Gustav Freytag
Soll und Haben
Gustav Freytag

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Der sonnige Tag nach langem Schnee- und Regenschauer lockte die Leute aus allen Höfen nach der Stadt, in kleinen Haufen zogen sie eilig vorwärts, wenig Frauen darunter, es war ein lautes Anrufen der verschiedenen Gesellschaften und ein Leben auf der Straße wie sonst am Abend bei der Heimkehr. Vor dem ersten Wirtshaus an der Straße ließ Anton halten. Der Kutscher fragte: «Es ist weit von hier nach dem Markte, wie wird es sein mit dem Aufladen des Hafers?»

«Bleib bei den Pferden», befahl Anton, «und geh nicht nach der Stadt; wenn ich etwas kaufe, lasse ich's herausschaffen zum Umladen.» Eilig schritt er durchs Tor in das Gewühl der Gassen. Die Stadt war mit Menschen überfüllt, es wogte schon vom Tore an in hellen Haufen, kaum daß die Getreidewagen durchdrangen. Als Anton auf den Marktplatz kam, war er betroffen über das Aussehen der Männer. Überall erhitzte Gesichter, gespannte Züge, es waren nicht wenige in Jägertracht unter dem Volke, und häufig sah man auf den Mützen eine fremde Kokarde. Vor dem Hause des Weinkaufmanns war das Gedränge am größten, dort standen die Leute Kopf an Kopf und sahen hinauf nach den Fenstern; an denen bunte Fahnen hingen, zu oberst polnische Farben, andere ausländische darunter. Noch sah Anton finster auf die Front des Hauses, da öffnete sich die Tür, und auf die steinerne Treppe traten der Herr von Tarow und ein Fremder mit einer Schärpe um den Leib. Anton erkannte in ihm den Polen, der ihn einst mit Standrecht bedroht und vor einigen Monaten nach dem Inspektor gefragt hatte. Ein junger Mann sprang aus dem Haufen auf die unterste Stufe, rief laut etwas in polnischer Sprache und schwenkte die Mütze: ein lautes Geschrei war die Antwort, dann wurde alles still. Der Tarowski sprach einige Worte, von denen Anton nichts verstand, hinter ihm rasselten die Wagen, und die Menge drängte sich hin und her. Darauf begann der Herr mit der Schärpe eine mächtige Rede. Er sprach lange, oft wurde er durch lautes Beifallsgeschrei unterbrochen; als er geendet hatte, erscholl ein betäubender Lärm, wilder polnischer Zuruf. Die Türen des Hauses wurde weit geöffnet, die Menge wogte durcheinander wie ein unruhiges Meer. Ein Haufe stürzte fort und verteilte sich auf dem Markte, andere sprangen in das Haus; wer hineingeeilt war, kam nach wenigen Augenblicken mit einer Kokarde an der Mütze, bewaffnet mit einem Sensenspeer wieder heraus. Im Nu hatten sich ein Haufe Sensenmänner und ein Trupp mit Feuergewehren vor dem Hause aufgestellt. Die Zahl der Bewaffneten wurde größer, kleinere Abteilungen Sensenmänner, von einzelnen Flintenträgern geführt, eilten von dem Hause weg nach allen Richtungen des Marktes. Hinter Anton klang Kommandoruf und Befehl, er wandte sich um und sah einzelne bewaffnete Reiter, welche die aufgefahrenen Wagen mit strengen Worten zur Abfahrt vom Markte trieben. Der Lärm und das Getümmel wurde stürmischer, mit ängstlichem Zuruf hieben die Landleute auf ihre Pferde, die Verkäufer flüchteten mit ihren Waren in die Häuser, die Läden wurden geschlossen. Nach wenigen Augenblicken hatte der Markt ein unheimliches Aussehen. Die Wagen waren entfernt, an den Marktecken standen einzelne Posten von Sensenmännern, ihre langen Spieße blinkten hell in der Morgensonne. Auf dem Platze selbst wogte die unsichere Menge. Betäubt, erschüttert, empört eilte Anton in dem Haufen fort, so kam er auf die andere Seite des Platzes. Dort lag das Steueramt, schon von weitem kenntlich durch das Wappenschild des Staates, das auf Holz gemalt neben dem Fenster hing. Dort drängten sich die Massen wieder; ein Posten von Sensenmännern stand vor dem Hause, aus der Ferne sah Anton, daß ein Mann eine Leiter ansetzte, zu dem Wappen hinaufstieg und mit einem Hammer auf das Schild pochte, bis es herabfiel auf den Boden. Als das Wappen auf die Steine schlug, ging durch die versammelte Menge ein leiser Ton wie ein Seufzen; es war still geworden, daß man jeden Laut hören konnte. Eine Rotte von trunkenem Gesindel stürzte sich mit wildem Jauchzen auf das Schild, ein Strick wurde daran gebunden, und mit Hohngeschrei wurde es in den Rinnstein und über die Straße geschleift.

Anton war außer sich, eine Flut von stürmischen Leidenschaften drängte nach seinem Herzen. «Ihr Schurken!» rief er laut und rannte durch die Umstehenden auf die Bande zu. Da faßte ihn ein starker Arm um den Leib, und eine bebende Stimme sprach: «Nicht weiter, Herr Wohlfart, heut ist ihr Tag, morgen kommt unser Tag.» Anton riß sich los und sah neben sich die große Figur des Schulzen von Neudorf, er sah sich im Augenblick umgeben von einer Anzahl dunkler Männergestalten. Es waren die blauen Röcke deutscher Bauern, Gesichter voll Zorn und Kummer, welche ihn wie mit einem Wall einschlossen. «Laßt mich heraus!» rief Anton, noch immer außer sich. Wieder aber legte sich die schwere Hand des Schulzen auf seine Schulter, und mit nassen Augen sprach der Mann: «Schonen Sie Ihr Leben, Herr Wohlfart, es ist jetzt umsonst, wir haben nichts als unsere Faust und sind die Minderzahl.» Und von der andern Seite wurde seine Hand umfaßt wie von Schrauben, und der alte Förster stand schluchzend neben ihm und stöhnte: «Daß ich diesen Tag erleben muß, o die Schande, die Schande!» Dabei schüttelte er krampfhaft Antons Hand, schlug sich dann mit seinen Fäusten vor die Stirn und weinte laut wie ein Kind. Der wilde Schmerz des Alten gab Anton einen Teil seiner Ruhe wieder, er umschlang den Hals des Försters und hielt ihn fest an sich. Und wieder erscholl in ihrer Nähe mißtönendes Geschrei, und eine Stimme brüllte: «Durchsucht die Deutschen! Nehmt ihnen die Waffen, niemand darf den Markt verlassen!» Anton sah sich hastig in dem Haufen um und rief: «Das dürfen wir nicht leiden, ihr Männer, daß wir hier in der deutschen Stadt umstellt werden wie Gefangene und daß sie unser Wappen beschimpfen, die Schändlichen!»

Von fern wirbelte eine Trommel. «Es ist die Schützentrommel», sagte der Schulz, «die Bürgerschützen von Rosmin kommen zusammen. Sie haben Gewehre.»

«Vielleicht ist noch nicht alles verloren», rief Anton wieder. «Ich kenne einige Leute hier, die zuverlässig sind. Faßt Euch, mein Alter», tröstete er den Förster. «Die Deutschen vom Lande sollen nicht zerstreut bleiben, so weiß niemand, was wir tun können. Wir wollen wenigstens miteinander den Markt verlassen, hier bei dem Brunnen sammeln wir uns. Jeder geht und ruft seine Bekannten zusammen. Und jetzt keine Zeit verloren! Ihr dorthin, Schulz, Ihr kommt mit mir, Schmied von Kunau.» Der Haufe fuhr nach zwei Richtungen auseinander, Anton, von dem Förster und dem Schmied gefolgt, eilte noch einmal über den ganzen Markt. Nie hatte er eifriger gesucht, nie hatte einer den andern schneller verstanden. Wo er einen Deutschen fand, ein Blick des Auges, ein schneller Händedruck, das flüchtige Wort: «Die Deutschen versammeln sich am Brunnen, erwartet uns», das trieb die Unschlüssigen schnell zu den Landsleuten.

Vor dem Hause des Weinkaufmanns hielt er mit seinen Gefährten in dem dichten Gedränge einen Augenblick an. Etwa fünfzig Sensenmänner standen vor dem Hause, daneben ein Dutzend Gewehre, noch waren die Türen weit geöffnet, und einzelne traten immer noch hinein, sich Waffen zu holen. Die Menge war scheu zurückgewichen, es wogten hier Polen und Deutsche, Städter und Landleute durcheinander. Anton sah, daß auch die polnischen Bauern verstört im Haufen standen und einander zweifelnd ansahen. Vor dem Hause sprachen einige junge Herren in die Masse. Während der Kunauer Schmied und der Förster den Deutschen ihr Zeichen gaben, fuhr Anton auf einen kleinen Mann los, der in seinem Arbeitsrock mit berußtem Gesicht in den Haufen drängte, und faßte ihn am Arm: «Schlosser Grobisch, Sie stehen hier? Warum eilen Sie nicht zum Sammelplatz? Sie sind Schütz und Bürger, wollen Sie diese Schmach ertragen?»

«Ach, Herr Rentmeister», sagte der Schlosser, Anton beiseite ziehend, «das Unglück! Denken Sie, ich arbeite in meiner Werkstatt mit dem Hammer und höre von gar nichts. Bei unserer Arbeit kann man wenig hören. Da stürzt meine Frau herein -»

«Wollen Sie diese Schmach ertragen?» rief Anton und schüttelte den Mann heftig.

«Gott bewahre, Herr Wohlfart», erwiderte der Schlosser, «ich führe einen Zug bei den Schützen. Während mein Weib den Rock heraussucht, bin ich schnell über den Platz gelaufen, um zu sehen, wieviel ihrer sind. Sie sind größer als ich, wieviel sind's, die Waffen tragen?»

«Ich rechne fünfzig Sensen», antwortete Anton schnell.

«Nicht diese Sensen», sagte der Kleine, «das ist zugelaufenes Volk, nur die Gewehre.»

«Ein Dutzend vor der Tür, ebensoviel mögen wohl noch im Hause sein.»

«Wir sind etwa dreißig Büchsen», versetzte der Kleine bekümmert, «aber heut ist nicht auf alle zu rechnen.»

«Können Sie uns Gewehre schaffen?» fragte Anton.

«Nur wenige», sagte kopfschüttelnd der Schlosser.

«Wir sind ein Haufen Deutsche vom Lande», fuhr Anton in fliegender Eile fort, «wir wollen uns durchschlagen bis in die Vorstadt zum Roten Hirsch, dort halte ich die Leute zusammen, schicken Sie uns um Gottes willen durch eine Patrouille Nachricht heraus und was Sie von Gewehren auftreiben können. Wenn wir die Edelleute hinauswerfen, läuft der andere Haufe von selbst auseinander.»

«Aber diese Rache von diesen Polacken!» klagte der Schlosser mit aufgehobenem Zeigefinger. «Die Stadt wird's bezahlen müssen.»

«Nichts wird sie bezahlen, Meister, Sie bekommen morgen Militär, wenn Sie heut die Wahnsinnigen hinauswerfen. Nur fort, jeder Augenblick vergrößert die Gefahr.»

Er trieb den Schlosser vorwärts und eilte auf die Brunnenseite. Dort fand er die Deutschen in kleinen Gruppen zusammenstehen, der Schulz von Neudorf kam ihm entgegen.

«Es ist keine Zeit zu verlieren», rief dieser, «die andern werden aufmerksam, dort stellt sich ein Trupp Sensenmänner gegen uns auf.»

«Folgt mir», gebot Anton, «schließt euch dicht zusammen, vorwärts, hinaus aus der Stadt!» Der Förster sprang von Haufe zu Haufe und drängte die Leute aneinander, Anton schritt mit dem Schulzen voran. Als sie an die Ecke des Marktes kamen, kreuzten die Sensenmänner ihre Waffen vor der engen Gasse, der Anführer des Postens spannte den Hahn seiner Flinte und rief Anton in phrasenhaftem Tone zu: «Warum wollen Sie fort, mein Herr? Nehmt Waffen, ihr Leute, heut ist der Tag der Freiheit!»

Er sprach nicht weiter, denn der Förster stürzte vor und gab ihm einen ungeheuren Backenstreich, daß er zur Seite taumelte und sein Gewehr im Fallen losging. Auf dem Markt erhob sich ein lautes Geschrei, der Förster ergriff die Flinte, und die beiden Sensenmänner, überrascht und ohne Befehl, wie sie waren, wurden von dem vordringenden Trupp an die Häuser geworfen, die Sensen aus ihrer Hand gerissen und von den zornigen Leuten an dem Steinpflaster zerbrochen. Ohne verfolgt zu werden, drängte der Haufe bis an das Stadttor, auch dort wich der feindliche Posten zurück und ließ die dichte Masse ungehindert durch. So kamen sie beim Gasthof an. Dort trat der Schulz, von Anton aufgefordert, vor die Leute. «Es geht dort drin gegen die Regierung», sagte er, «es geht gegen uns Deutsche. Der bewaffneten Feinde sind nicht viel, wir haben eben gesehen, wie der Bauer mit ihnen fertig wird. Wer ein ordentlicher Mann ist, der bleibt hier und hilft den Bürgersleuten in der Stadt, die Fremden hinauszujagen. Die Schützen wollen einen zu uns senden und uns sagen, wie wir ihnen helfen können. Deswegen bleibt zusammen, Landsleute.»

Nach diesen Worten riefen viele: «Wir bleiben hier», manchem auch kam die Sorge und er stahl sich um das Haus und auf das Feld. Wer blieb, suchte eine Waffe, wo er sie fand, schwere Holzknittel, Radstangen, Heugabeln, und was sonst in der Nähe aufzutreiben war.

«Ich kam her, mir Pulver und Schrot zu kaufen», sagte der Förster zu Anton, «jetzt habe ich eine Flinte, und das letzte Korn soll heut draufgehen, wenn wir uns rächen können für den Schimpf an unserm Vogel.»


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