Gustav Freytag
Soll und Haben
Gustav Freytag

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5

Anton hatte in den ersten Wochen Mühe, sich in der neuen Welt zurechtzufinden, in die er versetzt war. Das Gebäude, der Haushalt, das Geschäft waren so altertümlich solid und großartig, daß sie auch einem Weltbürger von mehr Erfahrung imponieren mußten.

Das Geschäft war ein Warengeschäft, wie sie jetzt immer seltener werden, jetzt, wo Eisenbahnen und Telegraphen See und Inland verbinden, wo jeder Kaufmann aus den Seestädten durch seine Agenten die Waren tief im Lande verkaufen läßt, fast bevor sie im Hafen angelangt sind, so selten, daß unsere Nachkommen diese Art des Handels kaum weniger fremdartig finden werden als wir den Marktverkehr zu Timbuktu oder in einem Kaffernkral. Und doch hatte dies alte weltbekannte Binnengeschäft ein stolzes, ja fürstliches Ansehen, und was mehr wert ist, es war ganz gemacht, bei seinen Teilhabern feste Gesinnung und ein sicheres Selbstgefühl zu schaffen. Denn damals war die See weit entfernt, die Konjunkturen waren seltener und größer, so mußte auch der Blick des Kaufmanns weiter, seine Spekulation selbständiger sein. Die Bedeutung einer Handlung beruhte damals auf den Massen der Waren, welche sie mit eigenem Gelde gekauft hatte und auf eigene Gefahr vorrätig hielt. Auf den Packhöfen am Flusse lag in langen Speichern ein großer Teil der fremden Waren aufgestapelt, ein kleinerer Teil in den Kellern und Gewölben des alten Hauses selbst, viele Vorräte in Speichern und Remisen der Nachbarschaft. Zahlreiche Kaufleute in der Provinz versorgten sich aus den Magazinen der Handlung mit Kolonialwaren und den tausend guten Erzeugnissen der Fremde, welche uns ein tägliches Bedürfnis geworden sind. Aber auch über die Grenzen des Landes hinaus, nach dem Süden und Osten, bis an die türkische Grenze, saßen die Agenten des Hauses, und dieser Teil des Geschäftes, vielleicht weniger regelmäßig und sicher, galt zur Zeit für die gewinnreichste Tätigkeit der Handlung.

So bot der Verkehr des Tages dem neuen Lehrling eine Menge der verschiedensten Eindrücke, Menschen und Verhältnisse aller Art. Außer den Agenten der Seeplätze, welche fast täglich Warenproben brachten, und außer den Sensalen der Börse, welche die Geldgeschäfte des Hauses vermittelten, Wechsel anboten und verkauften, zog durch das vordere Kontor vom Morgen bis zum Abend eine bunte Prozession von allerlei Volk. Da kamen Materialhändler aus der Provinz, altväterische Männer mit jeder Art von Mützen und jedem Grade von Bildung und Zuverlässigkeit; sie kauften, drückten die Hände und verlangten, als alte Freunde des Geschäftes behandelt zu werden; ferner Gutsbesitzer jedes Standes aus der Landschaft, welche die angebauten Handelsgewächse, Farbkräuter, Gewürze usw. anboten; dann polnische Juden, schwarzlockige Gesellen im langen seidenen Kaftan, die zuweilen einkauften, gewöhnlich aber die Erzeugnisse ihrer Länder, Wolle, Hanf, Pottasche, Talg, verkaufen wollten. Mit ihnen war der Verkehr am wenigsten geschäftsmäßig, ihr Kommen erregte jedesmal unter den jüngeren Leuten des Kontors stille Heiterkeit. Dazwischen kamen Bettler, Hilfesuchende aller Art, Geschäftsfreunde des Hauses, Fuhrleute, welche ihre Frachtbriefe forderten, Auflader und Hausknechte, welche Aufträge erhielten oder die Aufträge anderer Geschäfte ausrichteten. Anton fand es sehr schwer, bei diesem ewigen Türöffnen und Durcheinandersprechen seine Gedanken zusammenzuhalten und die einfache Arbeit, welche ihm aufgetragen war, zu vollenden.

Eben war Herr Braun eingetreten, der Agent eines befreundeten Hauses in Hamburg, und hatte aus seiner Tasche eine Anzahl Kaffeeproben hervorgeholt. Während diese vom Prinzipal besichtigt wurden, gestikulierte der kleine behende Agent mit seinem goldenen Stockknopf in der Nähe von Antons Augen umher und berichtete von einem Seesturme und dem Schaden, den er angerichtet haben sollte. Da knarrte die Tür, und eine ärmlich gekleidete Frau trat herein. Herr Specht erhob sich und fragte: «Was wollen Sie?» Man hörte klägliche Töne, welche mit dem Gepiep eines kranken Huhns Ähnlichkeit hatten, der Kaufmann griff schnell in die Tasche, und das Piepen verwandelte sich in ein behagliches Glucksen. «Haushohe Wellen», ruft der Agent. – «Gott vergelt' es tausendmal», gluckste die Frau. – «Macht 550 Mark 10 Schilling», sagte Herr Baumann zum Prinzipal.

Jetzt wird die Tür heftig aufgerissen, ein starker Mann, mit einem Geldsack unterm Arm, tritt ein, er setzt den Geldsack triumphierend auf den Marmortisch und ruft mit dem Ausdruck eines Mannes, der eine gute Tat vollbringt: «Hier bin ich, und hier ist Geld!» Sogleich erhebt sich Herr Jordan und sagt vertraulich: «Guten Morgen, Herr Stephan, wie geht's in Wolfsburg?» – «Ein furchtbares Loch», klagt Herr Braun. – «Wo?» fragt Fink. – «Es ist keine schlechte Stadt, aber wenig Nahrung», sagt Herr Stephan. – «Natürlich im Rumpfe des Schiffes», antwortet Herr Braun. – «Fünfundsiebzig Sack Kuba», bemerkt der Prinzipal als Antwort auf die Frage eines Kommis.

Während nun Herr Stephan die Neuigkeiten seiner Stadt erzählt, darunter die traurige Geschichte eines Lehrjungen, der sich mit Hilfe einer Schlüsselbüchse erschossen hat, und während Jordan diese notwendige Einleitung zu dem bevorstehenden Einkauf geduldig durchmacht, öffnet sich wieder die Tür, ein Bedienter tritt ein und ein Jude aus Brody. Der Diener bringt dem Kaufmann die Einladung zu einem Diner, und der Jude schleicht an die Ecke, wo Fink sitzt.

«Wozu kommt Ihr wieder, Schmeie Tinkeles?» fragt Fink kalt. «Ich habe Euch schon gesagt, daß wir kein Geschäft mit Euch machen wollen.»

«Kein Geschäft?» ruft der unglückliche Tinkeles krächzend in abscheulichem Deutsch, so daß Anton ihn nur mit Mühe versteht. «Solche Wolle, wie ich bringe, ist noch nicht gewesen im Lande.»

«Wie hoch der Zentner?» fragt Fink schreibend, ohne den Juden anzusehen.

«Was ich doch habe gesagt», antwortet der Jude.

«Ihr seid ein Narr», sagt Fink, «fort mit Euch!»

«Kein Lotse kann ihm helfen», sagte Braun.

«Meine Empfehlung an Herrn Kommerzienrat», sagt der Kaufmann.

«Mit einem Schwefelhölzchen hat er den Schlüssel angezündet», ruft Herr Stephan zum Himmel blickend.

«Mei», schreit der Mann im Kaftan, «was ist das: fort mit Euch? Mit fort kann man machen keine Geschäfte.»

«Was wollt Ihr also haben für Eure Wolle?»

«41⅔», sagt Tinkeles.

«Hinaus!» bemerkt Fink.

«Sagen Sie doch nicht immer hinaus», bittet der Jude in Verzweiflung, «sagen Sie, was wollen Sie geben?»

«Wenn Ihr so unverschämt fordert, gar nichts», sagt Fink, eine neue Seite seines Briefes beginnend.

«Sagen Sie doch nur, was wollen Sie geben?» bittet der Jude wieder.

«Nur wenn Ihr wie ein anständiger Mann redet», antwortet Fink, den Juden ansehend.

«Ich bin anständig» sagt der Jude leise, «was wollen Sie geben?»

«39», sagt Fink.

Jetzt gerät Schmeie Tinkeles außer sich, schüttelt seine schwarzen Locken und verschwört sich bei seiner Seele Seligkeit mit lautem Geschrei, er könne nicht unter 41; worauf Fink ihm bedeutet, er werde ihn von einem Hausknecht hinausführen lassen, wenn er solchen Lärm mache. Darauf geht der Jude entrüstet vor die Tür, steckt den Kopf wieder herein und ruft: «Also, was wollen Sie geben?»

«39», sagt Fink und sieht der aufgeregten Mimik des Händlers ungefähr mit demselben Interesse zu, mit dem ein Physiker die galvanischen Zuckungen eines Frosches betrachtet. Die Zahl 39 bewirkt in der Seele des Juden eine neue Explosion, er tritt wieder vor, verschwört seine Seele in den tiefsten Abgrund der Hölle und erklärt sich selbst für das nichtswürdigste Scheusal der Welt, wenn er für weniger als 41 ablassen könne. Als er sich auf wiederholte Ermahnungen Finks, ruhig zu werden, dazu nicht entschließen kann, wird der Hausknecht gerufen. Sein Erscheinen wirkt nun so weit beruhigend, daß Herr Tinkeles erklärt, er könne allein gehen und werde allein gehen, worauf er stillsteht und 40½ sagt. Der Agent, der Provinziale und das Kontor sind still und hören der Verhandlung neugierig zu, während Fink dem armen Schmeie mit einer gewissen Herzlichkeit den Vorschlag macht, er solle sich ohne weiteres entfernen, er sei völlig Narr und mit ihm kein Geschäft zu machen. Darauf wendet sich der Jude trotzig ab und geht hinaus. Und wieder fährt Herr Braun fort: «Dieser Sturm war ein seltenes Unglück, der Kaffee muß steigen», und Herr Stephan beweist, daß die Selbstmorde und andere Untaten seit der Erfindung der Schwefelhölzer zugenommen haben; und Fink sagt zum Prinzipal, der einen unterdes erhaltenen Brief durchliest: «Er wird's lassen, wenn ich ihm noch einen halben Taler zulege. Wollen Sie mit 39½ abmachen?»

«Wieviel?» fragt der Kaufmann.

«120 Zentner», sagt Fink.

«Nehmen Sie», sagt der Kaufmann und liest weiter.

Von neuem wird die Tür aufgerissen, das Geschwirr geht fort, und Anton müht sich vergebens zu verstehen, wie man die Wolle kaufen könne, nachdem der Verkäufer in so entschiedener Weise gegangen ist. Da öffnet sich, gerade als wieder drei bis vier Stimmen durcheinandersprechen, ganz leise die Tür, Tinkeles schleicht auf den Zehen herein bis hinter Finks Platz und sagt, diesem die Hand auf die Schulter legend, wehmütig und vertraulich: «Was wollen Sie noch geben?»

Fink wendet sich um und sagt ebenfalls mit vertraulichem Lächeln: «Weil Ihr es seid, Tinkeles, 39½, aber nur unter der Bedingung, daß ihr kein Wort weiter sprecht, sonst nehm' ich das Gebot zurück.»

«Ich spreche nichts», antwortet der Jude, «sagen Sie 40.»

Fink machte eine Bewegung der Entrüstung und weist schweigend nach der Tür. Der Händler geht und dreht an der Tür um.

«Jetzt kommt's», sagt Fink. Darauf kehrt der Händler zurück und spricht mit mehr Haltung: «39½, wenn Sie es dafür wollen nehmen.»

Nach einigem Zögern bemerkt Fink wie gelegentlich: «Es mag sein.» Worauf Schmeie Tinkeles ganz umgewandelt ist, sich als liebenswürdiger Freund der Handlung erweist und angelegentlich nach dem Befinden des Prinzipals erkundigt.

Und wieder knarrte nach diesem Intermezzo die Tür, neue Käufer und Verkäufer kamen, die Menschen sprachen, und Federn knisterten, das Geld rollte unaufhörlich.


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