das ich hier sehe, zu genießen und nicht in Reime zu setzen.» Und wieder sah er bewundernd auf das Fräulein.

«Lenore», rief eine grämliche Stimme aus der Tiefe des Zimmers. Lenore und Fink sahen sich erstaunt um.

«Er hat's gelernt», sagte der Förster, auf den Raben weisend, «er lernt sonst nichts mehr und sitzt da, grimmig gegen alle Kreatur, aber das hat er doch gelernt.»

Der Rabe am Ofen bog seinen Hals und sah mit scharfen Augen auf die beiden Gäste, er bewegte den Schnabel und schien still in sich hineinzusprechen, bald nickte er mit dem Kopf, bald schüttelte er ihn.

«Schon fangen die Vögel an zu reden», rief Fink, zu dem Raben tretend, «die Stubendecke wird sogleich in die Höhe gehen, und ich werde allein zurückbleiben und mit Bergmann und Hektor Ihnen traurig nachsehen. Nun, Hexenmeister, kocht das Wasser?»

Der Förster sah in den Ofen. «Es kocht tüchtig», sagte er, «aber was tun wir jetzt?»

«Wir bitten das Fräulein um Hilfe», erwiderte Fink. «Ich habe vor», sagte er, zu Lenoren gewandt, «mit Ihrem Familientrapper durch den Wald bis nach der Brennerei zu ziehen und von da weiter; hier habe ich mitgebracht, was mir auf Reisen als Frühstück und Mittagessen dient.»

Er holte einige Tafeln Schokolade hervor. «Wir wollen daraus etwas machen, was einem Trunke ähnlich sieht. Wenn Sie nicht verschmähen, uns bei unserm Unternehmen Gesellschaft zu leisten, schlage ich vor, daß wir diese Schokolade so gut als möglich mit dem Wasser zu verbinden suchen. Es wäre reizend von Ihnen, wenn Sie eine Ansicht darüber aussprächen, wie wir das anfangen sollen.»

«Haben Sie ein Reibeisen oder einen Mörser?» fragte Lenore lachend den Förster.

«Diese Geräte habe ich nicht», erwiderte der Waldmensch.

«Aber einen Hammer», fragte Fink, «und einen reinen Bogen Papier?» Der Hammer wurde schnell gebracht, der Bogen Papier fand sich nach längeren Forschungen. Fink übernahm das Geschäft, die Schokolade zu zerschlagen, der Förster holte frisches Wasser aus dem Quell, Lenore spülte einige Gläser aus, und Fink klopfte eifrig auf dem Tisch herum. «Dies ist antediluvianisches Papier», sagte er pochend, «lederartig, noch aus der Zeit, wo es keine Papiermaschinen gab; es muß einige Jahrhunderte in dieser verzauberten Hütte gelegen haben.» Lenore schüttelte die zerstampfte Masse in den Topf mit Wasser und brachte sie durch einen Quirl in Bewegung. Dann setzten sie sich alle drei an den Tisch des Försters und tranken mit großem Behagen aus den Gläsern ihrer Hände Werk.

Goldig drangen die Lichtstrahlen in das Zimmer, sie suchten die helle Gestalt des schönen Mädchens und das kräftige Antlitz des Mannes ihr gegenüber, dann fielen sie auf die Wand, wo sie den Kopf des Reihers mit buntem Glanz schmückten und die Flügel des Habichts. Der Rabe schloß sein Selbstgespräch, er flatterte von seinem Sitz auf, hüpfte vor die Füße des Fräuleins und krächzte dort von neuem: «Lenore, Lenore!»

Friedlich unterhielt sich Lenore mit dem Gast, der Förster gab zuweilen ein kluges Wort dazu. Sie sprachen von der Landschaft und den Menschen darin.

«Wo ich die Polen in fremden Ländern gesehen», sagte Fink, «habe ich mich immer gut mit ihnen vertragen. Jetzt tut mir leid, daß die Spannung hier so schwer macht, sie in ihrer Heimat aufzusuchen, denn freilich lernt man die Menschen am besten kennen, wenn man sie in ihren Pfählen sieht.»

«Es muß ein großes Glück sein, so vieles Verschiedene zu sehen», rief Lenore.

«Nur im Anfange fällt das Verschiedene mächtig in die Seele. Wenn man allerlei beobachtet hat, so ist die letzte Empfindung, daß die Menschen einander überall sehr ähnlich sind. Etwas Unterschied in der Hautfarbe und andern Zutaten, aber Liebe und Haß, Lachen und Weinen findet der Reisende allerwegen, und diese Dinge sehen überall ziemlich gleich aus. Es sind jetzt zwanzig Wochen, da war ich eine halbe Erde von hier entfernt in der Holzhütte eines Amerikaners auf öder Grassteppe. Es war nicht anders als hier. Wir saßen an einem dicken Holztisch wie dieser, und mein Wirt sah dem alten Herrn so ähnlich wie ein Ei dem andern. Und gerade wie hier fiel das Licht der Wintersonne durch die kleinen Fenster. – Und wenn die Männer noch mehr haben, was sie unterscheidet, die Frauen vollends sind in der Hautfarbe überall dieselben. Nur in einer Kleinigkeit sind sie verschieden.»

«Und was ist dieses?» fragte der Förster.

«Etwas mehr oder weniger reinlich», sagte Fink nachlässig, «das ist der ganze Unterschied.»

Lenore erhob sich empört, mehr über den Ton als die Worte. «Es wird Zeit, daß ich zurückgehe», sagte sie kalt und band den Strohhut auf.

«Da Sie aufstehen, verschwindet der Glanz aus der Stube», rief Fink.

«Es ist nur eine kleine Wolke vor die Sonne gelaufen», sagte der Förster, zum Fenster tretend, «diese macht den Schatten.»

«Unsinn», entgegnete Fink, «der Strohhut macht ihn, der das Haar des Fräuleins versteckt, von den goldenen Locken ging das Licht aus.»

Sie traten aus dem Hause, der Förster verschloß die Pforte, in entgegengesetzter Richtung entfernten sie sich von der Hütte.

Lenore eilte nach Hause, der Zeisig sang, die Amsel pfiff, sie achtete nicht darauf. Sie schalt sich, daß sie die Schwelle des Försterhauses betreten hatte und doch konnte sie nicht aufhören, daran zu denken. Der Fremde machte sie unruhig und unsicher. War er frech, weil ihm nichts heilig war? War er nur so übermütig sicher? Mußte sie ihm zürnen, oder war das Gefühl von Angst nur die Torheit eines unerfahrenen Mädchens? Das fragte sie sich unaufhörlich, ach, und sie fand keine Antwort!


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