Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiunddreißigstes Kapitel

Sender trat in die Wirtsstube. Fast an allen Tischen saßen schon Gäste, ihre Zahl wuchs immer mehr. Verlegen sah er sich um einen Platz um, nur der Tisch, auf dem Können die Blätter ausgebreitet, war noch leer. Sender ging auf ihn zu. »Ganz richtig«, rief Ruben, der eben mit einem Tablett voll Speisen vorbeischoß, »dort ist der Künstlertisch.«

Da zögerte Sender wieder und sah sich um. Aber hier saß offenbar jeder Stand gesondert, an dem einen Tische die christlichen Honoratioren, an dem anderen Tittinger und seine Freunde in deutscher Tracht, an einem dritten die Beamten, einem vierten die jüdischen, einem fünften die christlichen Kleinbürger, sogar die Offiziere hielten sich je nach der Waffe getrennt, an einem Tisch die Infanteristen und Pioniere, am anderen die Ulanen.

»In Gottes Namen«, dachte Sender und setzte sich an den Künstlertisch.«Also neben die Kollegen. Aber zahlen tu' ich keinem mehr was!«

Ruben kam herbeigestürzt, räumte die Blätter fort, und deckte den Tisch. »Die Schauspieler kommen gleich«, sagte er. »Mit ihrem Nachtessen werden Sie nicht zufrieden sein, auch wenn man Sie einladet. Ich bring' Ihnen was Gutes.« Und ohne Senders Auftrag abzuwarten, stürzte er wieder ab.

Bald kamen auch Stickler und Birk. »Freue mich ungeheuer«, rief ihm Stickler entgegen und grinste über das ganze breite, flache, aufgedunsene Trinkergesicht. »Habe schon gehört! Keine Umstände, lieber Kurländer«, wehrte er ab, als dieser sich erheben wollte, und faßte seine Rechte mit beiden Händen. »Tausendmal willkommen! Hier Ferdinand Birk, der berühmte Held und Vater, früher am Wiener Burgtheater, jetzt mein Stolz, der Pfeiler meiner Bühne.«

Wenn dem so war, dann stand diese Bühne noch unsicherer als Sender geglaubt. Mühsam, stolpernd ließ sich der Mann auf einen Stuhl fallen und fuhr mit zitternden Händen über die Stirne. Sender hielt ihn anfangs für betrunken, aber dazu stimmten die erloschenen Augen, der todmüde Ausdruck der Züge nicht. Es war einst sicherlich ein schönes, stolzes, kühn geschnittenes Antlitz gewesen, man konnte es deutlich erkennen, trotz aller Verwüstungen und so unheimlich das immer wackelnde Kinn anzusehen war. Der Mann mußte sehr krank sein. Von Sender nahm er keinerlei Notiz.

»Ein Schnäpschen, Birk?« fragte der Direktor.

»Nein«, erwiderte dieser matt. »Du weißt, ich vertrage es nicht. Aber Hunger hab' ich!« Ruben stellte eben einen Braten und ein Fläschchen Wein vor Sender hin. Die Augen Birks hefteten sich gierig auf die Speise.

»Ist's gefällig?« fragte Sender und reichte ihm die Hälfte hinüber. »Auch etwas Wein?«

»Danke«, murmelte Birk und machte sich über den Teller her. »Nein, Wein nicht.«

»Aber das sollt' ich eigentlich nicht dulden!« rief Stickler. »Sie sind natürlich mein Gast, lieber Kollege. Nun, später trinken Sie einen Schluck mit mir... Ruben, meine Mischung, wie gewöhnlich. Und einen Kalbsbraten.«

Fräulein Linden mit ihren beiden Kindern trat ein, dann die Kassierin und Hoheneichen. Endlich kam auch Können geschlichen, nicht durch die Haupttür, sondern aus der Küche; er scheute sich offenbar, durch den gefüllten Saal zu gehen. Stumm saß die armselige Gesellschaft um den Tisch, selbst Hoheneichen rief Sender nur ein kurzes: »Servus, Bruderherz!« zu und schielte dann trübselig nach dem Braten des Direktors. Umso unablässiger schwätzte Stickler, obwohl er gleichzeitig aus Leibeskräften kaute.

»Hier Hermine Linden, lieber Kurländer. Die Zeit der Lindenblüte ist vorüber, hehe! – Aber haben Sie schon je eine solche Sentimentale bewundert?... Erinn'rung schön'rer Tage blieb zurück, wie Sie sehen, sogar doppelt, hehe!... Pepi Meyer, genannt die Perle von Temesvar, kann bei ihrem Benefiz auch jetzt noch volle Häuser machen, wenn sie die Billette verschenkt, übrigens als Kassierin groß, als komische Alte unerreichbar... Mein Hoheneichen – keine Vorstellung mehr notwendig, hat Sie schon angepumpt. Über Können brauch' ich Ihnen auch nichts zu sagen. Sinniges Pseudonym, kommt von Nichtkönnen, hehe!... Aber Kinder«, unterbrach er sich, als niemand lachte und nur jene, auf die er gerade stichelte, die Mienen verzogen wie Gefolterte, wenn sie gekitzelt werden, »was sitzt ihr so still da, nach solchen Triumphen? Ha! ich verstehe, die Atzung... Ruben, mein Rabe, wo bleibt die Atzung? Ich hab' euch einen köstlichen Schmaus besorgt. Ein Gläschen von meiner Mischung, Kurländer?«

Sender lehnte hastig ab, die Mischung bestand aus einem Viertel Met, drei Viertel Schnaps, der köstliche Schmaus aus einer Riesenschüssel Kartoffeln, einem Tellerchen Schmalz und einem Krug Wasser. Heißhungrig machte sich die Tafelrunde darüber her, nur Birk konnte mit seinen zitternden Händen nicht so rasch zugreifen. Stickler häufte ihm den Teller voll und gab ihm auch alles Schmalz, das noch übrig war.

»Da, mein Ferdinand«, sagte er wohlwollend. »Gelt, es schmeckt besser, als die Trüffelpasteten, die du einst hattest?... Die Schönau hat wohl wieder für sich selbst gesorgt?« fragte er den Kellner.

»Sie soupiert im Extrazimmer«, erwiderte Ruben. »Der Herr von Czapka und drei polnische Herren haben sie eingeladen. Sie trinken Champagner...«

»Braves Kind«, murmelte Stickler gerührt. »Sorgt immer für sich selbst. Und was sagen Sie zu dem Talent?« wandte er sich an Sender. »Großartig! Aber weil wir gerade von Talenten sprechen, was spielen Sie für ein Fach?«

Sender zählte die Rollen auf, die er mit dem Pater durchgenommen. Als er den Shylock nannte, fuhr Stickler wie elektrisiert empor.

»Das wär' was gewesen!« rief er. »Jammerschade, daß Sie nicht früher gekommen sind! Ich hätte Sie zu einem Gastspiel gepreßt – und wenn's drei Gulden gekostet hätte! Denn, sehen Sie, das ist ein Stück für Galizien. Das interessiert Jud' und Christ und beide können sich nach Herzenslust freuen und ärgern. Der Shylock macht überall ausverkaufte Häuser; hat der Ort über dreitausend Einwohner, so kann man ihn ruhig zweimal geben. Und das Stück fehlt mir! Ich habe keinen Shylock. Der Hoheneichen könnt' ihn ja zur Not spielen, aber dann fehlt mir der Antonio. Ich hab's mir neulich extra daraufhin angesehen, aber der Antonio läßt sich wirklich nicht streichen. Jammerschade!«

»Ich hab' ihn ja auch noch nie gespielt«, sagte Sender. »Wer weiß, ob ich –«

»Aber ja! Ganz bestimmt! Der Nadler ist ein – na, ich sage nichts, Sie schwärmen für ihn, höre ich –, aber wen er fördert und als Anfänger blindweg engagiert, der hat Talent. Eine feine Nase hat der – Herr, das muß man ihm lassen. Und dann, ich bitte Sie, in Zaleszczyki! Das heißt«, fügte er rasch hinzu, »Sie könnten ihn gewiß auch in Tarnopol spielen, in Wien, in Pardubitz – überall! Aber nun ist's zu spät. Vier Wochen sind wir hier, haben sechzehnmal gespielt, das letzte Mal, ›Lumpazi Vagabundus‹ und ein Stück aus den ›Räubern‹ – und zwei Gulden Einnahme! Heut' war's passabel, aber es ist auch der beste Theatertag, der Freitag, und ›Deborah‹ und dieser Zettel! Und nach dem Benefiz der Schönau zieht überhaupt gar nichts mehr, rein gar nichts!« Er seufzte auf. »Also hier geht's nicht! Aber kommen Sie doch nach Borszczow mit! Ich habe dort für Montag den ›Schneider Fips‹ und ›Kabale und Liebe‹ angesetzt, aber der Shylock würde weit mehr ziehen! Also besinnen Sie sich kurz – schlagen Sie ein!«

Er bot Sender die Hand hin. Aber dieser schüttelte den Kopf. »Montag muß ich in Czernowitz sein«, sagte er fest.

»So sind Sie eben am Mittwoch dort... Helft mir doch, Kinder!... Nicht wahr, Birk, er muß mit?«

Aber Birk regte sich nicht. Er starrte, nachdem er sein Essen verschlungen, wieder teilnahmlos vor sich hin.

»Birk, hörst du nicht? An was denkst du eigentlich... An deine Gräfinnen und Zofen von anno dazumal... die Sarolta – he, was?«

In den erloschenen Zügen glomm ein Lächeln auf, ein häßliches, gemeines Lächeln, und die zitternden Hände griffen wie tastend in die Luft. »Die Sarolta...« kicherte er. Sender sah ihn entsetzt an; der Mann, der bisher sein Mitleid erweckt, sah in diesem Augenblick überaus widrig aus. Dann wurde das Gesicht wieder stumpf wie zuvor.

Stickler zuckte die Achseln. »Nun und ihr, Kinder?« wandte er sich an die anderen.

»Natürlich muß er mit«, riefen die Kassierin und die Linden wie aus einem Munde.

Auch Hoheneichen, der bisher verdrossen dagesessen, stimmte ein. »Ja, Bruderherz, du mußt! Lassen Sie ihn nicht locker, Direktor, ich sage ihnen, den hat der Schenius auf die Stirne geküßt! Du wirst einen Shylock hinlegen, daß ganz Borszczow wackelt. Ich würde dich schon herumkriegen, wenn mir die Kehle nicht so trocken wäre...«

Der Direktor verstand den Wink. »Ruben, ein Glas Bier für Hoheneichen!«

Alle machten große Augen, eine solche Freigebigkeit war wohl unerhört. An diesem Engagement mußte ihm sehr viel liegen.

»Bravo!« rief er. »Natürlich wird Borszczow wackeln. Was sagen Sie, Können?«

Der Kleine fuhr zusammen, blickte Stickler ängstlich an, schwieg aber. Einen Augenblick war's still am Tische, und in diese Stille hinein tönte Birks Stimme.

»Nein«, sagte er dumpf. »Er soll nicht!... Soll nicht mit ins Elend hinein!... Ist noch so jung!«

»Birk!« rief Stickler ärgerlich.«Du wirst bald ganz blödsinnig!«

»Ja!« murmelte der Unglückliche und fuhr sich über die Stirne. »Ich fühl's... Aber darin hab' ich recht!«

Er erhob sich und schlich auf zitternden Knien hinaus.

Darauf war es wieder still. Endlich hatte sich Stickler gefaßt. »So was!« rief er und versuchte zu lachen. »Weil er sich in Wien und München mit seinen Weibern um Kraft und Verstand gelumpt hat, darum soll unser junger Freund nicht auf zwei Tage nach Borszczow... Tildchen!« unterbrach er sich. »Da kommt sie ja! Tildchen, Stab meines Alters, du kommst zu rechter Zeit!«

Es galt der Schönau. In weit ausgeschnittenem, hellgrünem, schmutzigem Seidenkleid, künstliche Rosen im Haar, kam sie eben zwischen den Tischen auf die Schauspieler zu, von allen Seiten neugierig oder begehrlich angestarrt und die Blicke ebenso erwidernd. Die Wangen waren geschminkt, aber sie flammten offenbar auch in natürlicher Röte und die Augen blitzten.

»Guten Abend, Kinder!... Grüß Gott, schöner Fremdling! Daß du mir gefällst, hab' ich dir schon gesagt!« Sie strich Sender ums Kinn. »O die liebe Unschuld, wie rot er wird! Auch im Theater, so oft ich ihn angesehen habe. Das reine Kind. O, du Fratzerl du!«

»Tildchen! Das Fratzerl muß nach Borszczow mit. Sei du seine Amme!«

»Wird gemacht! Aber zuerst das Geschäft, dann das Vergnügen!« Sie blickte sich im Saal um. »Gottlob, die Leuteln san no da. Das macht der Eisstoß. Drinnen haben mich die verrückten Polen nicht weglassen wollen, – ›aber, Kinder‹, sag' ich, ›morgen ist mein Benefiz, ich muß den Leuten noch Karten anhängen! Von euren zwanzig Gulden‹, sag' ich, ›werd' ich nicht fett!‹ Die haben s' mir für vier Sperrsitz' 'zahlt!« Sie holte die Scheine aus der Tasche und warf sie auf einen Teller. »Als gutes Beispiel!... Pepi, die Karten.«

Und sie ging an den Offizierstisch.

»Ein Teufelsmädel!« lachte Stickler. Auch Hoheneichen, der glückliche »Bräutigam«, schien sehr vergnügt, nur Können saß finster da, seine Wangen flammten fast ebenso wie die Senders.

Den litt es nicht mehr auf seinem Stuhl, ihm war's, als müßte er in dieser Luft ersticken. »Gute Nacht«, murmelte er.

»Aber was fällt Ihnen bei?« rief Stickler. »Jetzt wird's ja erst lustig!« Und als der junge Mann sich nicht halten ließ: »Wir sprechen morgen weiter!«

»Morgen«, sagte Sender, um nur loszukommen, und ging in seine Kammer. »Wir gehen nicht nach Borszczow«, sagte er, indem er sich zu entkleiden begann. »Nicht wahr, Moskal? Das fällt uns gar nicht ein.« Und der Hund bellte und wedelte, als wäre er derselben Meinung.

Als Sender am nächsten Morgen erwachte, wies seine Uhr auf neun. Fast beschämt erhob er sich, so lang war er noch nie in den Federn gelegen. Auch die Lungen schmerzten ihn. »Heut' geh' ich mit den Hühnern zu Bett«, dachte er. »Denn morgen muß ich ja in aller Frühe fort! Das Benefiz kann ohne mich stattfinden... ›Fratzerl –‹ Du freches Ding!«

Als er die Treppe hinabging, hörte er plötzlich die nahe Kirchenglocke anschlagen. Ihr Ton klang heute anders als gestern, kurz, gellend. Die Schläge folgten sich rasch, unregelmäßig, immer schriller. Eine andere ferne Glocke fiel ebenso ein. »Feuer!« rief Sender und stürmte in den Torweg.

Dort kam ihm die dicke Wirtin entgegen. »Erschrecken der Herr nicht, es ist nur eine Überschwemmung. Was geht den Herrn die Überschwemmung an!«

Ohne zu erwidern eilte er an ihr vorbei, die Straße hinab, dem Flusse zu. Noch immer gellte die Sturmglocke. Aus allen Häusern stürzten die Leute hervor, jammerten und schrien. Es regnete in Strömen, ein warmer Regen. In der Straße, die abwärts führte, war schwer vorwärts zu kommen, sie glich dem Rinnsal eines Wildbachs.

Es währte lange, bis er die Bastion erreicht, noch länger, bis er sich durch die triefende, stoßende, jammernde Menge so weit durchgedrängt, um das Flußtal übersehen zu können. Es war ein trostloser Anblick. So weit das Auge das dichte Regennetz durchdringen konnte, nichts als Grau, häßliches, schmutziges Grau, oben die Wolken, unten der Fluß. Die Riesenschlange war seit gestern ins Ungeheure angeschwollen, ins Endlose schien sich ihr Leib zu dehnen, denn nun hatte der Fluß die Äcker überflutet und von jenen, die höher lagen, war der Schnee geschmolzen. Wasser, Wasser, nichts als graue, unheimliche Flut, vom Himmel stürzte sie nieder, aus der Erde schien sie emporzuquellen, als wollte sie alles Leben ersticken. Man sah förmlich das Steigen des Wasserspiegels. Noch hatten eben die Gartenzäune unten über ihn hinausgeragt, nun sah man nur noch die Spitzen – jetzt verschwanden auch diese.

Von den Häusern dicht am Fluß ragten nur noch die Strohdächer hervor. Aus einzelnen Dachluken sah man die Bedrohten mit Tüchern winken, ihr Rufen vernahm man nicht. Aus den anderen, höher gelegenen Häusern flüchteten eben die Bewohner; mit entsetzten Gesichtern wild durcheinander drängend, man sah förmlich ihr Angstgeschrei, aber man hörte es nicht. Auch das Klatschen des Regens, das Plätschern der Flut, das Poltern des Trümmerwerks, das unten dahintrieb und aneinanderstieß, drang nicht ans Ohr. Denn ein ungeheures, betäubendes Geräusch schwamm unablässig in den Lüften, kaum auf Sekunden ersterbend, dann immer stärker anschwellend: das Krachen im Eis. Wie wenn ein Orkan in eine Riesenharfe greifen würde, klang es: jetzt überaus gellend, daß es durch Mark und Bein schnitt, dann dumpf dröhnend wie Kanonendonner, bald wieder ein minutenlanges Knattern, als zersplitterten jählings alle Äste eines Waldes, dazwischen als unheimlichstes Getön jenes Gurgeln und Glucksen der eindringenden Flut, als hätte sich ein Schlund aufgetan, alles Lebende hinabzuziehen. Selbst der Ton der Notglocke war vor diesem ungeheuren, die Sinne betäubenden Klingen und Dröhnen kaum hörbar.

Das Eis barst, aber es stand noch. Immer häufiger sah man einen Block emportauchen, sich aufrichten, als wollte er über den Spiegel hinwegsehen und dann reglos liegen bleiben. Noch war die Flut nicht mächtig genug, sie vor sich herzurollen, sie blieben liegen und versperrten nur den Wassern den Weg. Daher das jähe Steigen des Spiegels, die wachsende Überschwemmung. Haus um Haus, Gasse um Gasse der Unterstadt wurden überflutet.

Die Notglocke heulte unablässig; ihr Hauptzweck, Helfer herbeizurufen, die Leute aufzustacheln, blieb unerreicht. Der Slave ist schwer zur Selbsthilfe zu bringen, das liegt in seiner stumpfen, entsagungsvollen Natur, noch schwerer der Jude, er ist ungewohnt, der Gefahr die Stirne zu bieten, und verliert leicht den Kopf. Fast nur die Soldaten sah man in Kähnen am Rettungswerk, selten mengte sich unter die weißen Uniformen der Pelz des Bauers, der Kaftan des Juden. Die Pioniere aber waren mit der Rettung der Brücke beschäftigt, indem sie die Ketten so hoch wie möglich zu winden suchten. Aber es ging schwer, weil sich das Eis an die Kähne gesetzt und sie festhielt oder niederzog. Noch immer standen die Bohlen über Wasser, aber der Verkehr war nun eingestellt.

Angstvoll starrte Sender auf die Brücke nieder. Die Umstehenden zu fragen, hatte er aufgegeben, es gab jeder eine andere Antwort. Da sah er seinen Sitznachbar von gestern abend, den Doktor Tittinger, in der Menge auftauchen, und drängte sich zu ihm durch. Ob er morgen früh nach Czernowitz könne, fragte er.

»Nein«, erwiderte der Advokat. »Dies selbst im besten Falle nicht. Gelingt es, die Brücke so weit zu heben, daß der Eisstoß unten hinweggehen kann, und kommt dieser schon heute, so können Sie Montag hinüber. Aber ich glaube nicht, daß es gelingt, und beschädigt das Eis die Brücke, so sind wir wohl für eine Woche von der Bukowina abgeschnitten.«

»Eine Woche!« rief Sender angstvoll. »Aber es muß doch irgendwo oben eine Brücke geben!«

»Auf zwei Tagereisen nur Fähren«, war die Antwort. »Wäre der Dniester so leicht überbrückbar, wir hätten längst eine steinerne gebaut. Nur oberhalb Halicz ist eine, dort ist der Fluß noch zahm und klein. Aber das ist, wenn Sie nach Czernowitz wollen, ein Umweg von etwa fünf Tagereisen, da warten Sie lieber hier!«


 << zurück weiter >>