Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Fünftes Kapitel

Die Mutter empfing ihn schlecht, sehr schlecht. Wohl hörte sie ihn ruhig an, ohne Schimpf und Schlag, aber Prügel wären dem Jungen lieber gewesen. Frau Rosel tat, als wäre er nicht zu Hause, sie würdigte ihn keines Worts und Blicks, sie klagte nicht, nur Nachts hörte er sie in ihrer Kammer stöhnen. Und weil er ja guten, weichen Herzens war, so wirkte gerade dieser stumme Schmerz tiefer auf ihn als jede laute Züchtigung.

Eines Morgens warf er sich ihr weinend zu Füßen.

»Tritt mich, schlag' mich«, schluchzte er, »aber dann sag', was ich nach deinem Willen tun soll!«

Die Frau schüttelte finster den Kopf.

»Es kommt ja doch alles, wie es kommen muß!«

»Was meinst du, Mutter?«

»Später – morgen – ich werde nachdenken!«

Das Geheimnis seiner Geburt war ihr fast auf die Lippen getreten, sie drängte es zurück.

Am nächsten Morgen hatten Mutter und Sohn eine lange Unterredung. Rosel drang in den Zerknirschten, ihr zu sagen, welchen Beruf er selber wünsche.

»Was du willst, Mutter«, war seine Antwort.

Aber als sie nicht abließ, meinte er zögernd: »Am liebsten schau ich mir so die Leut' an und mach' ihnen dann nach, oder denk' mir, was sie tun würden, wenn ihnen ein Schmerz widerfahren möchte, oder eine Freude, oder ein Schreck, oder wenn sie betrunken wären. Geschichten hör' ich gern und weiß sie auch sehr gut zu erzählen – die Leut' lachen, daß ihnen der Bauch wackelt. Und dann möcht' ich herumreisen! Sobald ich jemand gut kenne, geht er mich nichts mehr an...«

Die Frau nickte fortwährend, während er so sprach.

»Ja, ja«, flüsterte sie dumpf, »so, genau so habe ich es mir gedacht!«

Aber dann richtete sie sich hoch auf; noch einmal wollte sie den Kampf aufnehmen mit dem ererbten Dämon. –

»Davon kann man nicht leben«, sagte sie mit harter, schneidender Stimme, »hast du nie daran gedacht, dir dein Brot zu erwerben? »

»Nein«, gestand er.

»Aber es muß ja sein!«

»Dann möchte ich am liebsten Fuhrmann werden«, sagte er zaghaft.«Da kommt man weit herum, sieht viele Menschen, und während man die Pferde lenkt, kann man sich so Geschichten ausdenken.«

Frau Rosel stimmte weder dafür noch dagegen, sie stritt einen schweren Kampf. Endlich entschloß sie sich, des Knaben Wunsch zu erfüllen. Wer sich aus einer reißenden Strömung retten will, dachte sie, darf nicht gegen sie schwimmen, sondern mit ihr und zugleich langsam dem Ufer zu. Das erwählte Gewerbe tat dem unsteten Sinn des Knaben Genüge, und er blieb dabei doch in geordneten Bahnen.

»Noch zwei Jahre«, hoffte sie, »dann suche ich ihm ein braves Weib und es behagt ihm schließlich selbst nicht mehr, so ewig auf der Landstraße umherzukollern.«

Und wieder schickte sich anfangs alles gut. Sender kam zum ersten Lohnfuhrmann von Barnow, Simche Turteltaub, einem lustigen, kreuzbraven, ewig durstigen Menschen. Herr und Knecht paßten zusammen, vertrugen sich vortrefflich, lachten an einem Tage mehr als alle übrigen Juden von Barnow in der ganzen Woche und gewannen sich täglich lieber.

Nach zwei Monaten brachte es Sender so weit, daß ihm der Herr sein eigenes Fuhrwerk auf größere Reisen anvertraute; nicht umsonst war schon in seinen frühen Knabenjahren der Fedko sein guter Freund gewesen.

Im übrigen blieb der Bursche, wie er gewesen; immer lustig, nicht immer harmlos, voll von Possen und Tücken. Nur daß ihm mit den Jahren die Kunstfertigkeit zunahm und da er nun auch wirklich viel Zeit hatte, sich »Geschichten« auszudenken, wenn er so von Barnow nach Tarnopol fuhr, oder durchs Flachland gegen die Berge Pokutiens, so ward er bald im ganzen Lande im gleichen Sinne bekannt, wie früher in Buczacz. Der »Pojaz« – sie nannten ihn nirgendwo anders, und so groß war der Ruf seiner Streiche, daß er noch heute nicht erloschen ist. Tolle Streiche, in denen gleichwohl ein Fünklein Vernunft oder Gerechtigkeitssinn nicht zu verkennen war.

Er hatte dieselbe Empfindung darüber, mehrere Jahre später pflegte er selbst zu sagen: »Schändlich habe ich's getrieben, aber zu schämen brauch' ich mich nicht.«

Das war die Einleitung, und dann begann er zu erzählen: »An der Grenze, in Skalat, war ein kaiserlicher Finanzkommissär, Meyringer hat er geheißen, der war schlauer als alle armenischen und jüdischen Schmuggler zusammengenommen. Die Regierung schickt ihn hin, damit er dem Treiben ein Ende macht, und gibt ihm viele Grenzwächter mit, sogar eine Kompagnie Militär. Er aber läßt die Soldaten ruhig in der Kaserne, geht zu den Leuten hin, die dieses Geschäft in der Hand haben, und sagt ihnen: ›Wenn ich euch abfasse, habt ihr nur Schaden und ich keinen Nutzen! Verständigen wir uns!‹ Das ist den Schmugglern nicht neu, sein Vorgänger hat es ebenso gemacht, sie bieten ihm dasselbe: ein Viertel vom Nutzen. ›Gut‹, sagt er, ›aber ihr versprecht es mir schriftlich und was ich beiläufig jährlich erwarten darf.‹ Das fällt ihnen auf, dann aber denken sie: ›Er ist doch ein Beamter! Wenn er sich nicht schämt und fürchtet, einen solchen Vertrag zu machen, warum wir?‹ Und sie tun's.

Zwei Tage darauf sitzen sie alle im Kreisgefängnis in Barnow. Der Meyringer hat sie angezeigt, die Verträge vorgelegt. Sie kommen ins Zuchthaus, müssen den früheren Schaden ersetzen, und der Meyringer bekommt zur Belohnung ein Drittel davon. Das Militär kann abrücken, der Schmuggel hat aufgehört, denn die Schmuggler sitzen ja alle, und der Meyringer wird Oberkommissär und kriegt einen Orden.

Ein anderer wäre zufrieden, aber der Meyringer denkt: ›Was fang' ich nun an? Kein Schmuggel, kein Verdienst für mich! Das schöne Geschäft darf doch nicht stille liegen!‹ Zwei Monate später wird wieder geschmuggelt, Vieh und Getreide aus Rußland, Salz und Stoffe nach Rußland, und dreimal so viel als sonst. Der Meyringer hat, weil sich kein anderer gefunden hat, die Sache selbst in die Hand genommen – und wie! Er verdient ein Heidengeld dabei, und das Geschäft ist sicher: sollen seine Schmuggler durch die Furt gehen, so warten seine Aufseher an der Brücke und umgekehrt!

Natürlich dauert's nicht lang, und es kommt eine Anzeige an den Kreishauptmann. Ein Oberkommissär wird abgeschickt und untersucht – umsonst! Man schickt mehr Aufseher, auch Soldaten. Der Schmuggel dauert fort, und den Meyringer abzusetzen ist nicht möglich, weil man ihm nichts beweisen kann. Nun kommt ein Finanzrat aus Lemberg, der tüchtigste Beamte im Lande, aber der findet auch nichts.

Zu dieser Zeit bin ich gerade in Skalat und höre diese Geschichte und wie alle Leute den schlauen Schurken verfluchen. ›Dem kommt niemand bei!‹ klagen sie.

Da kommt ein anderer Fuhrmann, Krumm-Avrumele hat er geheißen, und ein großer Gauner war er, zu mir.

›Pojaz‹, sagt er, ›wann fährst du nach Barnow zurück?‹

›Morgen früh‹, sag' ich.

›Und heut' nacht?‹

›Schlaf' ich und ruhen die Pferde!‹

›Hättest du nicht Lust, heut' nacht etwas Besonderes zu verdienen? Dein Fuhrherr muß es nicht erfahren. Deinen Wagen brauche ich nicht, aber dich und die Pferde!‹

Ich weiß gleich, was dahinter steckt, denn alle Leute sagen ja, daß Krumm-Avrumele für den Meyringer schmuggelt.

›Wohin soll ich kommen?‹

›Schlag zehn ins Wirtshaus in Rossow. Aber du schweigst darüber!‹

›Natürlich! Abgemacht!‹

Nun überleg' ich mir die Sach'. Also in Rossow sammeln sich die Schmuggler. Dann fahren sie natürlich ins nächste russische Dorf, nach Klobowka, dort wird aufgeladen. Vor Morgengrauen müssen sie zurück sein. Dann können sie also nur den kürzesten Weg zurücknehmen, über die Rossower Brücke. Sind der Finanzrat und seine Leute gegen zwei Uhr früh dort, so fangen sie den Transport ab. Dem Schurken, dem Meyringer, gönn' ich's. Also muß ich's dem Rat sagen.

Ich geh' ins Wirtshaus, wo der Rat wohnt, zum dicken Froim.

›Der Herr Rat ist in der Kasern'‹, sagt mir der, ›heut' wird er wieder die ganze Nacht mit dem Meyringer und den Aufsehern herumkutschieren und am Morgen mit langer Nas' heimkommen. Der Schuft foppt ihn, wie er will, und der Herr Rat glaubt ihm doch!‹

›Böse Sach'‹, denk' ich, ›dann glaubt er auch mir nicht!‹

Da kommt der Kutscher vom Rat in die Stub' und läßt sich ein Glas Schnaps einschenken.

›Severko‹, sagt der dicke Froim, ›du hast genug! Wie willst du heut' nacht kutschieren?!‹

Ich schau mir diesen Severko an, und richtig – er steht kaum noch auf den Beinen.

›Froim‹, sag' ich zum Wirt, ›gebt ihm soviel Schnaps, wie er will. Es ist ein gut' Werk!‹

›Bist du verrückt?‹ fragt er.

›Tut's‹, sag' ich und bitt' so lang, bis der Kerl eine ganze Flasche bekommt. Und eine halbe Stunde darauf eine zweite.

Es wird Abend, der Regen gießt in Strömen, der Rat kommt mit dem Meyringer, um abzufahren, aber die Pferde stehen im Stall und der Severko liegt unter dem Tisch. Der Rat wettert, da biet' ich mich an. Der Wirt steht für mich gut. Er nimmt's an. Eine Viertelstunde später fahren wir ab.

›Vor die Stadt!‹ wird mir befohlen.

Bei der Kaserne schließen sich uns sechs andere Wagen an mit Aufsehern und Soldaten.

›Ihr fahrt uns nach‹, befiehlt der Rat, und mir: ›Nach Dolnice!‹

Das Dorf liegt zwei Stunden vom Städtchen und vier von Rossow – der Schurk' führt uns wirklich in die entgegengesetzte Richtung. Aber da läßt sich nichts machen – ich fahr' auf Dolnice zu, wenn auch langsam. Die Nacht wird immer finsterer, der Regen stärker, bei der ersten Seitenstraße bieg' ich ab. Der Meyringer merkt's.

›Wohin?‹ ruft er.

›Der Weg ist kürzer, lieber Herr!‹

›Aber du wirst dich verirren!‹

›Behüte!‹

Und fahr' und fahr' im großen Bogen ums Städtchen gegen Rossow und die sechs Wagen hinter mir her. Der Meyringer wird ungeduldig.

›Wo sind wir?‹

›Bei Dolnice!‹

›Aber dort ist ja kein Wald.‹

Ich schweig' und fahr' zu. Vom Rossower Kirchturm schlägt's – ein Uhr, wir sind dicht am Dorf.

›Du Judenhund, du hast dich verirrt.‹

›Ja, Herr!‹

›Und wo sind wir?!‹

›Ich weiß nicht, aber dort schimmert Licht!‹

Das Rossower Wirtshaus! Aber das Nest ist ja schon leer, ich fahr' weit daran vorbei, der Grenze zu. Nach einer halben Stunde fängt der Meyringer ordentlich zu toben an.

›Halt – halt!‹

Auch der Rat schimpft und schreit, ich tu', als hör' ich's nicht. Sie schlagen das Leder zurück und prügeln mit den Stöcken auf mich ein, ich tu', als spür' ich's nicht, sondern fahr' zu – immer näher der Rossower Brücke.

›Halt! halt!‹

Es nützt ihnen nichts. Da seh' ich uns endlich etwas Dunkles entgegenkommen: einen Lastwagen. Gottlob, da sind die Schmuggler! Ich halte, die beiden stürzen hervor, die Aufseher sammeln sich um sie.

›Wo sind wir?‹

›An der Rossower Brücke, Herr Rat!‹ sag' ich. ›Und dort kommt der Transport!‹

Einige Minuten darauf waren die Schmuggler gefangen, und am nächsten Morgen sind sie samt dem Meyringer in die Kreisstadt geschafft worden, nach Zaleszczyki. Eine Belohnung habe ich nicht verlangt und nicht bekommen – mir war's genug, daß alle Leute gesagt haben: ›Ein Bursch' von achtzehn Jahren! – einen Kerl wie den Pojaz hat's noch nie gegeben!‹«

Noch ungleich stolzer aber war er auf folgenden Streich.

»In Tarnopol war ein steinreicher Greis, Chaim Burgmann, ein geiziger, hartherziger Mensch. Seiner verstorbenen Schwester Kinder waren bettelarm, aber er hat ihnen nie einen Kreuzer zukommen lassen von seinem Überfluß.

Einmal mietet er mich nach Zloczow, wir fahren die ganze Nacht durch. Und wie ich ihn so hinter mir schnarchen höre, fällt mir seine Schwester Lea ein, die ich sehr gut gekannt habe – von Buczacz her – und ich denke: dem Alten ist etwas zu gönnen und – den armen Kindern auch!

So schreie ich plötzlich laut und hohl, ganz mit der Stimme der Lea: ›Du alter Lump, warum läßt du meine Kinder verhungern?‹

Mein Chaim fährt auf.

›Gott mit uns!‹ schreit er, ›was war dies für eine Stimme?‹

Ich schweige, er murmelt etwas und liegt wieder still da.

Da wag' ich's noch einmal.

›Chaim! meine Kinder hungern!‹

Nun hat er's deutlich gehört, entsetzt fährt er auf.

›Was war das? Kutscher, hast du nichts gehört?‹

›Ja‹, erwidere ich mit zitternder Stimme, ›plötzlich hat ein kalter Wind durch den Wagen geweht – und eine schreckliche Stimme...‹

Dem Alten sträubt sich das Haar, zitternd setzt er sich neben mich auf den Bock und fängt laut zu beten an. Aber am anderen Tage hat er zehn Gulden nach Buczacz geschickt und von da ab jeden Monat...«

Seine rühmlichste Tat freilich dünkte ihm die folgende.

»In Kopeczynce war ein reicher Verwalter, der Herr Tuskowski. Der hat eine einzige Tochter gehabt, das Fräulein Waleria. Das Mädchen war recht schön, aber stolz, als wär' sie von Gold, und hart, als wär' ihr Herz von Stein. Sie war die eigentliche Verwalterin, und wenn ein Mädchen auf dem Hofe ein Unglück gehabt hat, ein kleines Unglück, so hat sie die Arme fortgejagt ohne Erbarmen!

Was tut aber Gott?!

Gott schickt die Husaren nach Kopeczynce und läßt den Rittmeister einen schönen Mann sein. Und nach einigen Monaten wird die stolze Panna (polnisch: Fräulein) selbst blaß und kränklich und doch täglich runder. Natürlich verbirgt sie es ängstlich und ist noch viel strenger gegen andere, so grausam streng, daß es kaum zu sagen ist!

Wie ich einmal nach Kopeczynce komm', erzählt mir Mortche der Schenker die ganze Geschichte und sagt: ›Heute nachmittag gibt sie wieder eine große Unterhaltung im Gartenhaus, um die Herrschaften zu täuschen.‹

Ich hör's an, spann' ein, fahr' nach Tluste und nehm' mir die beiden Hebammen mit, die jüdische und die christliche: ›Zum Fräulein Tuskowska! Eine schwere Sache, sie braucht euch beide!‹

Vor dem Garten lad' ich die beiden alten Weibsbilder ab: ›Da hinein! Um Gottes willen – eilt euch!‹

Atemlos keuchen sie hinein und fragen vor der ganzen Gesellschaft, wo denn die Panna Waleria ist, die sie so dringend braucht.

Natürlich hat sie sie hinausgeworfen und ich selbst bin mit genauer Not den Knechten des Herrn Tuskowski entgangen. Aber am nächsten Morgen ist die Panna Waleria aus Kopeczynce abgereist und nie wiedergekommen...«

Bis in sein zwanzigstes Jahr ging dies Treiben fort. Da wandelte ihn ein jäher, zufälliger Eindruck und warf ihn in neue Bahnen. Auch dies sei mit seinen eigenen Worten berichtet.


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