Gustav Freytag
Soll und Haben
Gustav Freytag

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Wenn vor Herrn Jordan plötzlich aus seiner Tintenflasche ein schwarzer Rauch gestiegen wäre, wenn dieser Rauch sic[*]h zu einem fürchterlichen Geiste zusammengeballt hätte wie in jenem alten Märchen, und wenn dieser Geist die Absicht ausgesprochen hätte, Herrn Jordan zu erdrosseln, so hätte dieser Herr nicht bestürzter dastehen können, als er jetzt unserm Helden gegenüberstand. «Sie wollen sich mit Herrn von Fink duellieren, er ist ein toller Pistolenschütz, und Sie sind Lehrling und erst seit einem halben Jahr im Geschäft, das ist ja unmöglich!»

«Ich bin Primaner gewesen und habe mein Abiturientenexamen gemacht und wäre jetzt Student, wenn ich nicht vorgezogen hätte, Kaufmann zu werden! – Verwünscht sei das Geschäft, wenn es mich so erniedrigt, daß ich meinen Feind nicht mehr fordern darf. Ich gehe dann noch heut zu Herrn Schröter und erkläre ihm meinen Austritt», rief Anton mit flammenden Augen.

Herr Jordan sah mit größtem Erstaunen auf seinen gutmütigen Schüler, der auf einmal als ein phantastischer Riese vor ihm umherflackerte. «Seien Sie nur nicht so heftig, lieber Wohlfart», bat er begütigend, «ich werde zu Fink hinuntergehen, vielleicht läßt sic[*]h alles im guten ausgleichen.»

«Ich verlange Abbitte vor dem Kontor», rief Anton wieder, «Abbitte oder Satisfaktion.»

Es war wohltuend, unterdes die beiden Herren in der Nebenstube zu beobachten. Pix hatte als kluger Feldherr mit einem Ruck seinen Holzkorb in die Nähe der Kammertür geschoben und saß scheinbar gleichgültig da, nur mit seiner Zigarre beschäftigt, während Herr Specht sich nicht enthalten konnte, das Ohr an die Tür zu legen. «Sie schießen sich», flüsterte Herr Specht, entzückt über die großen Empfindungen, welche dieser Streit hervorzurufen versprach. «Passen Sie auf, Pix, es wird ein furchtbares Unglück; wir alle müssen zum Begräbnis gehen, keiner darf fehlen. Ich wirke die Erlaubnis aus, daß wir Junggesellen die Leiche tragen dürfen.»

«Wessen Leiche?» fragte Herr Pix verwundert.

«Wohlfart muß dran glauben», rief Herr Specht wieder in dumpfem Flüsterton.

«Unsinn», sagte Pix, «Sie sind ein Narr!»

«Ich bin kein Narr, und ich verbitte mir alle Anzüglichkeiten», rief Herr Specht wieder flüsternd und nach dem Beispiel Antons entschlossen, sich nichts gefallen zu lassen.

«Schreien Sie mir nicht so ins Ohr», sagte Herr Pix unbewegt, «man kann nichts verstehen.» In dem Augenblick öffnete sich die Tür, Herr Specht sprang an ein Fenster und starrte angelegentlich in die finstere Regennacht, während Pix unserm Anton die Hand schüttelte und ihm erklärte, er sei ein tüchtiger Mann und das Provinzialgeschäft sei ganz auf seiner Seite. – Herr Jordan ging zu Fink hinab und kam bald wieder herauf; Herr von Fink war nicht zu Hause. Wahrscheinlich saß der Jockei ahnungslos in irgendeiner Weinstube. Anton sagte darauf: «Ich lasse die Sache nicht bis morgen ruhen, ich werde ihm schreiben und den Brief durch den Bedienten auf seinen Tisch legen lassen.»

«Tun Sie das nicht», bat Herr Jordan, «Sie sind jetzt zu zornig.»

«Ich bin sehr ruhig», erwiderte Anton mit heißen Wangen, «ich werde ihm nur das Nötige schreiben. Sie, meine Herren, bitte ich, daß Sie über alles, was Sie hier gehört haben, gegen die andern schweigen.»

Das versprachen die Herren. Darauf ging er auf sein Zimmer und schrieb einen Brief, in dem er Herrn von Fink sein Unrecht vorhielt und ihm schließlich die Wahl ließ, ob er durch Schläger oder Pistolen das verletzte Selbstgefühl Antons ausbessern wollte. Der Brief war für einen jungen Gentleman gut genug geschrieben und wurde neben den Wachsstock des Herrn von Fink in dessen Stube niedergelegt, nachdem Herr Specht dem Bedienten noch auf der Treppe eingeschärft hatte, mit Kreide drei große Ausrufungszeichen auf den Tisch zu malen; wahrscheinlich sollten sie die Stelle der Späne vertreten, welche die Boten der heiligen Feme aus dem Burgtor der Angeklagten zu hauen pflegten. Anton blieb den Rest des Abends auf seinem Zimmer, wo er unruhig auf und ab schritt, bald die Szene der Beleidigung, bald die zu erwartende Szene dramatisch auseinanderlegte und jede Art von Gefühlen durcharbeitete, welche bei einem armen Jungen vor dem ersten Duell unvermeidlich sind.

Unterdes wurde im Zimmer des Herrn Jordan große Sitzung des gesamten Geschäfts gehalten. Da Herr Pix und Herr Specht versprochen hatten zu schweigen, beschränkten sie sich auf so mysteriöse und finstere Andeutungen, daß bei einem Teil der Herren die Ansicht entstand, ein Mord sei entweder schon vollbracht oder doch jeden Augenblick zu fürchten, bis endlich Herr Jordan das Wort ergriff: «Da die Differenz doch kein Geheimnis ist und die Sache uns alle angeht, so ist es am besten, wenn wir sie untereinander besprechen und uns sämtlich Mühe geben, die nachteiligen Folgen zu verhüten. Ich werde aufbleiben, bis Fink zurückkommt, und sogleich mit ihm reden. Unterdes muß ich Wohlfart das Zeugnis geben, daß er sich so gewandt benommen hat, wie bei einem jungen Mann ohne Erfahrung nur möglich ist.» Alle stimmten eifrig bei. Darauf gerieten der Zollkommis Herr Birnbaum und Herr Specht in eine lebhafte Erörterung über die verschiedenen Arten der Duelle, und Herr Specht behauptete, beim Schießen über das Schnupftuch würden den Duellanten mit einem seidenen Taschentuch die Augen verbunden und diese auf ihren Standorten so lange im Kreise herumgedreht, bis der Kampfrichter mit seinem Stock aufklopfte, worauf ihnen freistehe, hinzuschießen, wohin sie wollten. Herr Baumann stahl sich zuerst aus der Gesellschaft fort und ging zu Anton, drückte diesem herzlich die Hand und bat ihn dringend, nicht um rauher Worte willen zwei Menschenleben auf das Spiel zu setzen. Nachdem er Abschied genommen hatte, fand Anton auf seinem Tisch ein kleines Exemplar des Neuen Testamentes aufgeschlagen und darin durch ein großes Ohr den heiligen Spruch bezeichnet: «Segnet, die euch fluchen.» Anton war gerade nicht in der Stimmung, den Sinn dieser Worte zu befolgen. Aber er setzte sich doch vor das Buch und las darin die Sprüche, welche er als Kind seiner guten Mutter so oft aufgesagt hatte. Er wurde weicher und ruhiger und ging in dieser Stimmung zu Bett.

Unterdes drang das Gerücht von einem furchtbaren Ereignis durch alle Schlüssellöcher, Ritzen und Kammern des alten Hauses.

Sabine war in ihrer Schatzkammer. Dies war ein Raum, unwohnlich für einen Gast, aber für jede Hausfrau ein heimliches, herzerhebendes Zimmer. An den Wänden standen mächtige Schränke von Eichen- und Nußbaumholz mit schöner eingelegter Arbeit, in der Mitte ein großer Tisch mit geschnörkelten Beinen, darum einige alte Lehnstühle. Aus den geöffneten Schränken glänzten im Lampenlicht unzählige Gedecke von Damast, hohe Terrassen von Wäsche, Linnen und bunten Stoffen, Kristallgläser, silberne Pokale, Porzellan und Fayence im Geschmack von mehr als drei Generationen. Die Luft war mit einem kräftigen Duft erfüllt, der aus uraltem Lavendel, Eau de Cologne und frischer Wäsche aufstieg. Hier herrschte Sabine allein. Nur ungern sah sie einen fremden Fuß eintreten; was aus den Schränken genommen wurde und wieder hineinkam, hob sie mit eigenen Händen; nur der treue Diener hatte das Vorrecht, ihr an schweren Tagen zu helfen, und zuweilen Karl Sturm, sein Adjutant, der gewisse rosafarbene Pappkarten zum Zeichnen der Wäsche anfertigte und prachtvolle Zahlen darauf schrieb.

Heute stand Sabine noch spät vor dem Tisch, der mit weißer Wäsche belastet war; sie suchte die Nummern des feinen Damasts zusammen, zählte und sortierte Tischdecken und Servietten, band große Bündel mit rosa Bändern zusammen und hing die Nummerkarten daran. Zuweilen hielt sie ein Stück näher an das Licht und sah mit Behagen auf die weißen Arabesken, welche die Kunst des Webers hineingewirkt hatte. Da flog ein dunkler Schatten über ihr Antlitz, und traurig sah sie auf einige wunderfeine Servietten, in welche zahlreiche kleine Löcher gestochen waren, je drei oder vier in einer Reihe. Endlich rief sie den Bedienten. «Es ist nicht mehr auszuhalten, Franz, auch in Nr. 24 sind wieder drei Servietten mit der Gabel durchstochen. Einer der Herren sticht in das Tischzeug! Das ist doch bei uns nicht nötig.»

«Nein», sagte der Vertraute kummervoll, «ich selbst habe ja das Silberzeug unter mir, ich weiß am besten, daß es nicht nötig ist.»

«Wer von den Herren ist so rücksichtslos?» fragte Sabine streng. «Es muß einer der neuen sein.»

«Herr von Fink ist es», klagte der Diener, «er sticht vor jedem Essen zweimal mit der Gabel durch die Serviette; es gibt mir jedesmal einen Stich durchs Herz, Fräulein Sabine. Aber Herrn von Fink kann ich doch nichts sagen.»

Sabine hing den Kopf über die zerstochenen Servietten. «Ich wußte, daß er es war», seufzte sie. – «Aber das darf nicht so fortgehen. Ich werde Ihnen für Herrn von Fink eine besondere Nummer herausgeben, die müssen wir opfern, bis sich eine Gelegenheit findet, ihn zu bitten, daß er von seinen Angriffen abläßt.» Sie trat zu dem Schrank und suchte lange. Es war eine schwere Wahl. Zwar von den groben konnte sie ohne Schmerz einige Dutzend missen, von den feinen aber war ihr jedes Gedeck ans Herz gewachsen. Eines freilich mehr als das andere. – «Dieses mag hingehen», sagte sie endlich betrübt, «hier fehlt ohnedies eine Serviette.» Sie sah noch einmal auf das Muster, kleine Pfauen, welche kunstvoll durch Blumengewinde schritten, und legte die Nummer auf den Arm des Dieners. «Herr von Fink bekommt keine andern Servietten als diese», befahl sie.

Franz zögerte zu gehen. «Er hat auch in seiner Schlafstube eine Gardine angebrannt», sagte er unruhig. «Der Flügel wird nicht mehr zu gebrauchen sein.»

«Und sie war ganz neu», klagte Sabine. «Morgen früh nehmen Sie die Gardine ab. – Was haben Sie noch, Franz? Ist etwas vorgefallen?»

«Ach, Fräulein», erwiderte der Diener geheimnisvoll, «drüben bei den Herren geht alles durcheinander. Herr von Fink hat Herrn Wohlfart sehr beleidigt, Herr Wohlfart ist wütend, es wird ein Duell geben, sagt Herr Specht, die Herren fürchten ein großes Unglück.»

«Ein Duell?» rief Sabine. «Zwischen Fink und Wohlfart?» – Sie schüttelte den Kopf. «Sie haben wohl Herrn Specht mißverstanden», fügte sie lächelnd hinzu.

«Nein, Fräulein Sabine, diesmal ist es ernsthaft. – Es wird ein Unglück geben, Herr Wohlfart ging im größten Zorn an mir vorüber, und er hat seinen Tee nicht angerührt.»

«Ist mein Bruder noch nicht zurück?»

«Er kommt heut spät nach Hause, er ist im Komitee.»

«Es ist gut», schloß Sabine. «Sie schweigen gegen jedermann, Franz, hören Sie?»

Sabine setzte sich wieder an den Tisch, aber ihr Damast war vergessen. Sie blickte starr hinaus in den dunklen Hof nach den Fenstern des Volontärs. «Er sticht durch die Servietten», klagte sie leise, «er wird sich auch kein Gewissen daraus machen, eine Menschenbrust zu durchbohren! Das also war der Schmerz des armen Wohlfart! – Er kam zu uns, der wilde Gast, wie ein Wirbelwind über den blühenden Busch; wo er anschlägt, fallen die Blüten zur Erde. Sein Leben ist Wirrwarr, Aufregung, Getöse. Was ihm nahe kommt, zieht er in seinen tollen Tanz. Auch mich! Auch mich! Du stolzer und verwegener Gast, auch mir hast du die Seele aufgeregt. Ich mühe mich, ich ringe Tag für Tag, aber immer wieder erfaßt mich sein Zauber. So schön, so glänzend, so seltsam ist er! Er ärgert mich täglich, und alle Tage muß ich an ihn denken, um ihn sorgen, über ihn trauern. O meine Mutter, hier war's, wo ich zum letztenmal zu deinen Füßen saß, hier übergabst du mir die Schlüssel des Hauses! Du hieltest die Hände segnend auf mein Herz. ‹Der Himmel behüte dir jeden Schlag›, sagtest du unter Tränen und Küssen. Jetzt schütze die Tochter, Geliebte, du mein Vorbild für alle Überlegung, für die Ordnung deines Hauses, für sicheres Pflichtgefühl, behüte mir das laut pochende Herz. Mache mich fest gegen ihn, gegen sein verführerisches Lachen, gegen seinen übermütigen Spott.» So betete Sabine. Lange saß sie in feierlicher Beratung mit den guten Geistern des Hauses, dann fuhr sie mit dem Tuch über die Augen, trat entschlossen an den Tisch und fuhr fort, den Damast zu zählen und aufzuheben.

Anton war bereits ausgekleidet und im Begriff, sein Licht auszulöschen, als kräftig an die Tür geklopft wurde und der Mann eintrat, den er in diesem Augenblick am wenigsten von allen Sterblichen erwartete. Es war Herr von Fink mit seiner Reitpeitsche und seinem nachlässigen Wesen.

«Ah, Sie sind schon zu Bett», sagte der Jockei und setzte sich rittlings auf einen Stuhl in der Nähe, «lassen Sie sich nicht stören! Sie haben mir einen gefühlvollen Brief geschrieben, und Jordan hat mir das übrige erzählt; ich komme, Ihnen mündlich zu antworten.» Anton schwieg und sah von seinem Kopfkissen finster auf den Gegner. «Ihr seid hier alle sehr tugendhafte und sehr empfindliche Leute», fuhr Fink fort und schlug mit seiner Peitsche an das Stuhlbein. «Es tut mir leid, daß Sie sich meine Reden so zu Herzen genommen haben. Es freut mich aber, daß Sie so entschlossen sind. Sie haben den ehrlichen Jordan in einen wahren Werwolf verwandelt», fügte er lächelnd hinzu.

«Bevor ich Sie weiter anhöre», sagte Anton grollend, «muß ich wissen, ob Sie die Absicht haben, mir für Ihre Beleidigung eine Erklärung vor den übrigen Herren zu geben. Ich weiß nicht, ob nach der schweren Kränkung, die Sie mir zugefügt haben, ein anderer, der mehr Erfahrung in Ehrensachen hat, sich mit einer solchen Erklärung begnügen würde. Ich habe das Gefühl, daß ich damit zufrieden sein müßte.»

«Da fühlen Sie richtig», sagte Fink kopfnickend, «Sie können damit zufrieden sein.»

«Wollen Sie mir morgen diese Erklärung geben?» fragte Anton.

«Warum denn nicht?» sagte Fink gleichgültig. «Ich habe keine Lust, mich mit Ihnen zu schießen, ich will Ihnen gern vor sämtlichen Korrespondenten und Prokuristen der Firma die Erklärung ausstellen, daß Sie ein verständiger und hoffnungsvoller junger Mann sind und daß ich unrecht getan habe, jemanden zu kränken, der jünger und, verzeihen Sie den Ausdruck, um vieles grüner ist als ich.»

Unser Held hörte diese Worte mit gemischten Empfindungen; es wurde ihm doch leichter ums Herz; aber die Manier Finks ärgerte ihn doch wieder sehr, und er sagte, sich im Bett aufrichtend, entschlossen: «Ich bin mit dieser Erklärung noch nicht zufrieden, Herr von Fink.»

«Ei», sagte Fink, «was verlangen Sie noch?»


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