Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Neuntes Kapitel

Die »Tartarenpforte« war eine Hinterpforte des Klosters, die in ein einsames Gartengäßchen mündete, in dem nur zuweilen, und dann auch nur in der Dämmerung, ein Liebespaar zusammentraf. Ihren Namen hatte sie aus den alten, blutigen Tagen, wo die Tartaren in einem der zahllosen Grenzkriege zwischen Polen und der Türkei das Kloster belagert hatten und endlich hier eingedrungen waren, um die »Geschorenen des bleichen Götzen« zu töten.

Am nächsten Tage, als es zu Mittag läutete, stand Sender hier harrend, und trotz der warmen, fast sommerlichen Herbstsonne klapperten seine Zähne wie Kastagnetten, und ein Fieberfrost durchzitterte seine Glieder. Man legt altgewohnten Aberglauben nicht so leicht ab, wie ein abgetragenes Gewand. Er war in der Anschauung aufgewachsen, daß man die Augen niederschlagen müsse, wenn man an diesem Hause vorbeigehe, daß es eine Todsünde sei, es zu betreten.

»Ich werde jetzt ein Abtrünniger«, sagte er leise vor sich hin. »Ist es das Opfer wert?«

Aber er bezwang sich, biß die Zähne aufeinander und blieb. Und bald, nachdem der letzte Schlag der Mittagsglocke verhallt war, trat auch Fedko heraus, einen mächtigen Schlüsselbund in der Hand.

»Mittag!« sagte er. »Komm!«

Sender folgte entschlossen, aber seine fieberhafte Erregung war so groß, daß er sich unwillkürlich an die Wand lehnte, um nicht umzusinken. Er atmete schwer, seine Augen schlossen sich.

»Krank?« fragte Fedko.

»Nein, nein!« stammelte er mühsam.

Und gewaltsam raffte er sich auf und folgte, wenn auch wankenden Schritts.

Sie gingen einen langen Korridor hinab. Es ward immer dunkler um sie, feucht und kalt schlug ihnen die Luft entgegen, grünlicher Schimmel überzog die Wände.

»Der Korridor des Severin«, erklärte Fedko.

Vor einem mächtigen Kruzifix blieb er stehen.

»Hier haben die verdammten Heiden den Prior Severin erschlagen. Er war ein neunzigjähriger Greis. Hier an der Wand unter der Glastafel ist sein Blut und Hirn zu sehen.«

Sender wandte den Blick ab.

»Zieh den Hut!« sagte Fedko.

Der Jüngling schüttelte leise den Kopf.

»Komm«, bat er dann.

»Du willst nicht?« fragte der Alte. »Warum? Wenn ich in eure Synagoge käme, würde ich auch den Hut ziehen. Man soll keinen Gott verachten, weder den alten, noch den jungen. Der alte kann was, der junge kann was! Aber wie du willst...«

Sie gingen weiter und eine Treppe empor. Staub und Moder bedeckte die Stufen, eine Fledermaus erhob sich schwirrend.

»Kommen die Mönche nie hierher?« fragte Sender.

»Nein«, war die Antwort. »Es ist ja nur der Aufgang zur Bibliothek. Jeder Mönche hat ohnehin sein Gebetbuch.«

»Und die Lehrer der Schule?«

»Der Pater Marcellinus, meinst du, und der Frater Antonius? Die haben jeder drei Bücher in ihrer Klause.«

»Ist das genug?«

»Mehr als genug!«

Sender blickte ihn prüfend an – aber der Alte meinte es ernst.

Im ersten Stockwerk tat sich wieder ein langer Gang vor ihnen auf. In einer Nische stand unter einem Kruzifix eine Bank, daneben hingen Geißeln von verschiedener Form und Größe.

»Das ist der Winkel, wo die Pönitenz erteilt wird«, erklärte Fedko. »Aber unter unserem jetzigen Prior kommt das selten vor. Er ist ein guter Mann, der auch die Fünfe g'rad sein läßt. Die eigenen Mönche läßt er niemals prügeln und selbst die fremden sehr ungern – nur wenn er Befehl hat...«

»Kommen auch fremde hierher?«

»Ei freilich! Oft waren schon mehrere zugleich hier –«

»Auf Besuch?«

»Auf Besuch – hehe! – freilich – aber oft jahrelang und nicht freiwillig. Zu seinem Vergnügen kommt keiner her – das Kloster ist arm und der Wein so sauer, daß ich wirklich lieber Schnaps trinke, obwohl ich den bezahlen muß –«

»Also als Gefangene?«

»Natürlich! – wir sind ja das Strafkloster der Ordensprovinz. Wenn einer ein Ketzer wird oder den Mädchen so arg nachläuft, daß es eine Schande ist, so kommt er hierher, und wir setzen ihm schon den Kopf zurecht.«

»Wodurch?«

»Wir verstehen das!«

Der Alte ergriff mit grimmigem Lächeln eine der Geißeln und hieb durch die Luft, daß es pfiff.

»Ist jetzt so ein Mönch hier?«

»Nein – jetzt nicht – sonst hätte ich dir nicht den Gefallen tun können. Denn wir pflegen diese Gäste an diesem Korridor hier einzuquartieren, in den Nonnenzimmern. Nämlich – damit sie die Geißeln gleich in der Nähe haben – falls es sie etwa gelüstet, sich freiwillig den Teufel aus dem Leib zu treiben...«

»In den Nonnenzimmern?«

»Ja – hehe! – In diesen Zellen haben einst, vor hundert Jahren, Nonnen gewohnt – hehe! Nonnen – du verstehst schon! Damals war das Kloster sehr reich und der Prior ein lustiger Mann. Aber als er starb, kam an seine Stelle ein strenger Greis. Der hat keinen Spaß verstanden, der alte Ignatius. Jagt die Weiber hinaus, richtet die Zimmer als Büßerzellen ein, stellt hier an der Ecke die Geißeln auf und der ganze Konvent muß sich vor diesen Zimmern die Waden wund hauen...«

Sender besah sich die Marterinstrumente. Die meisten waren mit dunklen Flecken bedeckt.

»Das ist Blut«, sagte der Alte gleichgültig. »Komm –«

Sie schritten den Korridor hinab. Vor einer mächtigen Flügeltüre blieb Fedko stehen. Daneben war eine Marmortafel in die Wand eingelassen. Sie trug in spitzen, steifen Majuskeln die Inschrift:

B J B L.
C. B A R N O V.
S. O. S. D. D. G. S. F. P.
MDCXI.

Mit Mühe vermochte Sender die einzelnen Buchstaben zu enträtseln; ihr Sinn blieb ihm natürlich verschlossen. Die Inschrift lautete: Bibliotheca Conventus Barnoviensis Sancti Ordinis Sancti Dominici de Guzman sive Fratrum Praedicatorum (Bibliothek des Klosters Barnow des Ordens des heiligen Dominicus von Guzman oder der Predigermönche). Beigefügt war das Gründungsjahr der Bibliothek, 1611.

»Hier d'rin sind die Bücher«, sagte der Alte.

Er zog einen mächtigen, verrosteten Schlüssel hervor und versuchte zu öffnen. Das Schloß krachte, aber der Schlüssel drehte sich nicht.

»Ich komme selten hierher«, erklärte Fedko. »Wozu auch? So lange der Schlüssel hier am Bund ist, kommt nichts weg.«

Endlich ging der Flügel auf.

Ein eisiger Hauch schlug den Eintretenden entgegen, durchdringender Modergeruch beengte die Brust. Es war fast dunkel in dem riesigen Raume, denn das Glas der hohen, schmalen Fenster war erblindet, und die Spinnen hatten es mit dichten Netzen überzogen. Als die beiden über die vermodernden Dielen mühsam vorwärts schritten, ward es urplötzlich um sie lebendig, es rauschte in den Lüften, es raschelte am Boden.

»Geschöpfe Gottes«, tröstete Fedko, »fürchte dich nicht.«

»Aber wo sind die Bücher?«

»Nun – hier – überall...«

In der Tat bedeckten sie in mächtigen Regalen alle Wände vom Boden bis zur Decke. In der Dunkelheit, und weil eine Staubdecke sie gleichmäßig überzog, hatte Sender die endlos aufgetürmten Reihen für die Wände selbst gehalten...

»Und wenn dir das noch nicht genug sind«, fuhr Fedko fort, »so sieh einmal her – hier sind noch mehr –«

Sie traten in einen zweiten, noch größeren Saal. Hier war es heller, weil durch die Fenster die Mittagssonne drang. Auch hier war jedes Plätzchen mit Büchern angefüllt, es war in der Tat eine riesige Bibliothek.

In der Mitte stand ein mächtiger Tisch und ein Sessel. Ein hölzernes Schreibzeug stand auf dem Tische, die Tinte war längst eingetrocknet.

»Hier pflegte der alte Pater Ämilius zu sitzen«, erzählte Fedko, »den ganzen Tag, oft auch die Nacht hindurch. Hundert Bücher hat er um sich liegen gehabt, und hat gelesen und geschrieben – fortwährend – es war ein Mitleid mit dem Greis. ›Warum plagst du dich so, Hochwürdigster?‹ frag' ich ihn einmal. ›Ich schreibe ein Buch‹, erwidert er lächelnd. ›Aber es sind wirklich genug Bücher da‹, sag' ich mitleidig, ›so sieh dich doch nur um!‹ Aber er lächelt nur so vor sich hin und schüttelt den grauen Kopf. Nun, nach seinem Tode habe ich seine Schreibereien dem Prior gebracht. Er hat sie flüchtig angesehen und gesagt: ›Verbrenne sie, der Alte war ein Ketzer!‹ Aber ich habe sie hierher in einen Winkel gelegt, mir war's, als könnte der Pater Ämilius keine Ruhe im Grabe haben, wenn ich so seine mühsame Arbeit vernichten würde.«

Darauf nickte der Alte freundlich: »So, jetzt lies, was du willst. Um zwei Uhr hole ich dich!«

Er ging der Türe zu.

Sender blickte um sich in dem wüsten, halbdunklen Raume, und eine jähe Bangigkeit legte sich um sein Herz.

»Fedko!« rief er unwillkürlich.

»Nun?«

Sender schwieg.

»Fürchtest du dich etwa?« rief der Alte an der Türe.

»Nein – geh!«

Der Schlüssel klirrte, kreischend schloß sich der Riegel.

Sender war allein.

Er blieb lange regungslos, auf den Tisch des Ämilius gestützt, und sein Herz schlug in dumpfen, schweren Schlägen. Dann richtete er sich auf.

»Es muß ja sein!« sagte er laut, und der Klang der eigenen Stimme befreite ihn von aller Bangigkeit.

Ruhig schritt er an eines der Fächer heran, und begann die Bücher zu mustern. Er fegte ein Buch nach dem anderen rein, eine Staubwolke umwirbelte ihn.

Aber als er einen der Bände aufschlug, standen da in lateinischer Schrift Worte, die er nicht verstand – es mußte eine fremde Sprache sein. Sender war an die römischen Klassiker geraten.

Kopfschüttelnd wandte er sich zum nächsten Fache; wieder wirbelte er eine Staubwolke auf, wieder war seine Mühe vergeblich. Denn das Bändchen, das er nun hervorzog, trug den Titel: »Myszeis J. Krasickiego« – es war das erste satirische Epos der Polen, der »Mäusekrieg« des Erzbischofs Krasicki.

Sender schlug das Buch auf und begann zu lesen, er verstand die Worte; aber nach einer Weile schlug er traurig das Buch wieder zu.

»Was geht's mich an«, dachte er, »was die Mäuse da auf Polnisch miteinander reden?! Ich will die deutsche Weisheit!«

Er trat betrübt an ein drittes Fach heran und zog ein ganz dünnes Büchlein heraus. Als er es aufschlug, glänzten seine Augen freudig auf – es war Deutsch. Er las den Titel:

»Abenteuer des Mönchs Paphnutius und der Nonne Paphnutia. Zur Kurzweil für fromme Gemüter. Gedruckt in diesem Jahre zu Karthago, in der Druckerei zum irdischen Himmel.«

Voll heiligen Eifers begann er halblaut zu lesen, und ging dabei auf und nieder. Aber schon auf der dritten Seite hielt er inne.

»Es ist ja nicht möglich«, sagte er und wurde blutrot. »So etwas beschreibt man in keinem Buche.«

Aber noch einige Seiten, und nun war keine Täuschung mehr möglich.

Er warf das Büchlein von sich und nahm es dann wieder in die Hand, vorsichtig, wie man eine Schlange anfaßt, und starrte auf den Titel – erstaunt – entsetzt...

Es war eines jener schmutzigen Pamphlete, wie sie das letzte Viertel des achtzehnten Jahrhunderts in so ungeheurer Menge geboren. Sender war nicht rein wie Telemach – wer in Jünglingsjahren als Fuhrknecht die podolische Landstraße befährt, kann es nicht bleiben. Aber von solcher schmunzelnden, halbverhüllten, raffinierten Gemeinheit hatte er keine Ahnung, und daß sie ihm lustig aus den Lettern eines Buches entgegentrat, das erdrückte ihn fast. Ihm war jedes Buch so heilig, wie dem Wilden sein Fetisch; und insbesondere jedes deutsche Buch, stand doch darin die »Weisheit«!

»Wozu werden solche Bücher gedruckt?« fragte er sich, und versuchte an einer anderen Stelle zu lesen, vielleicht konnte er wenigstens dies erraten. Aber Paphnutius und Paphnutia blieben sich auf jeder Seite gleich in ihrem Reden und Tun.

Da schlug er endlich das Büchlein zu und schob es heftig an seine Stelle zurück.

Dann stand er lange regungslos und grübelte über seine Entdeckung nach.

»Es gibt auch schlechte Bücher«, flüsterte er erstaunt vor sich hin, »um Gottes willen – wozu gibt es solche Bücher? Wie kann es schlechte Bücher geben? Und dann: Man weiß ja, wie die Mönche sind – der Fedko hat es ja eben selbst erzählt – wie, wenn hier lauter schlechte Bücher wären?«

Angstvoll stöberte er in dem Fache weiter. Aber der zweite, dritte, vierte Band, den er hervorzog, war gleichen oder ähnlichen Inhalts. Er brauchte nicht erst darin zu blättern, um dies zu erkennen, schon die sauberen Titelkupfer ließen keine andere Deutung zu. Sender war zufällig gerade an jenes Fach geraten, welches der alte Stephanus zur Erheiterung seiner Mußestunden so reichlich ausgestattet hatte.

»Umsonst!« stöhnte der Jüngling. »Hier sind keine Bücher, aus denen ich lernen kann, ich habe die Sünde umsonst auf mich genommen.«

Ratlos wendete er den Blick von einem Fache zum anderen. Da fiel ihm eine Bücherreihe ins Auge, die etwas geringerer Staub bedeckte als die übrigen. Vielleicht hatte der alte Ämilius zuletzt darin geblättert.

Er trat näher und zog einen der Bände hervor.

»Theater«, las er. »Theater von Gotthold Ephraim Lessing.«

Und darunter stand in großem Druck:

»Nathan der Weise.«

Kaum vermochte er das Buch zu halten, so sehr durchzitterte ihn die jähe Freude. Wie hatte er sich bei den Erzählungen seines Lehrers darnach gesehnt, endlich auch so ein »aufgeschriebenes Spiel« zu lesen! Hier hatte er ein solches vor sich und es handelte dazu noch von einem Juden. Und Lessing hatte es geschrieben! Sender erinnerte sich, daß Wild ihm erzählt, das sei ein großer Dichter gewesen.

Er blickte zum Himmel empor.

»Gott Israels, Herr der Heerscharen, du starker und einziger Gott, ich danke dir, daß du gewährt, wonach dein Knecht gedürstet!«

Laut und feierlich sprach er den hebräischen Dankspruch. Er hallte seltsam von den Klosterwänden wider.

Dann schlug er das Buch auf. Dem Titel folgten zunächst die »Personen«. Er begriff sofort, was das bedeute: »Da hat er aufgeschrieben, wieviel Spieler man dazu braucht und wie jeder heißt.« Aber schon die erste Zeile im Verzeichnis faßte er sehr eigentümlich auf.

»Sultan Saladin«, las er. »O du Lump! – Ist das am End' auch ein schlechtes Buch?!« Denn »Sultan« wird im podolischen Ghetto vornehmlich in jenem Sinne gebraucht, der auch unserem Sprachgebrauch nicht ganz fremd ist; es ist dort das allgemein übliche Schimpfwort für einen Mann, der seinen sinnlichen Lüsten die Zügel schießen läßt und es zuchtlos mit mehreren Weibern zugleich hält.

»Aber nein!« berichtigte er sich, »solche Sachen wird doch so ein großer Dichter nicht aufschreiben!... Also, Saladin heißt er und ein elender Sultan ist er – aha! Also steht bei jedem Namen aufgeschrieben, was das für ein Mensch ist, damit es der Spieler gleich weiß!«

Aber schon bei der nächsten Zeile stimmte dies nicht.

»› Sittah, seine Schwester‹ – warum steht nicht auch da, wie sie ist?! Sie muß ja darum nicht auch schon schlecht sein, weil sie die Schwester von so einem Kerl ist! Oder ist das gar so gemeint, wie in dem ekelhaften Buch von Paphnutius? – Da nennen sich der Mönch und die Nonne auch Bruder und Schwester!... Aber weiter: › Nathan, ein reicher Jude in Jerusalem‹... Was?!«

Sender unterbrach sich erstaunt und las es nochmals. »Reich?!« rief er höhnisch – »und in Jerusalem?! Mein lieber Mensch« – er meinte Lessing –, »ich glaub' gern, daß du ein großer Dichter bist, und ob du trotzdem auch ein Schweinemagen bist, wird sich erst zeigen, aber daß du nichts von Juden verstehst, seh' ich schon jetzt! Hast du schon heutzutag' von einem reichen Juden in Jerusalem gehört? Andere Leut' noch nicht!«

Auch diese Kritik war begreiflich. Das ungemeine Elend, in dem heute die jüdischen Bewohner der heiligen Stadt dahinleben, ist ein ständiger Gesprächsstoff des östlichen Ghetto – wird doch für diese armseligen frommen Müßiggänger unablässig gesammelt, und es vergeht kaum ein Monat, wo nicht ein Sendling von dorther auftaucht und durch grelle Schilderungen das Mitleid der polnischen und russischen Juden für ihre verkommenden Glaubensbrüder wachruft.

»Reich! – haha!« Sender zuckte die Achseln. »› Recha, dessen angenommene Tochter‹ – meinetwegen, aber von Juden weißt du wirklich nichts, mein lieber Mensch, der Name heißt ›Rachel‹.«

Die nächste Zeile aber machte das Maß seiner Nichtachtung für Lessings jüdische Kenntnisse vollends überfließen. »› Daja, eine Christin, aber im Hause des Juden als Gesellschafterin der Recha.‹« Sender lachte laut auf. »›Gesellschafterin‹ – ausgezeichnet! Weißt du nicht, was für Juden in Jerusalem wohnen?! Die sind ja so fromm und so dumm, daß unsere Barnower Chassidim im Vergleich zu ihnen aufgeklärte Leut' sind! Und so ein koscheres Betmännchen wird eine Christin ins Haus nehmen?! Höchstens jede Woche einmal als ›Schabbesgoje‹ (christliche Magd, die am Sabbat im Hause des strenggläubigen Juden bedient, die Kerzen anzündet und löscht u. s. w.). Aber für immer und als Gesellschafterin für seine Tochter? Verrückt wär' er, wenn er's tät', denn die anderen würden ihn ja steinigen!«

Auch die nächste Zeile mehrte ihm noch das Gefühl der Überlegenheit über den »lieben Menschen«. ›Ein junger Tempelherr‹ – das war so viel wie ein »Deutsch«, das heißt ein aufgeklärter, modern gekleideter Jude. Und warum? Sender hatte seine Mitbürger oft genug jene »Gottlosen« und »Abtrünnigen« verwünschen hören, die nicht in Synagogen hebräische, sondern in »Tempeln« unter Orgelbegleitung deutsche Gebete verrichteten und gleichwohl so vermessen waren, sich noch als Juden zu fühlen; so ein Mann war offenbar gemeint. »Ich weiß schon«, dachte er, »er wird gewiß der Rachel den Hof machen.... Und so einen ›Deutsch‹ sollt' es in Jerusalem geben – es ist zum Lachen!«

Was aber war ein »Derwisch«, was ein »Patriarch« und ein »Emir« mit »Memelucken«?! An diesen Wörtern scheiterte all seine Findigkeit; nur der »Klosterbruder« war ihm vertraut.

»Vielleicht erkenn' ich's aus dem Spiel«, dachte er und begann zu lesen.

Mit allen Sinnen versenkte er sich in die Dichtung und las langsam, jedes Wort laut vor sich hinsprechend, jede Zeile wiederholend. Ob er wollte oder nicht, er mußte an die Vorstellung denken, der er in Czernowitz beigewohnt, er konnte Daja und Nathan nicht mit derselben Stimme lesen und drückte auch die wechselnden Empfindungen des Mannes durch den Tonfall aus, so gut er konnte. Es geschah unwillkürlich, der angebotene dunkle Trieb regte sich in ihm. Bei den Reden des Nathan näselte er und agierte dazu lebhaft mit den Händen; die Worte der Daja sprach er möglichst hochdeutsch, mit einer spitzen Altweiberstimme und stemmte die Arme in die Hüften, wie es die Mägde in Barnow zu tun pflegten.

Es war ein saures Stück Arbeit, schon weil ihm manche Worte unverständlich waren; die »Phantasie, die immer malet«, die »fromme Kreatur« verwirrten ihn. Vollends aber trieben ihm die vielen Sätze, wo er zwar jedes Wort verstand, ohne doch den Sinn des Ganzen erfassen zu können, den Angstschweiß auf die Stirne. Ganze Reden und Gegenreden mußte er so durchirren.

Er legte das Buch vor sich hin. »Also, was geht da vor?« begann er und brachte seinen Körper dabei unwillkürlich in jene wiegende Bewegung, wie in der Knabenzeit, wenn er über einer schwierigen Thorastelle gebrütet. »Nathan, reich, Kaufmann. An den Reichtum glaub' ich nicht recht. Erstens: Jerusalem. Zweitens: womit er handelt, ist nicht gesagt – mit Kamelen? – mit Goldsachen? Drittens: ein großer Kaufmann fährt nicht viele Wochen herum, Schulden einzukassieren, sondern schickt seinen Kommis. So macht es zum Beispiel unser Reb Mosche Freudenthal, der freilich bare dreißigtausend Gulden im Vermögen hat – und wie kann auch ein Kaufmann so lange vom Geschäft wegbleiben? Aber meinetwegen! Sonst ist Nathan ein guter Mensch, schenkt auch gern, nur etwas scheint er doch einmal angestellt zu haben, und Daja weiß es – er muß ihr mit Goldsachen den Mund stopfen –, das kann bös werden! Das Haus ist verbrannt, während er weg war, daran liegt nichts – natürlich, er war versichert! So was kann sogar, sagt man, manchmal ein gutes Geschäft sein. Recha ist gerettet durch einen Tempelherrn! Das ist aber kein ›Deutsch‹, wie ich sehe, sondern ein ›Sellner‹ (Soldat); er ist gefangen, Saladin, der Sultan, hat ihm das Leben geschenkt, Nathan sagt, das ist ein Wunder! Begreif' ich! So ein Sultan – mit Weibern ist er freundlich, Männer läßt er totschlagen, der Bösewicht! Aber ein großer Herr muß dieser Saladin doch sein, vielleicht ein Fürst!... Recha glaubt, daß der Tempelherr ein Engel war, Nathan will es ihr ausreden. Recht hat er! Erstens ist es die Wahrheit und dann – einem Menschen kann man dankbar sein, einem Engel nicht! Gut, weiter! Jetzt kommt Recha!«

Er erhob sich, versuchte Miene und Haltung eines jungen, züchtigen Mädchens anzunehmen und las mit gespitztem Mund und möglichst zarter Stimme:

»So seid Ihr es doch ganz und gar, mein Vater?
Ich glaubt', Ihr hättet Eure Stimme nur
Vorausgeschickt –«

Hier stutzte er wieder.

»Mein lieb Kind«, sagte er wohlwollend, »mir scheint der Schrecken hat dich so benommen, daß du noch nicht recht weißt, was du redest! Hat man schon je gehört, daß jemand seine Stimme vorausschickt – vielleicht in einem Briefele mit der Post?!«

Das übrige aber gefiel ihm gar wohl, auch mit Rechas Glauben an einen Engel befreundete er sich nun, weil sie ihn in so »feinen Wörtern« ausdrückte. Eben darum begann er sich nun über Nathan, der es ihr ausredete, zu ärgern, hauptsächlich aber deshalb, weil dieser dabei gar so unverständlich sprach. So sprang er denn auch geradezu entzückt auf, als er auf die Worte der Daja stieß:

                            »Wollt Ihr denn
Ihr ohnedem schon überspanntes Hirn
Durch solcherlei Subtilitäten ganz
Zersprengen?«

»Recht hast du«, rief er, »Gottes Recht! Was ›Subtilitäten‹ heißt, weiß ich nicht, wahrscheinlich so viel wie ›Dreh‹ (talmudische Spitzfindigkeit). Ich versteh' mich doch wahrhaftig auf ›Chassidim‹ – aber ›großes Wunder‹ – ›kleines Wunder‹ – ›wahres Wunder‹ – ›allgemeines Wunder‹ – dagegen ist noch unser Rabbi ein Mensch mit einem graden Verstand. Und ich muß sagen, ich hab' ihm unrecht getan, dem Lessing – er weiß, wie Juden sind...«

»Aber jetzt bin ich ja der Nathan«, unterbrach er sich und sprach die ihm unverständlichen Worte möglichst eindringlich, im Tonfall eines disputierenden Talmudisten und mit den eigentümlichen Handbewegungen, die ihn einst an seinen ersten Lehrern, den »Bachorim«, so belustigt hatten.

So näselte er sich bis an den Auftritt mit dem Derwisch durch. Was dieser rätselhafte Name bedeute, verstand er auch nun nicht recht, aber so viel schien ihm gewiß: ein hochmütiger Bursche war er. Und demgemäß las er die Rolle in polterndem, prahlendem Ton, bis zu den Worten:

– »gesteht, daß Saladin
Mich besser kennt, Schatzmeister bin ich bei
Ihm worden –«

da richtete er sich noch stolzer auf, kniff die Augen halb zu und mühte sich, ein so hochmütiges Gesicht zu machen, als ihm irgend gelingen wollte.

»Bist du verrückt?«

Urplötzlich tönte es ihm ins Ohr. Sender fuhr zusammen, fast hätte er das Büchlein fallen lassen.

Es war Fedko; der Jüngling hatte im Eifer des Lesens seinen Schritt überhört.

»Zwei Uhr«, sagte der Alte. Und dann wiederholte er seine Frage: »Bist du verrückt?«

Sender erwiderte nichts. Seufzend schob er das Büchlein an seinen Platz und folgte dem Manne, der ihn fortwährend, wie ängstlich, betrachtete.

Als sie unten vor der Pforte standen, sagte Fedko: »Höre, du mußt mir sagen, was du da oben treibst...«

»Ich lese.«

Der Alte schüttelte unwirsch den grauen Kopf.

»Das ist nicht wahr! Sag' die Wahrheit! Nicht aus Neugierde will ich es wissen, sondern meiner Pflicht gemäß.«

»Aber das kann dir doch gleichgültig sein...«

»Oho! Als du mir gestern deine Bitte sagtest, habe ich mir gedacht: ›Der Senderko war schon als Kind nicht so, wie die anderen Juden, er ist wahrscheinlich ein gestohlenes Christenkind, und darum liegt es ihm im Blute, daß er sich nicht vor dem Kloster fürchtet.‹ Aber jetzt habe ich dich getroffen, wie du mit den Händen herumwirfst und schreist und ein verzücktes Gesicht machst. Weißt du, wer sich so benimmt? Entweder ein Verrückter –«

»Ich bin bei Vernunft«, beteuerte Sender.

»Dann noch schlimmer – ein Zauberer!« sagte Fedko dumpf und bekreuzte sich. »Und bei einer Zauberei helfe ich nicht mit. Einmal ist keinmal – hoffentlich ist diesmal kein großer Schade geschehen. Aber du kommst nie wieder hinauf!«

Sender seufzte tief auf. Dann begann er zu flehen, seine Unschuld zu beteuern. Der Alte blieb hart. Sender versprach ihm, fortab nicht bloß am Sonntag, sondern auch am Mittwoch ein Fläschchen Slibowitz zu zahlen. Fedko ließ sich nicht rühren.

»Du mußt mir sagen, was du oben treibst?« wiederholte er.

»Ich lerne!«

»Ich bin nicht so dumm«, sagte Fedko, »so lernt man nicht!«

So rückte denn Sender endlich mit der vollen Wahrheit heraus, aber es dauerte sehr lange, bis der Alte es annähernd verstand.

»Kommedia«, murmelte er. »Was ist das für ein Einfall! Kommedia machen unsere Bursche, wenn sie um Neujahr als die Drei Könige aus Morgenland von Haus zu Haus ziehen, aber was nützt das einem Juden?!«

Indes – so viel war ihm nun doch klar: der Bursche war wohl eher verrückt, als ein Zauberer. Und daraufhin ließ es sich doch wieder wagen.

»Das eine sage ich dir«, schloß er, »wenn ich im Kloster oder in der Stadt die geringste Verzauberung bemerke, so werde ich wissen, wer sie angestellt hat, und mich darnach benehmen!«

»Ich bin's zufrieden«, sagte Sender und eilte in die Werkstätte.


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