Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Vierunddreißigstes Kapitel

Die Notglocke riß ihn aus seinem Sinnen empor. Heulend setzte sie wieder ein, dazwischen tönte dumpfes, unablässiges Dröhnen wie der Donner eines riesigen Wasserfalls. Sender stürzte auf die Straße, dem Flusse zu. »Der Eisstoß! Der Eisstoß!« jammerte es aus hundert Kehlen. Und da war er wirklich.

Betäubt schaute Sender auf das gewaltige, unheimliche Schauspiel nieder. Die Bastion glich nun einer Halbinsel, die weit in die See hinausragt. Aber nur wenn es ein Orkan aufwühlt, tobt das Meer so laut wie hier der wilde Bergfluß, der endlich die Last gesprengt, die auf ihm gewuchtet, und sie nun in tausend Trümmer zerschlagen, auf seiner Flut daherwälzte, hob und senkte und zerrieb. Der Regen strömte unablässig fort und hemmte die Aussicht, aber so weit das Auge blickte: die graue Flut und auf ihr tanzend, schwingend, sich bäumend ein unendliches Gewirr weißlicher, grünlicher, schwärzlicher Massen – Eisblöcke. Welche Formen, welche Farben! Hier eine schlanke, ja zierliche Säule von hellgrünem Kristall, die nur leise schwankend dahinzog, bis sie an ein plumpes, graues Ungeheuer geriet, über das sie stürzte und zerschellte. Dort eine riesige weiße Tafel, die sacht und ruhig dahinzog, alles vor sich herstoßend, bis sie an ein kleines schwärzliches Riff, vielleicht ein Felsstück, vielleicht schmutziges Eis, das mitten im Flusse lag, stieß und feststand. Eine zweite Tafel, die hinter ihr gezogen kam, schob sich über sie, eine dritte, eine vierte, bis das Riff nachgab und nun der ganze Bau zusammenstürzte. Dazwischen schmale, längliche Eisstücke, die wie Fische dahinschossen, rundliche Schollen, die langsam, tänzelnd, in langer Reihe dahergezogen kamen, dazwischen spitze Kuppen, unförmliche Berge. Aber was alles hatten die empörten Wogen fortgerissen und trieben es nun mit und zwischen dem Eise dahin! Baumstämme, Kähne, ein Strohdach, unzähliges Hausgerät, Trümmerwerk von Häusern, die Pfähle einer Brücke, ein Bett, auf dem noch Polster und Decken lagen, eine leere Wiege – vielleicht hatte die Mutter das Kind rechtzeitig herausgerissen, vielleicht trieb es nun starr und tot in der Flut mit...

Aber so furchtbar der Eindruck fürs Auge war, unendlich schreckvoller und gewaltiger war der fürs Ohr. Ein Krachen, Knirschen, Gellen, Knattern und Dröhnen, unablässig ungeheuer laut; es war, als wollte die Welt untergehen, als müßte alles Menschenwerk davon zusammenstürzen... Sender folgte dem Beispiel der Umstehenden, er stopfte die Finger in die Ohren, aber seltsam – nun hörte er das Gedröhne gleichsam mit dem Leibe, noch stärker als vorher, es durchzitterte ihn bis ins Innerste, daß er die Hände wieder sinken ließ.

Mitten in all dem Toben verteidigte ein Häuflein Menschen das Werk seiner Hände tapfer gegen das Rasen der Natur. Die Häuser waren nun geräumt, und was noch an Gut oder Menschen drin sein mochte, verloren und ersäuft – die Kraft der Pioniere vereinigte sich auf die Erhaltung der Brücke. Noch stand sie, und war hoch genug gewunden worden, um der Flut, den kleineren Eisschollen Durchgang zu gewähren, die höheren sammelten sich immer dichter vor ihr an. Es war schreckhaft und doch erhaben anzusehen, wie die wackeren Blauröcke mit den schwarzen Helmen auf den überfluteten Bohlen Stand hielten, bis an die Kniee, die Hüften im Wasser, und mit ihren Äxten und Stangen das Eis zu zertrümmern, die Blöcke hinabzudrücken suchten. Aber das gelang nur bei den kleinen Stücken, jener Berg wuchs immer höher an, die Flut trieb ihn immer gewaltiger an die Brücke... Da streckten sich plötzlich oben auf der Bastion fünfzig Arme zugleich in die Luft und wiesen hinunter – was wollten die Pioniere? Was bedeutete das? Ein niedriges Holzgerüst wurde auf die Brücke gesetzt, daran waagrecht eine lange Schiebeleiter befestigt. Sie reichte nun bis an den Eisberg. Einige kletterten hinüber, legten sich flach auf die Eistafel, krochen weiter und weiter – was sie da taten, konnte man durch das Regennetz nicht deutlich sehen. Dann krochen sie zurück, nun standen sie wieder auf der Brücke. Die Mannschaft wich rechts und links auf den Brückenkopf zurück. Da – ein ungeheurer Knall – der Eisberg wankte, einige Blöcke flogen fußhoch empor, in Trümmer zerschlagen, der Berg senkte sich und brach zusammen. Sie hatten in wasserdichtem Schlauch eine Mine versenkt, das Eis gesprengt, nun standen sie wieder auf der Brücke und setzten ihr Werk fort.

Diesmal war's gelungen, aber das nächste Mal? Schon schwammen von oben neue Massen herab, noch gewaltiger als die früheren. Man konnte sie nur undeutlich sehen, die Dämmerung brach herein, auch die Gestalten auf der Brücke waren kaum noch zu unterscheiden. Nun kam auch die Bundesgenossin alles Unglücks, die Nacht, und lieh dem Verderben ihre dunklen Fittiche.

Angstvoll starrte Sender hinab. So nahe ihn das Schicksal der Brücke anging, er dachte kaum noch an sich selbst. Da fühlte er sich weggedrängt, in nächster Nähe erklang ein Trompetensignal; eine Abteilung Infanterie räumte die Bastion und schob die Menge langsam gegen die Stadt zurück. Als Sender wieder in der engen Gasse stand, sprach ihn plötzlich jemand beim Namen an. Es war der Advokat. »Schlimm steht's, Herr Kurländer.« Die Bastion sei nicht in Gefahr, fügte er bei; man habe sie nur geräumt, um darauf einen Raketenapparat zur Erleuchtung der Brücke anzubringen. Aber es sei fraglich, wie lange man sie noch halten könne. Sie selbst abzubrechen, sei nun zu spät.

Auf dem Heimweg überdachte Sender seine Lage. War die Brücke zerstört, so mußte er eine Woche hier ausharren – so weit reichten seine Mittel nicht. Eine andere Hilfe, als die Nadlers, hatte er nicht zu erwarten. Die mußte er in Anspruch nehmen. Er wollte sie sofort, wenn die Katastrophe eintrat, erbitten. Nadler ließ ihn gewiß nicht im Stich. Es war gerade kein Unglück, aber doch recht peinlich.

Er ging auf seine Kammer und trocknete am Ofen seine triefenden Kleider. Es erhöhte seinen Mißmut, daß ihm seine Lungen so viel zu schaffen machten. Ein Wunder war's nicht, da er den halben Tag im Unwetter auf der Straße gewesen.

Die Vorstellung wollte er nicht besuchen. Aber je näher die Uhr auf Sieben rückte, wo sie heute begann, desto wankender wurde sein Entschluß. Was sollte er mit den Stunden anfangen? Und dann – eine Vorstellung versäumen, die man sehen konnte, das ging fast gegen das Gewissen. Schlag Sieben löste er sein Billett. Die »Perle von Temesvar«, diesmal im Kostüm der Madame Zephir im »Schneider Fips«, wollte die vierzig Kreuzer durchaus nicht von ihm annehmen. »Ein Kollege – und das Haus ist ohnehin fast ausverkauft – freilich werden heut' viele ihr Billett nicht benützen.« Er legte ihr das Geld hin und trat ein.

In der Tat waren die Reihen wenig besetzt, sie füllten sich auch später nicht. Als er vor dem Vorhang saß und die Musik begann – eine Geige, eine Flöte, ein Brummbaß und eine türkische Trommel – schweiften Senders Gedanken in immer weitere Fernen... Aber als der Vorhang aufging, war er doch ganz Ohr. Freilich konnte er Sticklers Meckern als Fips nicht ganz so komisch finden, wie einst Jütte, hingegen fesselte ihn der dritte Akt aus »Maria Stuart« sehr, Elisabeth – Linden und Mortimer – Hoheneichen waren allerdings abscheulich, aber von der Schönau mußte er sich wieder sagen: »Wie schade um sie! Wie schade!« Der arme Können als »Paulet« hatte wieder einen Lacherfolg. Nachdem sich der andere Schwank des »unsterblichen« Kotzebue mit Stickler, der Schönau und Hoheneichen abgespielt, sollten die »Deklamationen und Lieder« folgen. Aber kaum daß die Schönau die ersten Strophen des »Handschuh« gesprochen, gellte plötzlich wieder die Notglocke – nur einige wenige Schläge – dann verstummte sie wieder.

Das Publikum erhob sich und stürzte dem Ausgang zu. Jeder, auch Sender, wußte sofort, welche Hiobspost das kurze Signal verkündete: die Brücke war in Trümmern. »Und drei Pioniere verunglückt«, hörte Sender im Torweg. Auf der Straße waren es schon zehn geworden. Die Nacht war rabenschwarz, der Regen goß in Strömen nieder – Sender kehrte um.

In der Wirtsstube war noch niemand von den Schauspielern, hastig schlang er einige Bissen hinab, ließ sich von Ruben Schreibzeug und Papier geben und ging auf seine Stube, den Brief an Nadler zu schreiben. »Ja, ja, Moskal«, nickte er seinem Gefährten zu, »jetzt müssen wir um Geld bitten, Schulden machen.«

Er hatte erst wenige Zeilen geschrieben, als es an seine Tür klopfte. Noch ehe er »herein!« rufen konnte, trat die Schönau ein; errötend fuhr er empor.

»Werden Sie nicht rot«, sagte sie. »Werfen Sie mich auch nicht hinaus. Ich beiße Ihnen nichts ab, nicht einmal küssen will ich Sie.« Das sagte sie zwischen Ernst und Lachen, dann aber, nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen, fuhr sie ernsthaft fort: »Ich komme, weil es Stickler will. Was er Ihnen bietet, wissen Sie. Er ist ein Schmutzian, aber was er verspricht, wird er halten, übrigens hätt' er's auch sonst mit mir zu tun. Die Brücke ist nun fort, hier verzehren Sie nur Ihre paar Groschen – wenn Sie sie haben; Ihr Nein hätte keinen vernünftigen Grund mehr. Wovor fürchten Sie sich eigentlich? Vor der Schmiere? Die besudelt Sie das eine Mal nicht. Vor mir?« Sie lachte kurz auf und blickte ihn dann wieder ernst an. »Ich tue Ihnen nichts. Wenn ich wollte«, fuhr sie drohend fort, »lägen Sie binnen zwei Minuten da« – sie deutete auf den Boden vor sich – »und würden um mich betteln. Aber ich will nicht. Wie ich bin, bin ich, aber vor einem hab' ich Respekt, vor dem Talent. ›Da irrst du‹, habe ich dem Stickler gesagt, ›den nehme ich nicht auf mein Gewissen.‹ Also, was soll ich ihm jetzt sagen?«

»Daß ich nicht mitkomme«, sagte Sender fest, aber er vermied es, sie dabei anzublicken. Ihr Lachen war ihm nicht gefährlich, wohl aber ihr Ernst. Sie hatte nun wieder dieselbe Miene wie bei der Probe. »Verzeihen Sie, aber ich kann nicht...«

»Warum nicht? Die Schmiere schreckt Sie? Sie sollen ja nicht dabei bleiben. Die Größten haben so begonnen –«

»– und aufgehört«, fiel er ein. »Und wie viele sind da erstickt, aus denen was hätte werden können. Mein Lehrer hat mir aus einem Buch, das er gelesen hat, viel Beispiele erzählt.«

»Dazu brauchen wir die Bücher nicht.« Sie lachte kurz auf. »Ein solches Beispiel steht vor Ihnen. Aber was beweist das für Sie?«

Er blickte zu Boden. »Ich weiß nicht«, sagte er leise. »Mir graut davor... Aber Sie, Fräulein, wenn Sie einsehen, daß Sie – Sie sind ja ein großes Talent«, fuhr er fort und seine Stimme klang immer sicherer und wärmer. »Und Ihr Leben hier kann Ihnen doch keine Freude machen... Sie könnten ja an einer großen Bühne spielen... Warum sind Sie von Nadler fort?... Es ist schade um Sie... Und es wäre ja jetzt noch Zeit...«

»Da irren Sie«, erwiderte sie. »Jetzt nicht mehr... Ich bin schon zu tief im Schmutz, bis an den Hals, auch mit allen meinen Gedanken. Ich kann keine neue Rolle mehr lernen, diese häßlichen Gedanken drängen sich dazwischen, und wenn ich auf der Bühne stehe – manchmal reißt's mich fort, aber dann muß ich wieder ins Parterre schielen... Ein Wunder ist's nicht, ich habe schon so vielen Schmutz mitgebracht...«

»Sprechen Sie nicht so«, bat er. »Es ist ja traurig... Aber wenn Sie an eine bessere Bühne kämen... Vielleicht wieder zu Nadler.«

»Der nimmt mich nicht mehr!« erwiderte sie. »Und er hat recht, daß er's nicht tut. Ich habe schon im vorigen Mai aus Chorostkow an ihn geschrieben. Da hatte mir nämlich auch jemand ins Gewissen gesprochen, wie heute Sie, ein Mädchen, die Tochter des dortigen Gastwirts...«

Sender machte unwillkürlich eine Bewegung.

»Sie kennen Sie vielleicht?« fragte sie. »Salmenfeld, glaub' ich, war der Name.«

»Ja«, erwiderte Sender. »Ich kenne sie zufällig, ein gutes, kluges Mädchen.«

»Gewiß, nur etwas zu überbildet. Sie hat ganz unleidlich gesprochen, immer wie ein Buch. Aber gut gemeint hat sie's doch. Nun, auf ihr Drängen schrieb ich an Nadler. Keine Antwort. Darauf versuchte ich's vor einigen Wochen noch einmal. Diesmal antwortete er: er lehnte kurz ab.«

»Wenn ich's ihm vielleicht vorstelle«, sagte Sender schüchtern. »Talente sollen ja so selten sein...«

»Ich danke Ihnen. Aber es wäre nutzlos... Also – was soll ich dem Direktor sagen? Ich muß nun fort – auch heute ein Souper im Extrazimmer.« Sie ließ wieder ihr kurzes, gellendes Lachen hören. »Sie sehen, wie recht Nadler hat!«

Er fühlte seinen Widerwillen erwachen. »Ich geh' nicht mit«, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Es hat aber wirklich keinen Sinn. Überlegen Sie sich's bis morgen früh. Freilich sollen wir schon um Sechs fort, aber es wird wohl Acht, bis wir abreisen. Auf Wiedersehen!«

Sie reichte ihm die Hand. Er rührte zaghaft an ihre Finger. Aber sie hielt seine Hand mit warmem Druck fest.

»Leben Sie wohl! Wir sehen uns wohl nie wieder!« Ihre Stimme zitterte. »Vielleicht kann ich einmal erzählen... Unsinn!« unterbrach sie sich. »In einem Jahr bin ich tot... Adieu!«

Sie ging. Tief bewegt starrte er ihr nach, und es währte lange, bis er seinen Brief fertig schreiben konnte. Er war sehr müde, aber der Schlaf wollte nicht kommen, und dann hörte er noch bis in den Traum hinein ihr kurzes, gellendes Lachen.

Am nächsten Morgen weckte ihn ein Klopfen an der Tür aus dem Schlaf. Die Uhr wies auf Sieben. »Stickler«, dachte er und verhielt sich still.

Der war es wirklich. »Kollege! Hören Sie mich nicht? Stellen Sie sich doch nicht taub! Lieber Kurländer, sechs Gulden, wenn's sein muß! Aber kommen Sie...«

Er schwieg.

»Sieben Gulden!« Endlich hörte er den Mann fluchend abziehen.

Eilig erhob sich Sender und nahm hastig das Frühstück. »Die Schauspieler waren alle sehr unglücklich, daß Sie nicht mitkommen wollten«, meldete Ruben. »Nur der Können hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, daß Sie recht getan haben.«

Sender eilte zur Post und ließ den Brief einschreiben. Als er auch die Expreßgebühr erlegen wollte, sagte der Beamte lächelnd: »Die können Sie sparen. Wir können den Brief nur über Halicz und Kolomea schicken. Vor vier Tagen ist er ohnehin nicht in Czernowitz.«

Sender erschrak, daran hatte er nicht gedacht. »Dann will ich telegraphieren«, sagte er und erbat sich ein Formular. Aber er fand in seiner Verwirrung die rechten Worte nicht und mußte immer wieder ein neues erbitten. Da meinte der Beamte endlich: »Setzen Sie doch das Telegramm zu Hause in Ruhe auf. Sie verlieren nichts dabei. Der Eisstoß hat ja auch die Telegraphenleitung zerstört. Wir müssen's nun auf einem ungeheuren Umweg durch Ungarn und Siebenbürgen versuchen, mit Czernowitz in Verbindung zu kommen. Vorläufig geht's nicht – da liegt auch ein Haufe amtlicher Depeschen. Ob Sie mir das Telegramm jetzt oder morgen früh geben, ist ganz gleich.«

Tief betrübt schlich Sender davon.

Unwillkürlich schlug er den wohlbekannten Weg zur Bastion ein. Von fernher schon schlug ihm das Dröhnen und Krachen der Schollen ans Ohr. Noch war der Eisstoß im vollen Gange so weit das Auge blickte – die graue Flut mit Blöcken und Trümmerwerk bedeckt. Von der Brücke war nur noch einer der Pfeiler zu sehen, um welche die Kette gewunden gewesen, der andere lag im Fluß. Der Regen hatte aufgehört, der Blick konnte weithin schweifen, überall die Wüste der Wasser...

Langsam ging er nach dem Hotel zurück und blieb im Torweg stehen. Da kam Hritzko herbei, zog den Hut vor ihm, blieb stehen, kratzte sich hinter dem Ohr und sagte endlich: »Verzeihung, gnädiger Herr, aber ich möchte Sie etwas fragen. Sind Sie vielleicht – verzeihen Sie – der jüdische Lump aus Barnow, der sich als Schauspieler verkleidet hat? Ich soll ihn verhaften.«

Sender wurde aschfahl, aber die Größe der Gefahr gab ihm die Geistesgegenwart zurück. »Nein«, erwiderte er, »der ist schon gestern abend nach Lemberg fort.«

»Gottlob«, sagte Hritzko freudig. »Auch der Herr Bürgermeister wird sich sehr freuen. ›Es ist kein Grund, nämlich nach dem Gesetz‹, sagt er dem Silberstein. ›Ich werde Scherereien davon haben‹, sagt er, ›daß die Juden in Barnow es wollen, genügt nicht.‹ Aber weil der Silberstein so gebeten hat, schon vorgestern und heute wieder, so hat er endlich nachgegeben. ›Meinetwegen‹, sagt er, ›fassen wir den Kerl und schicken wir ihn mit dem Schub zurück. Hritzko‹, sagt er, ›jetzt hast du ohnehin nichts zu tun, die Brücke ist ja fort.‹ Also nach Lemberg ist er?«

»Ja«, erwiderte Sender, »mit der Post. Telegraphisch faßt Ihr ihn noch ab.«

»Das können ja die Juden«, sagte Hritzko, »uns vom Amt geht's nichts mehr an. Aber wie sie sich ärgern werden! ›Ich hab's schlau angefangen‹, sagt der Silberstein. ›Nur die Wirtin hab' ich ins Vertrauen gezogen. Der Lump ist ganz ahnungslos!‹ sagt er. Nun hat er's doch gerochen – hehe! Schönsten Dank, gnädiger Herr.« Er zog den Strohhut und ging.

Tief aufatmend sah ihm Sender nach. Dann stürzte er in seine Kammer, einige Minuten später stand er reisefertig da. Einen Gulden legte er auf den Tisch, mehr konnte das Zimmer keinesfalls kosten. Nun galt es noch unbemerkt zu entwischen. Er schlich die Hintertreppe hinab, der Hund, als wüßte er, was vorgehe, lautlos, mit eingekniffenem Schwanz hinter ihm her. Gottlob, niemand begegnete ihnen.

Durch das Hoftor trat er auf die Straße und schritt weiter, ohne auf die Richtung zu achten – nur zur Stadt hinaus wollte er – gleichviel wohin. Endlich stand er an einem Mauthaus. »Wohin geht die Straße?« fragte er den Zöllner.

»Nach Borszczow«, war die Antwort.

Einen Augenblick zögerte er, dann schritt er vorwärts. »Vielleicht ist dies das beste«, dachte er. »Fünf Gulden habe ich noch, sieben will mir ja Stickler zahlen. Dann brauche ich wohl gar nicht an Nadler zu telegraphieren; ich reiche damit bis Czernowitz, wenn ich sparsam bin. Und da sie im Wirtshaus wissen, daß ich nicht habe mitkommen wollen, so suchen sie mich vielleicht in Borszczow zuletzt.«


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