Gustav Freytag
Soll und Haben
Gustav Freytag

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Die Rede war etwas zu pathetisch für den Kreis, in welchem sie wirken sollte, aber sie wirkte doch. Es entstand für einige Augenblicke tiefes Stillschweigen; die Gräfin hielt wie erstarrt ihre Tasse in der Luft zwischen Schoß und Mund, und die Frau vom Hause sah verlegen vor sich nieder.

Anton machte eine tiefe Verbeugung und ging zur Tür.

Da eilte aus der starren Gruppe mit beflügeltem Schritte eine helle Gestalt dem Scheidenden nach, faßte mit ihren Händen seine beiden Hände; Anton sah in Lenorens weinende Augen und hörte noch, wie sie mit weicher Stimme unter Tränen zu ihm sagte: «Leben Sie wohl!» Dann schloß sich die Tür hinter ihm, und alles war vorbei.

Anton ging langsam nach Hause. Es war so ruhig und still in seiner Seele, als wäre er nie in dem Hause hinter ihm gewesen, er sah auf die großen Schneeflocken, welche vor ihm herunterfielen, und freute sich über die Spur, welche die Fußgänger in den weichen Schnee gedrückt hatten. Wenn er Schmerzen fühlte, so waren sie doch ohne Bitterkeit. Er trug sein Haupt stolz und dachte an alles mögliche, woran ein unbefangener Spaziergänger denkt, an seinen Prinzipal und auch an den närrischen Tinkeles, den Fink heut wieder zum Kontor hinausgewiesen. Aber in seinem Ohr klang fortwährend eine Melodie, die neben allen Gedanken forttönte, es waren die Worte Lenorens: ‹Leben Sie wohl!›

In den Salon der gnädigen Frau kehrte das Leben zurück, als er das Zimmer verlassen hatte. Das erste Wort, welches gehört wurde, war der strafende Ruf der Mutter, die ihre Tochter zu sich forderte, welche in der vergangenen Szene eine so auffallende Rolle improvisiert hatte. «Lenore, du hast dich vergessen!» sagte die Mutter leise und bekümmert.

«Laß sie», sagte der Freiherr mit Geistesgegenwart laut, «die Tochter hat getan, was der Vater hätte tun sollen; der junge Mann hat sich brav gehalten, und wir werden ihm unsere Achtung nicht versagen.»

Unter den übrigen Gruppen aber erhob sich ein Gemurmel, die Einleitung zu lebhafter Unterhaltung. «Das war ja eine wahre Theaterszene», sagte die Dame vom Hause mit ganz natürlichem Lächeln. «Aber, wer hat uns denn gesagt -»

«Ja, wer hat denn gesagt?» fiel Herr von Tönnchen ein.

Aller Augen richteten sich auf Fink.

«Sie sagten doch, Herr von Fink -», fing Frau von Baldereck wieder an, sich majestätisch erhebend.

«Jawohl», fiel Herr von Zernitz ein, «und es ist doch etwas an dem Gerücht, mein Wort darauf! Ich selbst habe bei einem notariellen Akt als Zeuge gedient», fuhr er unvorsichtig heraus.

«Erklären Sie doch, Fink.»

«Auch ich muß um Erklärung bitten, Herr von Fink», fuhr die Hausfrau gereizt fort.

«Mich, gnädige Frau?» sagte Fink mit der Ruhe eines Gerechten, dem ein Unrecht geschieht. «Was soll ich von diesem Gerücht wissen? Ich selbst habe ihm widersprochen, soviel ich nur konnte.»

«Ja, das haben Sie», ließen einzelne Stimmen sich hören, «aber Sie ließen merken -»

«Sie sagten doch -», fiel Frau von Baldereck ein.

«Was, gnädige Frau?» fragte kalt der unerschütterliche Fink.

«- daß dieser Herr Wohlfart auf geheimnisvolle Weise mit dem – dem Kaiser – in Verbindung stehe.»

«Das ist unmöglich», antwortete Fink mit größtem Ernst. «Das ist ein arges Mißverständnis! Ich habe Ihnen die Person des Herrn beschrieben, der Ihnen damals noch unbekannt war; es ist möglich, daß ich dabei eine zufällige Ähnlichkeit erwähnt habe.»

«Aber was ist das mit den Gütern», fiel Herr von Tönnchen ein, «Sie selbst haben ja die Herrschaft an ihn zediert, und dieser Verkauf war von auffallenden Umständen begleitet. Sie forderten von uns, die Sache als tiefes Geheimnis zu bewahren.»

«Da Sie mein Geheimnis so gut bewahrt haben, daß Sie es überall und jetzt hier vor der ganzen Gesellschaft erzählen», entgegnete Fink lachend, «so tragen Sie und Zernitz offenbar die Schuld, wenn sich dies törichte Gerücht verbreitet hat. Merken Sie auf, meine teuren Herren. Mein Freund Wohlfart hatte einmal in fröhlicher Stimmung geäußert, er wünsche wohl, Grundbesitz in Amerika zu haben. Ich machte mir einen Scherz und schenkte ihm zu Weihnachten eine Besitzung, die ich auf Long-Island bei New York hatte. Diese Besitzung, meine Herren, besteht in einer Sandgrube, welche mit Gesträuch bewachsen ist und in welcher eine bretterne Vogelhütte zum Schießen von Strandvögeln steht. Wenn ich Sie gebeten habe, nicht davon zu sprechen, so war das ganz in Ordnung; daß Sie aber aus dieser Kleinigkeit ein Tau gesponnen haben, welches einen liebenswürdigen Mann von unserer Gesellschaft scheiden soll, tut mir sehr leid.» Ein kalter Hohn legte sich auf sein Gesicht, als er fortfuhr: «Mit Freuden sehe ich, wie sehr Sie alle dies Bedauern teilen und wie stark Sie den gemeinen Bedientensinn verachten, welcher einen Mann deswegen für salonfähig hält, weil irgendein fremder Potentat sich um ihn gekümmert haben soll. Da wir aber den heutigen Ball mit Erklärungen angefangen haben, so will auch ich die Erklärung abgeben, daß Herr Anton Wohlfart legitimer Sohn des verstorbenen Herrn Kalkulator Wohlfart aus Ostrau ist und daß ich jede fernere Erwähnung dieser Mißverständnisse für eine Beleidigung meines nächsten Freundes halten werde. – Und jetzt, gnädige Frau, schenken Sie mir aufs neue Ihre Huld, ich bin mit Fräulein Eugenie zur ersten Quadrille engagiert und fühle mich außerstande, länger zu warten.»

In Frau von Baldereck kämpften eine Weile verletztes Selbstgefühl und mütterliche Sorgfalt, endlich siegte, wie bei einer guten Natur zu erwarten war, die letztere; sie sagte, Fink vorwurfsvoll anblickend, leise: «Ich fürchte, Sie haben Ihr Spiel mit uns getrieben!» – Fink aber schüttelte den Kopf und erwiderte mit großer Aufrichtigkeit: «Man spielt nicht, wo man fühlt.» Darauf führte er Fräulein Eugenie zum Tanze.

Beim Antreten sagte ihm Leutnant von Zernitz: «Sie haben Ihr Spiel mit uns getrieben, Fink, ich bedaure, darüber noch eine Erklärung von Ihnen fordern zu müssen.»

«Seien Sie verständig und fordern Sie nichts», entgegnete Fink, «wir haben so oft miteinander um die Wette geschossen, daß es sehr töricht wäre, wenn wir einer auf den andern zielen wollten.»

Da Fink bei weitem der beste Schütze in der Gesellschaft war, so sah Herr von Zernitz doch zuletzt ein, daß Fink recht hatte. Und eine kleine Spannung von einigen Wochen abgerechnet, welche an einem stillen Abend bei der zweiten Flasche Burgunder durch Händeschütteln ausgeglichen wurde, hatte die Sache keine weitern Folgen. – Doch erkaltete seit dem Abgange Antons das Interesse, welches Fink an der Tanzstunde genommen, und weder Theone Lara noch Lenore hatten Ursache, seine Anspielungen zu fürchten, denn wenn er im Salon erschien, so begnügte er sich, der Tochter vom Hause und einigen erfahrenen Frauen seine Huldigung darzubringen, um die aufstrebende Jugend kümmerte er sich nicht mehr.

Anton aber war wie ein erlöschender Stern aus der Gesellschaft geschieden. Er wurde nicht wieder darin gesehen. Frau von Baldereck erkannte etwas spät, daß es passend sei, den jungen Mann, der doch einmal in ihrem Hause aufgenommen war, gelegentlich wieder einzuladen, um ihm und andern zu zeigen, daß man seine Gegenwart nicht bloß deshalb für anständig halte, weil er – sondern auch um seiner selbst willen. Und einige andere Familien des Landadels dachten ebenso; da aber, wie bemerkt, alle diese Einladungen etwas spät kamen und Anton sein Nichterscheinen entschuldigte, so geschah ihm in kurzem, was viel bedeutenderen Größen der Gesellschaft zu begegnen pflegt, er wurde vergessen. Die früheren Eideshelfer bei der großen Urkunde, Herr von Zernitz und Herr von Tönnchen, redeten ihn noch eine Weile auf der Straße an, wenn er ihnen begegnete, dann grüßten sie ihn noch ein Jahr, und endlich kannten auch sie ihn nicht mehr.

Unserm Anton kam wenig darauf an. Er stürzte sich jetzt mit Leidenschaft in die Arbeiten des Geschäfts. Gleich am andern Morgen klopfte er an die Tür des kleinen Kontors und trat in das Allerheiligste des Prinzipals ein. Er erzählte ihm, was er gestern zu Frau von Baldereck gesagt habe, und fügte hinzu: «Ich werde nicht mehr in die Gesellschaft gehen, und ich bitte Sie, mir zu verzeihen, wenn ich in der letzten Zeit meine Pflicht nicht vollständig getan habe, ich werde von heut an sorgfältiger sein.»

«Ich habe keinen Grund, über Sie zu klagen», erwiderte der Kaufmann freundlich. «Geben Sie mir die Summe an, welcher Sie bedürfen, um Ihre Verhältnisse in Ordnung zu bringen.» Anton zog einen Zettel aus der Tasche, auf dem er gewissenhaft sein Debet aufgezeichnet hatte, Herr Schröter rief den Kassierer, ließ die Summe an Anton zahlen und diesem zur Last schreiben, und auch das war abgemacht.

Fink sagte am nächsten Tage zu Anton: «Du bist mit einem Knalleffekt auf[*]getreten und hast von den älteren Herren der Gesellschaft das Zeugnis bekommen, daß du dich angemessen benommen hast.»

«Wer hat das gesagt?» Fink erzählte ihm die Äußerungen des Freiherrn von Rothsattel und tat, als bemerke er nicht, daß Antons Gesicht eine tiefe Röte überflog. «Indes wäre doch klüger gewesen», fuhr Fink fort, «wenn du die Angelegenheit nicht so auf die Spitze getrieben hättest. Wozu die ganze Gesellschaft meiden, in der doch einige sind, die dich persönlich liebgewonnen haben?»

«Ich habe gehandelt», sprach Anton, «wie mir mein Gefühl eingab, ein anderer, der älter ist und mehr Welt hat, wird es vielleicht geschickter anfangen. Du kannst mir nicht zürnen, daß ich in dieser Sache nicht deinem Rat gefolgt bin.»

Es ist merkwürdig, dachte Fink, die Treppe hinuntersteigend, bei welchen Gelegenheiten die verschiedenen Menschen lernen, den eigenen Willen zu gebrauchen. Dieser Knabe ist über Nacht selbständig geworden, und was ihm das Schicksal jetzt von größeren Dingen bringt, er wird sicher alles anständig durchmachen.

Für Anton sowohl als seinen Freund war es ein gutes Zeichen, daß ihr Verhältnis durch diese Szene nicht gestört wurde. Ja es gewann an innerem Wert. Fink behandelte seinen jüngeren Freund mit größerer Achtung, und Anton bewegte sich mit mehr Freiheit und bemühte sich, auch Fink gegenüber einen eigenen Willen zu haben. Und das richtige Urteil des Jüngeren trug allmählich dazu bei, den Älteren von manchem losen Streich abzuhalten und seinen Übermut zu bändigen. Anton erfüllte seine Pflichten im Kontor mit der größten Pünktlichkeit, sein Diensteifer war unendlich und seine Zuvorkommenheit gegen seine Kollegen größer als jemals. Fink gewöhnte sich dadurch, ohne daß er es selbst merkte, auch seinerseits regelmäßiger im Geschäft zu erscheinen und die Arbeitsstunden besser auszuhalten. Nur einen Gegenstand gab es, über den er mit seinem Freunde nie sprach, obgleich er wußte, daß Anton immer an ihn dachte, das wa[*]r die junge Dame der Tanzstunde, welche so viel Herz und Mut gezeigt hatte.


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