Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel

Die Tage vergingen; die Antwort aus Czernowitz traf nicht ein; eine andere Aussicht, etwas zu verdienen, ergab sich nicht. Von der Mutter ein Geschenk zu erbitten, wäre Torheit gewesen. Sie blieb in ihrem Benehmen gegen ihn stets gleich kalt, gab ihm nie ein schlechtes, aber auch nie ein gutes Wort, und nur zuweilen, wenn er unversehens den Blick erhob, fand er ihr Auge kummervoll und prüfend auf sich gerichtet; namentlich in den letzten Wochen, wo sein Gesicht etwas spitzer geworden und er so viel hüstelte. Auch fragte sie ihn einmal, wo er sich so arg erkältet und ob er beim Husten ein Stechen in den Lungen verspüre. Aber es klang so gleichgültig, als hätte sie ihn gefragt, ob ihm ein Knopf am Kaftan fehle, und als er eifrig versicherte, er fühle sich ganz wohl, drang sie nicht weiter in ihn und stellte nur des Abends schweigend eine Tasse Eibischtee vor ihn hin. »Ich danke dir, Mutter«, sagte er und suchte ihre Hand zu fassen, da zog sie sie sachte zurück.

Dies Benehmen und noch mehr das heimliche Bewußtsein seiner Schuld – er war ja fest entschlossen, sie zu verlassen, sobald er konnte – ließen ihn keinen Versuch wagen, sie zu begütigen. Stumm und gedrückt saß er ihr gegenüber und suchte, sobald er konnte, sein Kämmerchen auf.

Auch sein Verhältnis zu Jossele Alpenroth hatte sich seit dem Abenteuer von Mielnica noch verschlechtert. Heftig zu werden oder gar Schimpfworte zu gebrauchen, lag nicht im Wesen des stillen, ruhigen Männchens. Auch seine Mahnreden wiederholte er nicht mehr. Aber der Lehrling schien für ihn kaum noch auf der Welt zu sein, und er gab sich mit seinem Unterricht keine Mühe mehr.

Dennoch faßte sich Sender am Morgen des Tages, wo die Frist, die ihm Fedko gesetzt hatte, ablief, ein Herz und brachte seine Bitte vor.

Der Meister blickte kaum von der Arbeit auf.

»Nein!« sagte er ruhig und leise wie immer. »Keinen Heller! Es geschieht nicht aus Geiz oder Härte – frag' nur in der ›Gasse‹ nach, wenn du das glaubst. Aber du verdienst es nicht. Deine Arbeit taugt nichts! Auch will ich dir nichts geben, denn dann bleibst du vielleicht noch länger bei mir als sonst!«

»Ihr wollt mich los sein?« rief Sender.

Der kleine Mann nickte.

»Wie gern wär' ich dich los! Sehr, sehr gern!« versicherte er treuherzig. »An dem Tag schenk' ich den Armen fünf Gulden. Und fünf Gulden ist viel Geld, und ich verdien' sie nicht leicht!«

»Warum? Hab' ich Euch was Böses getan?«

»Nein – was man so Böses nennt, nicht! Das ist es ja eben. Wenn du mir einen Streich spielen würdest – und wer könnte das besser als du?! – so wär's zu Ende. Denn so habe ich es mit deiner Mutter abgemacht: ›An dem Tage, wo er gegen mich den ›Pojaz‹ herauskehrt, darf ich ihn hinauswerfen!‹ Du tust es leider nicht, und ich muß deiner Mutter mein Wort halten. Denn sie ist ein braves Weib, und Gott hat sie ohnehin hart genug mit dir gestraft; durch mich soll sie keine traurige Stund' haben. Aber schwer fällt's mir!«

Sender fühlte den Zorn in sich aufsteigen, umso heftiger, mit je sanfterer Stimme das Männchen seine Reden vorbrachte. Aber er bezwang sich – ein Streit mit dem Meister, das war's just noch, was ihm zu seinen Bedrängnissen fehlte!

»Aber nun den Grund«, sagte er. »Ihr werdet einsehen, Meister, daß Ihr mir das schuldig seid!«

Der Uhrmacher nickte wieder.

»Das ist wahr!« sagte er. »Aber der Grund? – ein Grund... Komm' her, Sender, hier an meinen Tisch... Sieh dir das Werk von dem Ührchen da an, das ich eben reparieren tu' – gehört dem Herrn Kreiskommissär. Ein feines Ührchen, ein schönes Ührchen«, fügte er mit fast zärtlicher Stimme bei und strich mit dem kleinen Finger liebevoll über den Rand, »es ist auch gottlob nicht ernstlich krank, sondern muß nur gereinigt werden... Also, wie viel Rädchen siehst du da?«

»Vier!«

»Vier! Richtig! Was jeder Bauer sehen könnt', siehst du auch! Aber mehr nicht! Und viel mehr als ein Bauer verstehst du auch nicht und kannst du nicht machen. Schon das ist schlecht für mich! Freilich bezahl' ich dir nichts, aber auch einem anderen Lehrling würd' ich nichts geben, und an dem hätt' ich doch mit der Zeit eine Hilfe. Jeder Mensch darf doch auf seinen Vorteil sehen, nicht wahr?! Aber daß du mir Schaden bringst, weil alle meine Zeit und Müh' an dir verloren ist, das ist nur ein Rädchen in der ganzen Sach', und zwar das kleinste. Das Rädchen ist da!«

Er wies mit dem Finger auf das Uhrwerk.

»Aber daneben«, fuhr er fort, »ist ein größeres: warum lernst du nichts? Weil du ungeschickt bist? Nein! Oder dumm? Einen gescheiteren Burschen hab' ich nie gehabt. Oder weil du zu kurze Zeit dabei bist? Das ist ja gar schon deine zweite Lehrzeit! Du lernst nichts, weil du kein Herz für unser goldenes Handwerk hast! Ich aber – – Sender, du wirst mich ja nicht verstehen oder gar verspotten, aber sagen will ich's dir doch! Täglich im Morgengebet, wenn ich die Stelle sag': ›Ich danke dir, Herr, daß du mich als Mann geschaffen hast‹, füge ich bei: ›und als Uhrmacher!‹ Ich sag' es nur in Gedanken, denn man kann doch nicht ins Gebet deutsche Worte mischen, und für ›Uhrmacher‹ haben unsere Väter kein Wort gehabt, aber Er hört mich doch und weiß, daß ich Ihm dankbar bin! Ich denk' mir oft: ›Du hast viel Sorgen, Jossele, und es könnt' dir besser gehen, aber du tauschst doch mit niemand und kannst nie unglücklich werden, denn du bist gottlob ein Uhrmacher!‹ Mit wem sollt' ich tauschen? Mit einem Wucherer? Pfui! Oder mit einem anderen Handwerker? Der Schuster, der Tischler – mit welchen Sachen haben sie es denn zu tun? Mit toten, groben Sachen! Meine sind fein und leben! Holz ist Holz und Leder ist Leder, aber jede Uhr hat ihre eigene Natur, man muß sie erkennen und lieb haben; dann vergilt sie einem die Mühe. Ich sag' dir, Sender, ich, Jossele, der arme Mann, beneid' keinen, außer vielleicht deinen früheren Meister, Hirsch Brandeis in Buczacz, weil ich leider nicht so geschickt bin wie er. Aber ein Herz dafür hab' ich wie er! Und nun sitzt einer neben mir, der kein Herz dafür hat, der dies schöne Handwerk verachtet, und das kränkt mich, das ärgert mich, das empört mich!«

Der kleine Mann erhob auch nun seine Stimme nicht, aber sie zitterte, und seine Wangen brannten.

»Verachtet!« sagte Sender abwehrend. »Das nicht, Meister!«

»O ja! Für einen Dieb hältst du einen Uhrmacher gerade nicht, aber du möchtest es nicht bleiben. Nicht um die Welt! Und warum nicht? Das ist das dritte Rädchen und noch weit größer als das zweite: weil du zu gut dafür bist, du, der ›Pojaz‹! Natürlich – du bist ja gescheit, und es fallen dir ja lustige Sachen ein, über die man lachen muß, und du kannst jedem nachäffen und ihn so verhöhnen, daß kein Mensch mehr Achtung für ihn hat! ›Wer das kann‹, denkst du, ›ist zum Handwerker zu gut‹! Ich aber sage dir« – und nun erst schwoll die Stimme an – »du bist zu schlecht dazu! Es gibt zweierlei Arten von Menschen, die braven, fleißigen, die sich ihr Brot im Schweiß ihres Angesichts verdienen, das sind die Gelehrten und die Handwerker. Und andere gibt es, die verachten die Arbeit und mißbrauchen den Verstand, den ihnen Gott gegeben hat, und leben von anderer Leut' gutem Ruf und aus anderer Leut' Sack: die Schnorrer, die Marschalliks, die Pojazen! Ich bin ein echter Uhrmacher, und du bist ein echter Pojaz – und darum haß' ich dich, haß' ich dich!«

Die Erregung des Männchens gab Sender die Ruhe zurück.

»Das ist traurig für mich«, sagte er. »Aber für Euch ist's nicht schön! Ja, Meister, es gibt Uhrmacher und es gibt Pojazen, aber warum? Weil sie es so wollen? Nein, weil Gott es so will. Glaubt Ihr, Ihr hättet ein Marschallik werden können wie unser alter Reb Itzig?«

Jossele machte eine Bewegung entrüsteter Abwehr.

»Ich weiß«, fuhr Sender rasch fort. »Ihr hättet es auch nicht werden wollen! Also auch nicht können, Meister! Ihr sagt, ich hätt' kein solches Herz für unser Handwerk wie Ihr! Wenn das wahr ist, man gibt sich ja nicht selbst sein Herz, sondern Gott tut es!«

»Laß Gott dabei aus dem Spiel«, rief Jossele. »Gott meint's mit jedem Menschen gut, Gott gibt jedem das Herz zu einer anständigen Arbeit! Es kommt nur auf unseren Willen an, auf die Bravheit, den Fleiß! Ein guter Handwerker kann jeder werden, es ist nur sündige Hoffart, wenn einer sagt: ›Nein, das mag ich nicht, lieber Pojaz, dazu bin ich geboren!‹ Und mehr noch als die Hoffart spricht der Hang zum Müßiggang solche Worte aus euch. Es gibt keine geborenen Pojazen – so unbarmherzig ist Gott nicht! Und wenn du hundert Tage redest, ich glaub' es nicht!«

»Und ich Euch nicht!«

»Natürlich! Wolltest du mir glauben, du müßtest dich ja vor mir schämen! Übrigens – wenn du recht hast, wenn du ein geborener Pojaz bist, was suchst du hier? Willst du bei mir Künste lernen? Ich versteh' nichts, nur mein Handwerk...«

»Ihr wißt«, erwiderte Sender düster, »es ist nicht meine Wahl. Und Ihr behaltet mich auch nur meiner Mutter zuliebe. So bitt' ich Euch: habt Geduld mit mir, vielleicht geht's doch!«

»Ja, wenn das vierte Rädchen nicht wär'«, rief Jossele. »Und das vierte ist grad' das größte! Du bist ein schlechter Bursch' und treibst wüste Sachen!«

»Ich?!« rief Sender.

»Du! Du bist schlecht, sag' ich. Daß du nicht heiraten willst, wundert mich nicht – ein ›Pojaz‹ will nicht gebunden sein, wenn er seine Späße heut' hier und morgen dort auskramen will. Aber warum sagst du denn nicht deiner Mutter ›Nein!‹, warum läßt du, wenn du zu feig dazu bist, Schuldlose für diese Feigheit büßen?! Du hast es auf dem Gewissen, wenn Reb Mortche Diamant vielleicht erst in Jahren, vielleicht niemals einen Mann für seine Chaje findet – die dummen Leut' lachen, wenn man ihren Namen nennt, so hast du sie durch deine Possen bloßgestellt! Ich weiß, du bist gar noch stolz darauf!...«

»Bei Gott, nein!« beteuerte der Gescholtene.

Der Meister richtete sich auf; wieder überflammte der Zorn sein Antlitz.

»Wer hat's unter die Leut' gebracht?!« rief er. »Etwa Reb Mortche, weil er so viel Freud' davon hat? Du warst es!«

Sender mußte den Blick senken. In der Tat hatte er einigen davon erzählt.

Aber noch schlimmer ward ihm zu Mut, als Jossele fortfuhr: »Das ist aber noch nicht das Ärgste! Das Ärgste ist, was du jetzt treibst. Wo bist du immer während der Mittagszeit? Ich hab' geglaubt, bei deiner Mutter. Aber du kommst nur nach Haus, das Essen in dich hineinzuschlingen, dann rennst du wieder davon. Hierher aber kommst du immer zu spät, und wie schaust du dann aus? Halb erfroren bist du und Augen hast du, als hätt'st du zu viel getrunken. Ich hab's deiner Mutter bisher verschwiegen, aus Mitleid, sie härmt sich deinetwegen ohnehin genug ab. Aber jetzt muß es sein, denn jetzt weiß ich endlich, was dahinter steckt!«

Sender wurde totenbleich. Hatte der Meister seine Besuche im Kloster wirklich erkundet, so mußte er sofort fliehen, gleichviel wohin, auf die Gefahr, am Wege zu erfrieren oder Hungers zu sterben. Denn in Barnow quälten ihn die Fanatiker unter den Chassidim langsam zu Tode.

»Du zitterst! Du kannst mir nicht ins Gesicht sehn! Hättst du dich doch lieber geschämt, eh' du diese Schande und Sünde auf dich und ganz Israel geladen hast! So was war ja noch nicht da, seit Barnow steht...«

Kein Zweifel, der Mann wußte alles! Aber hatte er trotzdem bisher geschwiegen, so tat er es vielleicht auch ferner, sofern man ihn nur recht darum anflehte.

»Meister!« stammelte Sender, »denkt an meine Mutter...«

»Hast du an sie gedacht, als du dich so an Gottes heiligem Namen versündigt hast?!«

Sender beugte das Haupt noch tiefer.

»Ich sehe ja ein«, flehte er, »es ist eine Sünde. Aber seht, anderswo, in Czernowitz zum Beispiel, ist ja jeder Jud' ein ›Deutsch‹...«

»Eine schöne Ausred'! Übrigens hab' ich das sogar von den Czernowitzern, die doch gewiß Abtrünnige sind, nie gehört, daß dort jeder eine Liebschaft mit einer Christin hat wie du!...«

»Was?!« Sender traute seinen Ohren nicht.

»Willst du dich aufs Lügen verlegen?! Du hast es ja eben gestanden! Du treibst dich täglich irgendwo mit ihr herum! Neulich bist du sogar mit einem ganz beschmutzten Kaftan hergekommen! Und mager und grün wirst du davon! Pfui! pfui!«

»Ich bin unschuldig!« rief Sender und beteuerte es mit feierlichen Eiden. Es nützt ihm aber nichts, bis er auf Josseles Drängen auch bei dem Leben seiner Mutter schwor, daß er keine Christin liebe. Da erst gab sich der Meister zufrieden; eines solchen Meineids wäre auch der gewissenloseste Jude nicht fähig.

Während aber Sender schwor, dachte er angstvoll nach, welcher Sünde er sich statt dessen beschuldigen sollte. Endlich fiel ihm etwas bei, was nicht allzu unwahrscheinlich klang. Jedes Judenstädtchen ist von einem an Häusern, Bäumen oder Pflöcken befestigten Draht, dem »Eiruw« umzogen. Bei den »Mismagdim« in Galizien, den frommen Gemeinden in Posen und Westpreußen hat der »Eiruw« nur für den Sabbat Bedeutung. Da der Jude an diesem Tage keine Last aus seinem Hause hinaustragen darf, also niemand mit einem Gebetsmantel oder einem Taschentuch auf die Gasse treten dürfte, so wird durch den »Eiruw«, der den Ort umschließt, die Fiktion hergestellt, als wäre das ganze Weichbild ein Haus. Der Sekte der »Chassidim« aber, die ja in Barnow die herrschende war, genügt diese Bedeutung des Drahtes nicht. Bei ihnen ist es überhaupt verboten, zu anderen Zwecken als in Geschäften oder um das Gotteshaus aufzusuchen, die Stube zu verlassen, denn der Fromme soll daheim sitzen und über Talmud und Thora grübeln. Da aber auch sie dies nicht immer tun können, so bedeutet der »Eiruw« die Grenze, innerhalb deren man spazieren gehen darf, denn da verläßt man gleichsam das Haus nicht.

»Den ›Eiruw‹ hab' ich überschritten«, gestand also Sender zu. »Aber seht, Meister, als Kutscher hab' ich mich an frische Luft gewöhnt. Ich muß täglich gehörig laufen!«

Jossele schüttelte den Kopf. »Du lügst mich an«, sagte er. Aber sein erster Verdacht war ungerecht gewesen, und eine andere Erklärung für die steifen Hände und die glänzenden Augen seines Lehrlings hatte er nicht – so mußte er denn diesen Anwurf wohl oder übel fallen lassen.

Das aber wurmte ihn, und darum wurde er doppelt heftig.

»Deshalb bist du doch schlecht!« rief er so laut, wie man es kaum je von ihm gehört. »Und von mir kriegst du nie einen Heller! Geh in die Welt, werd' ein Schnorrer! Da bekommst du für deine Späße Essen und noch ein paar Kreuzer dazu...«

»Schweigt!« brauste Sender auf und ballte die Fäuste. »Ein Schnorrer!«... Nicht umsonst hatte ihn Rosel in der Anschauung erzogen, daß dies das erbärmlichste, jammervollste Gewerbe unter der Sonne sei.

»Warum?!« sagte der kleine Mann höhnisch; der Zorn, der lang zurückgehaltene Haß übermannte ihn. »War nicht dein Vater Mendele ein Schnorrer? Und deine Mutter...«

»Meine Mutter?!« fiel ihm Sender heiser vor Wut ins Wort und trat dicht an ihn heran. »Wer was gegen meine Mutter sagt, den schlag' ich nieder! Und mein Vater? Was geht's mich an, was aus Froim dem Schreiber geworden ist?... Denn Froim hat er geheißen und nicht Mendele. Er hat mich in die Welt gesetzt – ja! aber wer so schlecht gegen meine arme Mutter war, den brauch' ich nicht als Vater zu achten. Und vorgeworfen hat mir bisher noch niemand das Unglück, für das doch ich nichts kann. Ihr seid der erste – schämt Euch!«...

Aber es bedurfte dieser Rüge nicht. Jossele Alpenroth schämte sich in diesem Augenblick ohnehin so sehr, daß er in die Erde hätte versinken mögen, freilich aus einem anderen Grunde, der aber noch viel triftiger war. Er war eben im Begriffe gewesen, eine Roheit zu begehen, die ihm niemand in Barnow verziehen hätte, geschweige denn Frau Rosel, die er so aufrichtig verehrte. Jedem einzelnen in der Gemeinde, auch ihm, hatte ja der Rabbi das Gelübde abgenommen, Sender niemals das Geheimnis seiner Geburt zu entdecken. »Es wär' so schlecht und roh von euch«, hatte der Priester gesagt, »wie wenig anderes auf der Welt.« Und dieser Roheit, dieser Schlechtigkeit hatte er, Jossele Alpenroth, ein »feiner Mensch«, ein frommer Mann, ein Uhrmacher, sich eben schuldig machen wollen! Freilich nur, weil ihm der Zorn die Besinnung geraubt – aber war dies eine Entschuldigung?!

Er war fahl geworden und zusammengeknickt wie ein Taschenmesser.

»Verzeih«, stammelte er, »ich...«

In derselben Haltung war vor fünf Minuten Sender vor ihm gestanden, als der Meister gesagt, er wisse um seine Schliche. Die beiden hatten ihre Rollen getauscht.

Sender war noch zu erregt, um dessen inne zu werden. Schweratmend stand er da. »Schämt Euch!« wiederholte er noch einmal.

»Ich schäm' mich ja!« sagte der kleine Mann weinerlich, »und du darfst deiner Mutter nichts davon sagen...«

Da erst kam Sender der jähe Wechsel der Situation zum Bewußtsein. Jählings schlug nun auch seine Stimmung um, er fühlte einen Lachreiz in der Kehle. Aber er unterdrückte ihn und sagte finster: »Ihr aber werdet Ihr natürlich vom ›Eiruw‹ erzählen und daß ich überhaupt nichts tauge...«

»Nein!« beteuerte Jossele. »Hab' ich ihr denn bisher was gesagt? Also – es bleibt unter uns?«

Er streckte dem Lehrling die Hand hin. Aber dieser tat, als sähe er es nicht. Es überraschte ihn, wie zerknirscht der Meister nun war, er wußte es sich nicht recht zu erklären, aber das war Josseles Sache, und die seine war, aus dieser Wendung der Dinge Nutzen zu ziehen.

»Ihr habt mich schwer gekränkt«, sagte er. »Ob ich als Uhrmacher was tauge oder nicht – gleichviel – ich bin ein ehrlicher Mensch wie Ihr... Der Mutter will ich nichts davon sagen, es würde sie auch zu sehr kränken, aber einen Dritten wollen wir fragen, ob das recht war, mir vorzuwerfen, daß ich eines Schnorrers Sohn bin. Den Rabbi zum Beispiel, wenn es Euch recht ist...«

»Um Gottes willen!« wehrte der Uhrmacher so entsetzt ab, daß ihn Sender ganz verblüfft anstarrte.

»Nein«, fuhr der Meister fast atemlos fort. »Wir brauchen keinen Schiedsrichter! Wir werden uns auch so vertragen. Du verzeihst mir und ich dir!« Er ergriff Senders Hand und drückte sie. »Und was ich noch sagen wollt'«, fuhr er fort, »du hast mich um einen kleinen Lohn gebeten! Du verdienst ihn zwar eigentlich nicht – das heißt – hm! Also – da du den ganzen Tag da sitzest – in Gottes Namen... Womit wärest du denn zufrieden?«

Sender riß die Augen weit auf, ihm war's, als ob er träume! Das hatte er nicht zu hoffen gewagt! Wenn er sich vorhin gekränkter gestellt, als er war, so geschah es nur, um dem Meister in Zukunft nicht gar so hilflos gegenüberzustehen wie heute. Und nun bot ihm dieser das Geld an!

»Ihr seid doch ein guter Mensch«, sagte er gerührt, und er meinte es ehrlich. Ein Gulden Monatslohn war das geringste, was er fordern konnte, und um diesen Betrag bat er auch.

»Ein Gulden?!« rief Jossele erleichtert; er war auf das Doppelte gefaßt gewesen.« Nun – weil ich dich gekränkt hab' und weil ich hoff', es wird ein Sporn sein – du sollst ihn haben! Vom nächsten Monat ab!«

»Nein – gleich!« bat Sender, und Jossele gab nach. »Aber nun an die Arbeit!« schloß er.

So saßen Meister und Lehrling wieder friedlich in der Werkstätte nebeneinander, jeder über seine Arbeit gebückt, aber viel brachten beide an diesem Vormittag nicht vor sich. Der Meister war zu ärgerlich, der Lehrling zu freudig gestimmt.

»Ich hab' doch in allem recht gehabt«, dachte Jossele, »und es war dem Pojaz zu gönnen, daß er's einmal gründlich zu hören bekommt. Da bringt mir ein böser Geist den Mendele auf die Zunge! Das hätt' eine schöne Geschichte werden können; in der ganzen Gemeinde wär' ich in Verruf gekommen! Aber das mit dem Gulden war doch eine Übereilung. Was hab' ich nun davon? Der Pojaz bleibt mir auf dem Hals, nur daß ich ihn noch bezahlen muß!«

Hingegen hegte Sender nun keinen Groll mehr. »Ein guter Mensch ist dieser Klein-Jossele«, dachte er, »freilich nur eben so ein Uhrmacher! Merkwürdig, er haßt mich, weil ich ein anderer Mensch bin als er – warum fällt mir nicht ein, deshalb ihn zu hassen?! Er ist mir gleichgültig, eigentlich schau' ich ihm sogar nicht ungern zu, wenn er so dasitzt und seine ›Ührchen‹ anlächelt – wenn ich einmal in einem Spiel einen braven Handwerker zu machen hab', der auch so viel Verstand hat, wie einem solchen Menschen nötig ist, aber nicht mehr, dann soll er sich benehmen wie Jossele... Hassen?! O wie lieb wollt' ich dich haben, wenn ich nicht den ganzen Tag mehr dasitzen müßt' und die verdammten Rädchen reinigen!... Nur in einem hat er recht gehabt, ich hätt' die Mielnicer Geschichte nicht erzählen sollen, aber wenn ich geschwiegen hätt', so hätten die Leut' am End' geglaubt, daß Reb Mortche mich nicht gewollt hat... Nein«, rügte er sich dann selbst, »lüg' nicht, Sender, deshalb hast du's nicht getan – was wär' dir auch daran gelegen? – sondern weil's dir Freud' macht, wenn die Leut' über deine Geschichten lachen! Es kitzelt dir im Hals, wenn du so was weißt, du würdest dran ersticken, wenn du's verschweigen müßtest!... Die dicke Chaje bekommt schon noch einen Mann, Gott sorgt für uns alle« – er griff nach der Westentasche, wo er den Papiergulden geborgen – »er hat auch für mich und meinen Fedko gesorgt!«

Nicht minder fromm nahm der alte Klosterdiener die Flasche Slibowitz entgegen, die ihm Sender diesmal mitbrachte. »Das hat Gott nicht gewollt«, sagte er, »daß ich in meinem Schmerz ohne Trost bleibe. Denn unsere Schweinchen, lieber Senderko, wollen noch immer nicht fetter werden!«

Woche um Woche verging, und Neujahr war längst vorüber, aber Fedko beantwortete die tägliche Frage, ob der Brief aus Czernowitz gekommen, immer wieder mit einem energischen Kopfschütteln und fügte zuweilen sogar ein spöttisches Wort hinzu. Aber Sender ließ sich nicht irre machen. »Dann kommt er morgen«, sagte er.

Diese Zuversicht sollte sich glänzend erfüllen. Als er eines Tages – es war im Februar und bald ein Jahr herum, seit er in Czernowitz gewesen – wieder an der Tartarenpforte erschien, stand Fedko harrend da, ein mächtiges Paket unter dem Arm.

»Das hat mir heute der Briefträger gebracht«, sagte er. »Er hat mich sehr ausgelacht, denn es fühlt sich an wie Bücher, und ich kann ja nicht lesen!«

Mit zitternder Hand ergriff Sender das Paket und drückte es an sich. Im Bibliotheksaal löste er die Siegel.

Es waren wirklich Bücher, eine deutsche Sprachlehre zum Selbstunterricht, eine kleine Weltgeschichte, ein Lehrbuch der Geographie, ein Rechenbuch, ein Briefsteller, ein Lesebuch für Gymnasien und ein »Katechismus der Schauspielkunst«.

Ein Brief lag bei. Der Direktor entschuldigte sich zunächst, daß er erst jetzt antworte; er sei erst vor einigen Wochen mit seiner Truppe nach Czernowitz gekommen, weil sich in der Stadt kein genügendes Publikum für die ganze Wintersaison finde, und habe sich dann auch die Sache gründlich überlegen wollen. Er halte es nach reiflicher Erwägung auch nun noch für das beste, daß Sender in Barnow bleibe, bis er sich die nötigste Bildung angeeignet; sei er erst einmal bei der Truppe, so werde er dafür keine Zeit, keine Ruhe, vielleicht auch keine Lust mehr haben. Mit Hilfe der beiliegenden Bücher werde er sich auch hoffentlich ohne Lehrer forthelfen. »Du nimmst«, heißt es weiter, »zuerst die Sprachlehre durch, dann die anderen Bücher. Der Briefsteller soll Dir nur als Muster dienen, den Katechismus liest Du zuletzt. Geht es trotz der Bücher gar nicht oder wollen sie Dich um jeden Preis verheiraten und kannst Du Dich unmöglich anders dagegen schützen, so komm in Gottes Namen sofort zu mir – ich bleibe bis Ende April in Czernowitz. Aber es scheint mir, wie gesagt, für Dich vorteilhafter, wenn Du erst im Januar, also nach einem Jahr, zu mir kommst. Noch eins! Bis Du meine Bücher ganz genau durchgelesen hast und verstehst, mußt Du das Lesen in der Bibliothek bleiben lassen – dann magst Du Schiller oder Lessing lesen, aber nicht Goethe oder Shakespeare. Leb' wohl, bleib' fröhlich, Gott schütze Dich, und ich werde Dich nie verlassen. Brauchst Du Geld, sei es zur Reise oder weil es Dir zu schlecht geht, so schreib' mir; ich hab' selbst nicht viel, aber es wird schon für uns beide reichen.«

Sender las den Brief wohl an die zehn Male, seine Augen feuchteten sich, so oft er an den Schluß kam. »Der gute Mensch«, murmelte er, »der gute Mensch!... Natürlich will ich ihm in allem gehorchen, es ist ja bitter, daß ich noch hier bleiben muß, aber er weiß, warum!«

Als Fedko erschien, nahm Sender Abschied von ihm. »Vielleicht komme ich in den nächsten Monaten wieder«, versprach er.

Aber der freundliche Greis schüttelte traurig den Kopf.

»Es ist aus«, sagte er, »für immer aus. Ich habe ja gewußt, es wird so kommen. Daß du täglich so bitter frierst und ich dafür Slibowitz trinke – es war mir immer wie ein schöner Traum, und ein Traum kann nicht ewig dauern. Nun kommt wieder der gemeine Schnaps, wo ich drei Fläschchen trinken muß, bis mein Herz heiter wird – und den muß ich mir obendrein selbst bezahlen. Aber das ist der Welt Lauf! Leb' wohl, Senderko!«


 << zurück weiter >>