Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Karl Emil Franzos

Der Pojaz

Eine Geschichte aus dem Osten


Vorwort

»Bilde, Künstler, rede nicht!« Jedes Dichterwerk soll sich selbst erläutern. Bedarf es erst einer Erklärung, so taugt es nichts. Zudem nützt alles Erklären nichts. Ist das Werk lebensfähig, so lebt es durch die eigene Kraft; ist es als Krüppel zur Welt gekommen, so nützt ihm das Mäntelchen eines Vorworts nichts. Im Gegenteil, das Mäntelchen schadet nur. Ungeduldig zerrt der Leser an dem Gewande:«Laß mich doch selbst sehen, wie das Kind gewachsen ist!«

Dies Vorwort also soll meinen Roman weder erläutern, noch verteidigen. Es soll nur einige äußere Umstände anführen und daneben einiges sagen, was ich schon lange auf dem Herzen habe und am besten bei dieser Gelegenheit vorbringen kann.

Ich bin am 25. Oktober 1848 auf russischem Boden geboren, im Gouvernement Podolien, in einem Forsthause dicht an der österreichischen Grenze. Ich glaube nicht, daß man je die Absicht hegen wird, an diesem Hause eine Gedenktafel anzubringen; sollte aber einst irgend ein Freund meiner Schriften auf diesen Gedanken kommen, so wird er ihn nicht verwirklichen können. Das Haus steht nicht mehr; über die Stelle, wo ich zur Welt gekommen bin und die ersten Wochen meines Lebens verbracht habe, geht heute der Pflug; der gerodete Wald ist Ackerland geworden. Vor 45 Jahren wohnte dort ein wackerer deutscher Förster aus Westfalen, der meinem Vater treu anhing, weil er ihn in schwerer Krankheit am Leben erhalten hatte. Den Dank dafür trug der Mann nun ab, indem er die Familie seines Lebensretters treulich aufnahm. Denn der Spätherbst 1848 war eine böse Zeit in Ostgalizien; die Polen erhoben sich und gingen damit um, den vereinzelten Deutschen im Lande dasselbe Los zu bereiten, wie es ihre Posener Landsleute den Preußen ein halbes Jahr vorher zugefügt oder doch zuzufügen versucht. Zu den Bedrohten gehörte auch mein Vater, denn erstlich stand er als Bezirksarzt in kaiserlich königlichen Diensten, und zweitens hatte er sich immer als eifriger Deutscher betätigt. Jeden Tag regnete es Drohbriefe; auf dem flachen Lande war bereits der Aufruhr offen erklärt; im Städtchen erwartete man stets den Überfall. Man riet meinem Vater, zu flüchten; er war nicht der Mann, seinen Posten zu verlassen. So schickte er denn nur meine Mutter, die mich eben unter dem Herzen trug, und meine älteren Geschwister über die Grenze in jenes Forsthaus. Dort also bin ich, wie gesagt, zur Welt gekommen, vorzeitig; meine arme Mutter war ja in tödlicher Angst und Sorge um den Gatten. Die Gefahr ging gnädig an ihm vorbei; schon im November war der Aufstand der Polen zu Ende, und sie konnte heimkehren. Man sieht, ich bin deshalb in Rußland zur Welt gekommen, weil mein Vater sich als Deutscher fühlte und danach handelte.

Auch bei meiner Erziehung. Das deutsche Nationalgefühl, das mich erfüllt, das auch ich mein Leben lang betätigt habe, ist mir von Kindheit auf eingeprägt worden. Ich war noch nicht drei Käse hoch, als mir mein Vater bereits sagte: »Du bist deiner Nationalität nach kein Pole, kein Ruthene, kein Jude – du bist ein Deutscher.« Aber ebenso oft hat er mir schon damals gesagt: »Deinem Glauben nach bist du ein Jude.« Mein Vater erzog mich wie mein Großvater ihn erzogen, in denselben Anschauungen, sogar zu demselben Endzweck, ich sollte meine Heimat nicht in Galizien finden, sondern im Westen. Und auch die Gründe, die meinen Vater dazu bewogen, waren dieselben.

Ich besuchte die einzige Schule des Städtchens, die im Kloster der Dominikaner; dort lernte ich Polnisch und Latein. Im Deutschen unterrichtete mich mein Vater selbst. Für das Hebräische hatte ich einen besonderen Lehrer. Dieser Mann war zugleich der einzige meiner Czortkower Glaubensgenossen, mit dem ich bis in mein zehntes Jahr in nähere Berührung kam. Meine Mitschüler, meine Spielgefährten waren Christen. Ich betrat selten ein jüdisches Haus, nie die Synagoge. Religiöse Bräuche sowie die Speisegesetze wurden im elterlichen Hause nicht gehalten. Ich wuchs wie auf einer Insel auf. Von meinen Mitschülern schieden mich Glaube und Sprache, und genau dasselbe schied mich von den jüdischen Knaben. Ich war ein Jude, aber von anderer Art als sie, und ihre Sprache war mir nicht ganz verständlich.

In diesen Eindrücken meiner Kindheit wurzelt vielleicht das Beste, was ich habe: die Fähigkeit des Beobachtens. Ich war von allen anderen geschieden, ein anderer als sie. Aber was ich nun war, wußte ich ganz genau, dafür hatte mein Vater gesorgt. Ich war ein Deutscher und ein Jude zugleich. Von beiden hörte ich nur das Beste und Edelste, was mich zur Treue, ja zur Begeisterung entflammen konnte. Bewarf mich zuweilen ein Judenknabe mit Kot und schimpfte mich einen Abtrünnigen, so wurde mir gesagt: »Er ist deshalb doch dein Bruder, grolle ihm nicht! Er weiß nicht, was er tut.« Freilich durfte ich den Bruder nicht näher kennen lernen, aber dazu hatte ich auch geringe Lust, und bescheidene Annäherungsversuche, die ich machte, fielen übel aus: die kleinen Kaftanträger prügelten und verhöhnten mich. Begegnete ich aber nur einem von ihnen, so lief er mir davon. Das mißfiel mir beides, stimmte mir auch nicht zu der Geschichte der Makkabäer, die mir mein Vater so begeistert zu erzählen pflegte.

So standen die Dinge in meiner Knabenzeit in Czortkow. Ich hatte viel Begeisterung für das Judentum, aber einen sehr dürftigen Einblick in das reale Leben der Juden um mich her.

Einen tieferen Einblick gewann ich erst in Czernowitz, wo ich das Gymnasium besuchte, allmählich und stückweise, von Jahr zu Jahr mehr. Nun, wo mein Vater nicht mehr war – ich habe ihn bereits 1858 verloren –, begriff ich erst recht, unter welchen Kämpfen sein Leben vergangen, in welchen Anschauungen er mich erziehen gewollt. Wie es ohne jenen festen Grund, den er gelegt, ohne jene Begeisterung, die er in mir entflammt, mit mir gekommen wäre, könnte ich mit Bestimmtheit nicht sagen, denn vielleicht hätten mich zwei Grundzüge meines Wesens, die auch ich mir nachsagen darf, weil sie niemand übersehen kann, der meine Schriften oder mich kennt – vielleicht hätten, sage ich, mein Pflichtgefühl und mein Gerechtigkeitssinn mich annähernd denselben Weg einschlagen lassen, den ich gegangen bin. Aber gut war es doch, daß mein Vater jenen Grund legte. Denn je näher ich das nationalorthodoxe Judentum kennen lernte, desto mehr fühlte ich mich durch seine Auswüchse im tiefsten Herzen verwundet und fremdartig berührt. Auch entging mir zwar das Poetische an vielen seiner Formen nicht, aber ihren Zauber können sie doch nur auf einen voll üben, dem sie zugleich ein Stück Kindheitserinnerung bedeuten. Dies war bei mir nicht der Fall.

Es war ganz ausgeschlossen, daß ich, meines Vaters Sohn und frühzeitig auch durch das Leben zum vollen Pflichtgefühl erzogen, jemals daran denken konnte, meinen Glauben zu wechseln. Aber ebensowenig dachte ich daran, daß das Judentum in meinem Leben eine bestimmende Rolle spielen, daß ich jemals innerhalb der engeren Genossenschaft meiner Glaubensbrüder bestimmte Ideen zur Anschauung bringen sollte. Ich wollte Jude bleiben, auch hier meine Pflicht tun, das war alles. Und vollends fiel mir damals nicht bei, daß in mir ein Erzähler, ein Kulturschilderer des Ghettolebens stecken könnte. Mir schwebte ein anderes Ziel vor Augen, ich wollte klassische Philologie studieren und Professor werden.

Das Ziel schien gar nicht zu verfehlen; ich war fleißig, hatte Neigung für das Fach, hatte schon als Schüler eine Arbeit geleistet, welche die Aufmerksamkeit auf mich lenkte: eine Übersetzung der lateinischen Eklogen des Vergil ins Griechische, in die Sprache Theokrits (den dorischen Dialekt). Freilich war ich sehr arm, aber die Regierung gab mir ja gewiß ein Stipendium. Auch der Landeschef der Bukowina, ein wohlwollender Mann, war dieser Ansicht und unterstützte mein Gesuch auf das wärmste.

Die Entscheidung ließ lange auf sich warten. Endlich wurde ich eines Tages zum Landeschef berufen. Der gute Mann war in sichtlicher Verlegenheit.

»Ihre Eignung steht außer Zweifel, aber –«

Der Gedankenstrich bedeutete das Taufbecken. Einem Juden wurde das Stipendium nicht gegeben, es hatte auch keinen rechten Sinn, denn ich wollte ja eine Universitätsprofessur erreichen, und die war ja dem Juden unmöglich. Es war im Sommer 1867, vor der liberalen Ära.

Mit meiner religiösen Überzeugung Handel treiben, das ging natürlich nicht. Auf das Stipendium mußte ich also verzichten. Und damit auch auf die klassische Philologie. Ein armer Junge wie ich, der Mutter und Schwestern zu versorgen hatte, durfte keinen Beruf wählen, der keine Aussicht auf Versorgung bot.

Ich beschloß also, Jura zu studieren, und tat's.

Das schreibt sich leicht hin, aber wieviel Schmerz, wieviel schlaflose Nächte zwischen jeder dieser Zeilen stehen, weiß nur, wer selbst in ähnlicher Lage war. Indes – dies Selbstverständliche würde ich nicht erwähnen, wenn es nicht zur Sache gehörte. Mein Judentum hatte mir bisher weder Vorteil, noch Schaden gebracht. Nun brachte es mir Schaden, den schwersten, den ein Mensch erleiden kann, legte mir ein furchtbares Opfer auf: den Verzicht auf den Beruf, für den ich mich selbst bestimmt, von dem damals ich und andere meinten, daß er am besten für mich tauge.

Derlei wirkt auf den Menschen verschieden, je nach seiner Anlage. Der eine kann das Opfer nicht bringen, ihm scheint der Glaubenswechsel das leichtere Opfer. Der andere verzichtet zwar, beginnt aber innerlich sein Judentum als ein Unglück zu empfinden und zu – hassen. Den dritten aber beginnt sein Glaube eben deshalb näher anzugehen, wärmer zu interessieren, weil er ihm ein solches Opfer hat bringen müssen.

Dies Letzte war bei mir der Fall. Ich wurde kein Frommer im Lande, aber mein Interesse für das Judentum, das Gefühl meiner Zusammengehörigkeit mit den armen Kaftanjuden in der Czernowitzer »Wassergasse« wurde ungleich stärker als bisher.

Es ging mit der Juristerei besser, als ich gedacht; ich begann, mich mit dem Studium zu befreunden. Da kam mir um meines Judentums willen ein neuer, großer Schmerz.

Eine Liebesgeschichte. Ich war kaum 21 Jahre alt. Aber es traf mich doch recht hart, als mir das Mädchen sagte: »Mir bricht das Herz, aber Sie sind ein Jude...«

Das Herz brach ihr übrigens nicht. Aber auch mir nicht. Weh freilich tat es mir, recht weh. Und in dieser Stimmung schrieb ich meine erste Novelle, »Das Christusbild«, das die Liebe eines Juden und einer Christin schildert, und wie das Vorurteil des Weibes stärker ist als seine Liebe. Freilich bereut sie, aber die Reue kommt zu spät.

Ich schrieb die Geschichte binnen drei Tagen, im halben Fieber. Unwillkürlich, ohne nachzusinnen, verlegte ich den Schauplatz in mein heimatliches Czortkow und ließ auch sonst Jugenderinnerungen hineinspielen.

An den Druck dachte ich nicht. Ein Zufall bestimmte mich, das Manuskript ein halbes Jahr später an die damals verbreitetste deutsche Revue zu senden, die »Westermannschen Monatshefte«. Die Redaktion nahm es sofort an und verlangte eine neue Arbeit aus »diesem interessanten Stoffkreise«.

Ich war darüber ebenso erfreut wie erstaunt; daß der Stoffkreis »interessant« sei, daran hatte ich nicht gedacht. Aber ebensowenig daran, dieser ersten Novelle eine weitere folgen zu lassen. Ich wollte ja Jurist werden.

Nun fing ich aber doch an, über den »interessanten Stoffkreis« zu grübeln. Die Gestalten der Heimat wurden mir lebendig. Ich hatte sie einst, als sie leibhaftig vor mir gestanden, sehr nüchternen Blutes angesehen. Nun aber verklärte sie ein Zauber, der Zauber der Ferne. Ich studierte an der Universität Graz, war der einzige Jude an der Hochschule, ja in der Stadt, sah das ganze Jahr lang keinen Juden. Und während ich so grübelte, war eine zweite Novelle fertig: »Der Shylock von Barnow«.

Nun folgte eine lange Pause. Ich geriet, weil ich während des deutsch-französischen Krieges in einer Kommersrede meiner Sympathie für die Deutschen kräftigeren Ausdruck gab, als der neutralen österreichischen Regierung recht schien, in einen politischen Prozeß, dann nahm mich der Abschluß meiner Studien in Anspruch. Als ich fertig war, da fühlte ich, daß ich zum Advokaten nicht taugte, nur der Richterberuf zog mich an.

Aber ich war ein Jude –

Man errät leicht, daß auch dieser Gedankenstrich ein Taufbecken bedeutet. Aber wenn ich schon als Jüngling nicht geschwankt, so noch weniger als Mann.

Aber leben mußte ich ja, und so wurde ich Journalist, schrieb politische Artikel und schnitt mit der Schere die schönsten »Vermischten Notizen« zusammen.

In meinen Freistunden aber schrieb ich Novellen. Bald solche aus dem jüdischen Leben, bald solche aus dem deutschen Leben Es war derselbe Drang, der mich zu beiden führte: ein künstlerischer Drang. Ich wollte darstellen, was ich empfand, dachte, erfand. Aber nicht ins Blaue hinein. Ich konnte nur ein Leben schildern, das ich gesehen. Und so spielen meine ersten Novellen entweder in Graz oder in Czortkow, dem »Barnow« meiner Novellen.

Es ist nicht meines Amtes, darüber zu sprechen, was meinen Büchern zu ihrem Erfolg verholfen hat. Nur eins darf ich darüber bemerken, ohne den guten Geschmack zu verletzen: es waren Bücher, die nicht bloß den Juden, sondern auch den Christen aller Länder gleich verständlich waren.

Nun aber glaubte ich, meiner eigenen künstlerischen Entwicklung etwas anderes, etwas Neues schuldig zu sein: einen Roman aus dem östlichen Ghetto.

Dieser Roman liegt hier vor. Der Plan dazu ist sehr alt, über zwanzig Jahre. Aber ich zögerte immer wieder, ihn auszuführen. Ich fühlte mich aus verschiedenen Gründen noch nicht reif dazu. Endlich glaubte ich, nicht länger zögern zu sollen.

Warum ich so lange zögerte?

Erstlich deshalb, weil es sich eben um einen Roman handelt, während ich bisher aus diesem Stoffkreis nur Novellen geschrieben. Das ist aber nicht bloß bezüglich des äußeren Umfanges, sondern auch bezüglich des inneren Wesens der Arbeit ein Unterschied. Die Novelle schildert einen eng begrenzten, und zwar nicht bloß durch den Raum, sondern auch durch das Problem begrenzten Ausschnitt aus einem bestimmten Leben; der Roman aber soll, sofern er diesen Namen verdient, ein Spiegelbild dieses gesamten bestimmten Lebens sein. Wer einen Ausschnitt schildert, braucht nur diesen zu kennen, zu einem Gesamtbild gehört Beherrschung des gesamten zu schildernden Lebens in seinen sämtlichen oder doch wichtigsten Beziehungen. Ich zögerte, bis ich mir sagen konnte, daß ich genug vom äußeren und inneren Leben des Judentums wußte, um an dieses Werk schreiten zu können. Oder mit einem Worte: ich wollte die jüdische Volksseele tiefer als bisher ergründen lernen.

Das also ist der erste Unterschied dieser Arbeit von meinen bisherigen. Ein zweiter betrifft die Tonart dieses Werkes.

Ich möchte mich als Künstler nicht selbst analysieren. Das ist Sache der Kritiker, die ja auch ihre Arbeit eifrig genug verrichten und noch ferner tun werden, einige vivisezieren mich sogar. Ich will daher nicht eingehend erörtern, daß und warum die Tonart meiner früheren Schriften sich zwischen Tragik und Komik bewegte. Dieser Roman schlägt eine andere Tonart an: die humoristische. Warum erst dieses Werk? Nun, vielleicht muß man älter geworden sein, mehr erfahren und mehr gelitten haben, um das »Lächeln unter Tränen« zu erlernen... Aber auch nach anderer Richtung, nicht bloß der subjektiven meiner Darstellung, sondern auch der objektiven des Inhaltes, darf ich diesen Roman einen humoristischen nennen. Er sucht dem Leser die Fülle jenes eigentümlichen Witzes und Humors nahe zu bringen, der im Ghetto des Ostens zu finden ist, und darf darum keine der Formen vermeiden, in denen sich dieser Witz bewegt, also auch in Formen des Wortspiels nicht.

Und nun ein dritter, vielleicht der größte Unterschied: die Tendenz.

Ich glaube, auch in meinen ersten Schriften meine Pflicht gegen meine Stammesgenossen erfüllt, nicht gegen, sondern für sie, nicht zu ihrem Schaden, sondern zu ihrem Heil gewirkt zu haben. In dieser Zuversicht haben mich auch meine chassidischen Schmäher und Angreifer nicht wankend gemacht. Als ich zuerst das Wort ergriff, da gab mir ein Jude dieser Richtung, ein Mann namens Dr. Lippe in Jassy, den Rat, mich baldigst taufen zu lassen, denn das Judentum hätte für einen Mann meiner Gesinnungen keinen Platz. In milderer Form ist dasselbe oft genug von jüdischer Seite über mich geäußert worden. Ich habe es lächelnd ertragen, weil ich mir sagte: »Dies ist der beste Beweis, daß du deine Pflicht getan hast. Wärest du so töricht, so ungerecht, so feig gewesen, deine Waffen nur gegen die äußeren Feinde des Judentums zu kehren und nicht gegen die inneren Gegner einer gesunden Entwicklung, so wären diese Herren mit dir zufrieden gewesen, aber sonst niemand anders und am wenigsten dein eigenes Gewissen.« Und auf diesem Standpunkt blieb ich stehen.

Freilich, ein Gesamtbild läßt sich dem Leser ungleich schwerer verständlich machen als ein Ausschnitt. Aber ich habe mich bemüht, meinen Roman so zu schreiben, daß er von jedem Leser, gleichviel welchen Bekenntnisses, auch wenn er nie einen Juden des Ostens selbst gesehen hat, verstanden werden kann.

Berlin, 15. Juli 1893

Karl Emil Franzos

 

 

Karl Emil Franzos ist am 28. Januar 1904 aus dem Leben geschieden, ohne den »Pojaz« veröffentlicht zu haben. Was ihn bewogen hat, dieses Werk – wohl sein bestes und reifstes – mit dem er sich durch Jahrzehnte beschäftigt und das er im Jahre 1893, im Alter von 45 Jahren, auf der Höhe seiner Schaffenskraft vollendet hat, so lange zurückzuhalten, soll hier nicht erörtert werden. Nur so viel sei gesagt, zweierlei hatte kein Teil an dieser Zögerung: er hielt sein Werk keiner Änderung mehr bedürftig und hat auch tatsächlich seit dem Jahre 1893 nichts mehr hinzu und nichts hinweggetan, und er scheute nicht den Kampf mit den dunklen Mächten, die dies Buch vielleicht wieder gegen ihn aufgewühlt hätte. Denn bis zu seinem letzten Atemzuge blieb er ein Streiter für Recht und Licht.

Über sein Leben und seine Vorfahren hat Franzos in der »Geschichte des Erstlingswerkes« (1894), worin er autobiographische Aufsätze von neunzehn deutschen Schriftstellern über ihre dichterischen Anfänge vereinigt, in seinem Aufsatz: »Die Juden von Barnow« ausführliche, obiges Vorwort ergänzende Mitteilungen gemacht.

Wien, im Juli 1905

Ottilie Franzos


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