Gustav Freytag
Soll und Haben
Gustav Freytag

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Einst ging Anton an der verhängnisvollen Herberge vorüber, in welcher sein Prinzipal verwundet worden war. Er stand einen Augenblick still und sah mit Neugier auf das alte Haus und den Hofraum, in welchem jetzt weißröckige Soldaten beschäftigt waren, ihr Lederzeug zu färben und zu glätten. Da erblickte er ein Wesen im schwarzen Kaftan, welches wie ein Schatten aus der Schenkstube quer über die Einfahrt hinglitt. Es waren die schwarzen Ohrlocken, es war das kleine Käppchen, es war Figur und Haltung des alten Bekannten Schmeie Tinkeles. Ach, aber es war nicht sein Gesicht. Der frühere Tinkeles war in seiner Art ein hübscher Bursch gewesen. Er hatte seine beiden Locken stets so glänzend und kokett getragen, wie einem Geschäftsmann nur möglich ist, er hatte hübsche rote Lippen gehabt und einen leichten Rosaschimmer auf seinen gelben Wangen. Der gegenwärtige Schmeie war nur ein Schatten des früheren. Er sah gespenstisch bleich aus, seine Nase war spitz und lang geworden, und sein Kopf hing ihm nach vorn wie der Kelch einer welkenden Blume am Bach Kidron.

Anton rief erstaunt: «Tinkeles, seid Ihr's wirklich?» und trat auf ihn zu. Tinkeles schrak zusammen, wie von einem Blitzstrahl getroffen, und starrte mit aufgerissenen Augen Anton an, ein Bild des Schreckens und der Furcht. «Gott gerechter!» waren die einzigen Worte, welche über seine blutlosen Lippen kamen.

«Was habt Ihr, Tinkeles? Ihr seht ja aus wie ein armer Sünder! Was treibt Ihr hier am Platze? Und wie, zum Teufel, kommt Ihr gerade in dieses Haus?»

«Ich kann doch nichts dafür, daß ich hier bin», antwortete der Geschäftsmann noch immer in halber Bewußtlosigkeit, «ich kann doch nichts dafür, daß der Prinzipal hat solches Unglück gehabt mit dem Menschen. Sein Blut ist ja geflossen wegen der Waren, welche der Mausche Fischel hatte abgeschickt und hatte das Geld bereits gezogen. Ich bin unschuldig, Herr Wohlfart, auf meine ewige Seligkeit, ich habe nicht gewußt, daß der Wirt ist ein so schlechter Mensch und wird die Hand aufheben gegen den Herrn, welcher vor ihm steht ohne Hut, ohne Mütze. – Ohne Mütze», jammerte er laut, «in bloßem Kopf, Sie können es glauben, es ist mir gewesen, als wenn ein Schwert fiele in meinen Leib, als ich habe gesehen, wie der Wirt sich benommen hat gegen einen Mann, der vor ihm stand mit aufgerichtetem Haupt als ein Ehrenmann, was er ist gewesen sein Lebelang.»

«Hört, Schmeie», sagte Anton, erstaunt auf den Galizier blickend, der immer noch danach rang, durch Worte seine Fassung wiederzugewinnen, «hört, mein Bursch, Ihr seid hier in dieser Herberge gewesen, als die Wagen geplündert wurden, Ihr habt aus einem Versteck unsern Streit mit dem Wirt angesehen. Ihr kennt den Wirt und wohnt noch hier, ich will Euch geradeheraus sagen, was Ihr mir zur Hälfte eingestanden habt. Ihr habt von dem Abladen der Wagen gewußt; und ich will Euch noch etwas anvertrauen, Ihr habt ein Interesse daran gehabt, daß die Fuhrleute hier zurückblieben, und Ihr habt mit dem Wirt unter einer Decke gesteckt. Nach dem, was Ihr mir gesagt habt, lasse ich Euch nicht los, bevor ich alles weiß. Ihr werdet entweder jetzt auf mein Zimmer kommen und mir freiwillig gestehen, was Ihr wißt, oder ich führe Euch zum Militär und lasse Euch von den Soldaten verhören.»

Tinkeles war vernichtet. «Gott meiner Väter, es ist schrecklich, es ist schrecklich!» wimmerte er leise und klapperte mit den Zähnen.

Anton fühlte Mitleid mit der großen Angst des Mannes: «Kommt mit mir, Tinkeles; ich verspreche Euch, wenn Ihr ehrlich gesteht, soll Euch nichts geschehen.»

«Was soll ich gestehn dem Herrn», ächzte Schmeie, «wo ich doch nichts habe zu gestehn?»

«Wenn Ihr nicht gutwillig kommt, so rufe ich die Soldaten», gebot Anton barsch.

«Nichts von Soldaten», bat Tinkeles wieder schauernd, [*]«ich will kommen mit Ihnen und will sagen, was ich weiß, wenn Sie mir wollen versprechen, daß Sie mich verraten gegen niemanden, nicht an Ihren Prinzipal und nicht an Mausche Fischel, auch nicht an den schlechten Menschen, diesen Wirt, und an keinen Soldaten.»

«Kommt», sagte Anton und wies mit der Hand die Straße hinab. So führte er den Willenlosen wie einen Gefangenen mit sich fort und verwandte kein Auge von ihm, weil er befürchtete, daß Schmeie den Ratschlägen seines bösen Gewissens folgen und in eine Seitengasse entlaufen könnte.

Der Galizier hatte nicht den Mut dazu, er schlich mit gesenktem Haupt neben Anton her, sah ihn zuweilen seufzend an und gurgelte unverständliche Worte vor sich hin. Auf Antons Zimmer fing er aus freien Stücken an: «Es ist mir gewesen eine Last auf meinem Herzen, ich habe nicht können schlafen, ich habe nicht können essen und trinken, und wenn ich gelaufen bin, um zu machen ein Geschäft, so hat es mir in der Seele gelegen wie ein Stein in einem Glase; wenn man trinken will, fällt der Stein auf die Zähne, und man beschüttet sich mit Wasser. Weh! Was habe ich mich beschüttet».[*]

«So redet», sagte Anton, wieder erweicht durch die aufrichtige Klage.

«Ich bin hergekommen wegen der Wagen», fuhr Tinkeles hastig fort und sah Anton furchtsam an. «Der Mausche hatte doch mit Ihnen gehandelt seit zehn Jahren und immer ehrlich, und Sie haben verdient ein gutes Stück Geld an ihm; und da hat er gemeint, daß jetzt gekommen wäre die Zeit, wo er anfangen könnte ein großes Geschäft und mit Ihnen seine Abrechnung machen. Und wie losgegangen ist das Geschrei und das Geschmuse, da ist er zu mir gekommen und hat zu mir gesagt: ‹Schmeie›, sagt er, ‹du hast keine Furcht›, sagt er. ‹Laß sie schießen und gehe unter sie und sieh, daß du anhältst die Wagen für mich. Vielleicht kannst du sie verkaufen unterwegs, vielleicht bringst du mir sie zurück, es ist immer besser, wir haben sie, als es hat sie ein anderer.› So bin ich hergekommen und habe gewartet, bis die Wagen angekommen sind, und habe gesprochen mit dem Wirt. Weil die Waren doch nicht kommen würden in Ihre Hände, wäre es am besten, sie kämen wieder in unsere. Aber daß der Wirt soll sein ein solcher Blutmensch, das habe ich nicht gewollt und habe ich nicht gewußt, und seit ich habe gesehen, wie er ihrem Herrn hat aufgeschnitten den Rock, habe ich keine Ruhe gehabt und habe immer gesehen vor mir das blutige Hemd und das feine Tuch von seinem grünen Rock, welches entzweigeschnitten war.»

Anton hörte die Geständnisse des Tinkeles mit einem Interesse an, welches den Widerwillen überwog, den er gegen das – nicht seltene – Manöver der galizischen Händler empfand. Er begnügte sich, dem Sünder zu sagen: «Eurer Schurkerei verdankt Herr Schröter seinen wunden Arm, und wären wir Euch nicht in die Quere gekommen, so hättet Ihr uns zwanzigtausend Taler gestohlen.»

«Es sind nicht zwanzigtausend», rief Schmeie, sich windend, «die Wolle steht schlecht, und mit Talg ist nichts zu machen. Es sind weniger als zwanzig.»

«So?» sagte Anton verächtlich. «Und was werde ich jetzt mit Euch tun?»

«Tun Sie nichts mit mir», bat Schmeie beweglich und legte seine Hand bittend auf Antons Rock. «Lassen Sie schlafen die ganze Geschichte. Sie haben die Waren, seien Sie damit zufrieden. Es ist ein schönes Geschäft, das der Mausche Fischel nicht hat machen können, weil Sie ihn haben daran gehindert.»

«Es tut Euch noch leid?» erwiderte Anton erzürnt.

«Es ist mir recht so, daß Sie die Waren haben», sagte der Jude, «denn Sie haben vergossen Ihr Blut darüber. Und deshalb tun Sie nichts mit mir; ich will sehen, daß ich Ihnen kann in andern Sachen zu Gefallen sein. Wenn Sie etwas zu tun haben hier am Ort für mich, es wird mir sein eine Beruhigung, daß ich Ihnen kann zu etwas verhelfen.»

Anton antwortete kalt: «Wenn ich Euch auch versprochen habe, Eure Spitzbüberei dem Gericht nicht anzuzeigen, so können wir doch mit Euch kein Geschäft mehr machen. Ihr seid ein schlechter Mensch, Tinkeles, und habt Euch gegen unser Haus unredlich bewiesen. Wir sind von jetzt ab geschiedene Leute.»

«Warum sagen Sie mir, daß ich ein schlechter Mensch bin?» klagte Tinkeles. «Sie haben mich gekannt als ehrlichen Mann seit Jahren, wie können Sie sagen, daß ich schlecht bin, weil ich habe einmal machen wollen ein Geschäft und habe dabei Unglück gehabt und hab's nicht gemacht? Ist das schlecht?»

«Es ist genug», befahl Anton, «Ihr könnt jetzt gehen.» Tinkeles blieb stehen und fragte: «Können Sie vielleicht brauchen neue kaiserliche Dukaten? Ich kann sie Ihnen besorgen mit fünf und ein Viertel.» – «Ich will nichts von Euch», sagte Anton, «geht.»

Der Jude ging zögernd bis zur Tür und drehte wieder um. «Es ist zu machen ein schönes Geschäft mit Hafer, wenn Sie wollen mit übernehmen die Lieferung, ich will Ihnen einen Teil verschaffen; es ist dabei zu verdienen ein rares Geld.»

«Ich mache keine Geschäfte mit Euch, Tinkeles; geht in Gottes Namen.»

Der Jude schlich hinaus; noch einmal kratzte es an der Tür, aber das Gewissen war in dem Schelm so mächtig geworden, daß er sich nicht mehr in das Zimmer traute. Nach einigen Minuten sah Anton, wie er schwermütig quer über die Straße ging.

Seit diesem Tage wurde Anton durch den reuigen Tinkeles in Belagerungszustand gesetzt. Kein Tag verlief, wo der Galizier sich nicht an Anton herandrängte und in seiner Weise Versöhnung mit ihm suchte. Bald überfiel er ihn auf der Straße, bald störte sein unsicheres Klopfen den Beschäftigten am Schreibtisch, immer aber hatte er etwas anzupreisen oder Neues mitzuteilen, wodurch er Gnade zu erwerben hoffte. Rührend war seine Erfindungskraft, er erbot sich, alles mögliche für Anton zu kaufen oder zu verkaufen, jede Art von Geschäftsgängen zu machen, zu spionieren und zuzutragen. Und als er entdeckte, daß Anton auch mit Offizieren verkehrte und daß besonders ein junger Leutnant mit zartem Gesicht und einem kleinen Bart zuweilen mit Anton aus der Restauration ging und dessen Wohnung besuchte, da fing Tinkeles an, auch solche Gegenstände anzubieten, die nach seiner Meinung für einen Offizier angenehm sein mußten. Anton blieb zwar dabei, jedes Geschäft mit dem Sünder zu vermeiden, konnte aber zuletzt nicht mehr übers Herz bringen, den armen Teufel rauh zu behandeln, und Tinkeles erkannte aus manchem unterdrückten Lächeln oder aus kurzen Fragen Antons, daß seine Fürsprache beim Chef des Hauses nicht unmöglich sei. Und er warb darum mit der Ausdauer seines Ahnherrn Jakob.

An einem Morgen klirrte der junge Rothsattel in Antons Zimmer. «Ich werde krank gemeldet, habe starken Katarrh und muß in meinem trostlosen Quartier bleiben», sagte er, sich auf dem Sofa niederlassend. «Sie können mir heut abend helfen die Zeit vertreiben. Wir spielen eine Partie Whist. Ich habe noch unsern Doktor und einen von den andern Kameraden dazu aufgefordert. Werden Sie kommen?» – Erfreut und ein wenig geschmeichelt sagte Anton zu. «Gut», fuhr der junge Herr fort, «dann müssen Sie mir auch die Möglichkeit geben, mein Geld an Sie zu verlieren; das elende Vingt et un hat mir die Taschen rein ausgefegt. Leihen Sie mir auf acht Tage zwanzig Dukaten.» «Mit Vergnügen», sagte Anton und suchte eilig seine Börse hervor.

Als der Leutnant das Geld nachlässig in seine Tasche steckte, klang auf der Straße der Hufschlag eines Pferdes; schnell trat er an das Fenster. «Wetter, das ist eine hübsche Katze, polnisches Blut, der Roßkamm hat sie einem der Rebellen gestohlen und will jetzt einen ehrlichen Soldaten damit anführen.»

«Woher wissen Sie, daß das Pferd zu verkaufen ist?» fragte Anton, der unterdes am Schreibtisch einen Brief versiegelte.

«Sehen Sie nicht, daß ein Gauner das Tier im Parademarsch vorbeiführt?»


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