Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Dreiunddreißigstes Kapitel

In rechter Angst ging Sender ins Hotel zurück. Vom Torweg blickte ihm der hellrote Zettel entgegen – der war an allem schuldig! Aber im Vorbeigehen hielt er doch an und las. Das heutige Kunstwerk glich dem gestrigen, nur fehlte das Doppelspiel von Judenfeindschaft und -Freundschaft, dafür war eine Ansprache beigefügt, ungefähr dieselbe, welche die Schönau gestern gehalten, nur noch zweideutiger. »Dieser Mensch gibt sich doch zu allem her«, dachte Sender, halb mitleidvoll, halb verächtlich. Übrigens fand sich auf diesem Zettel auch eine Bemerkung, die nur den Christen galt: »Karten sind auch bei der Benefiziantin, im Hotel Gurkensalat, Zimmer Nr. 3, persönlich zu haben. Freundlicher Empfang!«

Als er in die Wirtsstube trat, das versäumte Frühstück nachzuholen, fand er Können am Tisch neben dem Fenster; er malte eben mit Pinsel und Schablone die Borszczower Zettel fertig. Mit demütiger Freundlichkeit begrüßte er Sender: »Die Notglocke hat ja aufgehört, ich hoffe, Sie können morgen reisen.«

Sender zuckte die Achseln. »Aber nach Borszczow gehe ich keinesfalls!«

Der kleine Mann atmete auf. »Da haben Sie recht«, sagte er fast freudig. »Ich war schon in rechter Sorge. Glauben Sie mir, Birk hat wahr gesprochen. Es wäre nur ein Schritt ins Elend hinein, aber auch der soll Ihnen erspart bleiben. Und dann, wer weiß, vielleicht käme ein zweiter und dritter nach.«

Er sprach so eifrig, daß Sender befremdet war. »Ich danke Ihnen«, sagte er und setzte sich an sein Frühstück.

»Nichts zu danken«, erwiderte Können eifrig. »Nichts«, wiederholte er nach einer Pause. »Ich muß es Ihnen sagen, es freut mich nicht bloß Ihretwegen.« Er war rot vor Verlegenheit. »Auch meinetwegen. Und daß ich es Ihnen gestehe, das soll die Strafe für meinen Wahnsinn sein. Also mich freut's auch deshalb, daß Sie nicht den Shylock bei dieser Truppe spielen, weil Stickler die Rolle mir immer versprochen hat. Und wenn nicht ich, dann auch kein anderer.«

Sender schwieg; was war auch darauf zu sagen?

Können erriet seine Gedanken. »Wahnsinn, sagen Sie. Sie haben mich ja gestern gesehen. Freilich spiel' ich nicht immer so erbärmlich, auch war ja das Unglück mit der Maske dabei. Ich habe sie mir sehr fein ausgedacht, aber sie ist mir mißlungen. Das kann auch dem größten Schauspieler passieren, nicht wahr?... Aber was lüge ich da?« unterbrach er sich heftig. »Immer spiele ich so schlecht, immer! Und dennoch dieser Wahnsinn, sagen Sie. Ja, dennoch, lieber Herr, dennoch!« Er seufzte tief auf.

»Wenn Sie es nur erkennen«, tröstete Sender. »Und mit der Maske haben Sie ja recht!«

»Auch darin nicht«, erwiderte das Männchen. »Wenn ich was könnte, würden mir die Leute sogar meine Nase verzeihen. Und dann, ich könnte doch vernünftig werden und einsehen, daß sich eine solche Nase nicht wegschminken läßt.« Er stöhnte fast. »Das ist ja nicht eine, das sind mehrere Nasen. Aber wissen Sie, was mich am meisten gekränkt hat? Daß mich die Leute ›Kohn‹ gerufen haben. Das wird Ihnen unbegreiflich sein. Wer eine solche Nase hat, dem kann's doch gleichgültig sein.« Wieder ein Stöhnen. »Der trägt ja gewissermaßen den Namen im Gesicht...«

»Auch ist es doch wahrhaftig keine Schande«, fiel Sender ein.

»Gewiß nicht. Und dennoch! Als Künstler halt' ich was auf meinen Künstlernamen... Als Künstler?« unterbrach er sich wieder. »Als Stümper... Und doch, und doch! Aber ich weiß, wer's mir eingetränkt hat. Der Hoheneichen. Hat er's Ihnen nicht auch gesagt, daß ich eigentlich Kohn heiße?«

»Ich erinnere mich nicht!« erwiderte Sender. »Wozu den Zwischenträger machen!« dachte er. »Aber daß Sie selbst es mir gesagt haben, weiß ich ganz genau.«

»Ihnen! Sie sind ein Kollege und obendrein auch Jude. Aber das Publikum braucht es nicht zu wissen, da bin ich Amadeus Können und will es bleiben! – Sie lächeln. Recht haben Sie. Und Hoheneichen hat recht, daß er mein Todfeind ist. Ich hab's Ihnen ja schon gestern gesagt: es ist meine fixe Idee, wieder den Franz Moor zu spielen. Diesmal wird's gehen, denke ich, und ich weiß doch, es wird nicht gehen. Die Leute werden lachen oder mir gar alles Mögliche an den Kopf werfen, wie mir auch schon oft geschehen ist. Aber ich lasse nicht nach, und wie ich vor mehreren Monaten wieder Geld von meinem Bruder bekomme – er schickt mir manchmal aus Erbarmen einige Gulden – bestech' ich den Direktor, daß er dem Hoheneichen die Rolle abnimmt. Der Stickler hat das Geld genommen und ihm die Rolle gelassen, es war beides vernünftig. Aber hat nun Hoheneichen nicht recht, mich zu hassen?«

»Was ist das für ein Mensch?« fragte Sender. »Er hat mir sehr mißfallen.«

Der Kleine nickte. »Jetzt ist er ein erbärmlicher Lump – in jeder Beziehung. Aber er ist es doch erst in diesem Jahr geworden. Früher, bei Nadler, hat er sich zwar auch nicht gern daran erinnern lassen, daß er Max Wuttke heißt und Barbiergehilfe aus Leipzig ist, aber das war menschlich. Auch streitsüchtig war er immer, aber sonst kein übler Mensch, ganz geschickt – er weiß doch für einen Barbier gut genug zu reden –, als Schauspieler nicht unbegabt. Die Lumperei hat eigentlich erst hier begonnen – hier ist alles Lug und Trug.«

»Das hab' ich schon an den Zetteln gemerkt«, sagte Sender offenherzig. »Wie können Sie, ein ehrlicher Mann, solche Zettel schreiben?«

Er erwartete irgend eine Erklärung oder Entschuldigung. Aber er irrte sich.

»Die Zettel?« fragte Können befremdet. »Was finden Sie daran? Die Zettel sind ausgezeichnet! Ich kann sagen: solche Zettel hat sonst keine Schmiere in Galizien. Ohne sie wären wir schon alle verhungert.

»Mag sein«, erwiderte Sender gereizt. »Aber es war doch häßlich, daß Sie zum Beispiel gestern auf einer Seite den Juden geschmeichelt und auf der anderen gegen sie gehetzt haben.« Und er berichtete die Äußerungen seiner Nachbarn zur Linken.

»Nun also! Und da reden Sie von hetzen?« Können lächelte schmerzlich. »Ist es erst nötig, die Christen herzuladen, gegen uns zu hetzen? Das tue ich übrigens auch nicht, ich mache ihnen bloß vor, daß das Stück gegen die Juden geht. Das muß sein, sonst gingen sie nicht hinein.«

»Und warum hat das Stück für Christen vier, für Juden neun Akte, warum hat Mosenthal für Christen siebzehn, für Juden hundertsiebzig Orden, warum liegt für die Christen das Dorf in Steiermark, und den Juden wird vorgemacht, daß sie es vielleicht kennen?«

»Und das fragen Sie?!« rief Können. »Weil der Jude neugieriger ist, mehr für sein Geld haben will und stärkere Farben liebt.«

Sender zuckte die Achseln.

»Übrigens ist da noch manches, was ich trotzdem nicht verstehe. Warum geben Sie den männlichen Statisten und Doppelrollen für die Juden jüdische, für die Christen christliche Namen, während die Frauen auf beiden Seiten christliche Namen tragen?«

»Das ist eine sehr feine Sache, die ich erfunden habe«, sagte Können stolz. »Der Jude ist neugierig, wiederhole ich, da wähle ich also Namen, die in dem Städtchen stark vertreten sind. Kohn, Levy, Hirsch, Silberstein. Nun sagen sich freilich alle, daß der hiesige Vorsteher Silberstein nicht plötzlich bei uns als Ruben auftreten wird, aber – sie wollen doch sehen, was dahinter steckt. Hingegen würde niemand glauben, daß eine ehrbare jüdische Frau auf der Bühne mittut... Eine feine Sache, lieber Herr, und sie zieht sehr!«

Sender erwiderte nicht mehr.

Dieses Doppelspiel von Verstellung und Selbsterkenntnis, von ungestümer Ehrlichkeit und überspitzter Schlauheit berührte ihn sonderbar. Schweigend las er den Borszczower Zettel. Der Vermerk über die Direktion war derselbe wie hier. Und es ärgerte ihn dermaßen, daß er nicht schweigen konnte.

»Herr Können«, sagte er, »Sie sprachen von Nadler gut und dankbar, warum stehlen Sie ihm dennoch den Namen. Und auf der jüdischen Seite steht sogar: ›Direktor Nadler, jetzt heißt er Stickler.‹ Die Leute sollen glauben, daß Nadler seinen Namen gewechselt hat!«

»Daran bin ich unschuldig«, beteuerte der Kleine, »das schreibt Stickler vor, und für die Juden ganz besonders, weil Nadler unter ihnen einen großen Namen hat. Und ich esse ja Sticklers Brot.«

»Es hat aber alles seine Grenzen. Auch die Unanständigkeiten der heutigen Ansprache hätten Sie nicht schreiben sollen und wenn er's Ihnen zehnmal befiehlt.«

»Das hat sie verlangt«, murmelte Können.

»Die Schönau?«

Der Kleine nickte, sein Antlitz flammte, er beugte sich tief auf das Blatt nieder. »Und was sie verlangt, muß ich tun... Wenn sie sagen würde: ›Können, spring' in den Dniester‹ – ich tät's auch... Und das« – er atmete mühsam – »das täte mir lange nicht so weh, wie solche Ansprachen in ihrem Namen zu schreiben...«

»Mensch«, rief Sender erschüttert, »was reden Sie da?« Nun verstand er, womit Stickler den Kleinen geködert. »Sie lieben dieses Geschöpf?«

Können erwiderte nichts. Sein Atem ging immer rascher, ein Schluchzen brach aus seiner Brust, und nun fiel ein großer Tropfen auf das Blatt nieder und verwischte die Tusche.

»Verzeihen Sie«, murmelte er. »Es hat mich so übermannt... Ich habe schon lange mit niemandem darüber gesprochen, der es gut mit mir meint... Hier wissen es ja alle, aber sie höhnen mich nur... Und sie haben ja recht...«

Er wandte sich ab und trat in eine Ecke. An den Bewegungen der Gestalt erkannte Sender, daß der Unglückliche noch immer mit Tränen kämpfte. Er hätte ihm gern ein Wort des Mitleids gesagt, aber das war doch eine gar zu häßliche und unbegreifliche Sache.

Endlich hatte sich der Kleine gefaßt.

»Ich weiß, was Sie denken«, sagte er. »›Seine Schauspielerei ist ein Wahnsinn, aber eine solche Person zu lieben, mit dem Herzen zu lieben, ist eine Gemeinheit.‹ Und doch – auch davon komme ich nie los. Einst hat mir der gute Herr Nadler gesagt: ›Mein Trost ist nur, ein Fieber dauert nicht lange.‹ Aber das war vor drei Jahren...«

»So lange schon?«

»Ja. Damals hat's angefangen. Im Frühjahr 1850 – wir waren in Laibach – da ist sie mit Birk zu uns gekommen, der war damals ihr Geliebter, aber auch nicht ihr erster. Überhaupt glaube ich nicht, daß der unglückliche Mensch viele auf dem Gewissen hat. Dazu war er immer zu nobel und zu gutmütig; er hat sich von den Weibern ruinieren und ausbeuten lassen, nicht umgekehrt. Sie sehen es ihm wohl nicht an, daß er einer der gefeiertsten deutschen Schauspieler war und einer der schönsten Männer dazu – und es ist doch nicht gar zu lange her. Vor fünfzehn Jahren war er noch erster Liebhaber am Wiener Burgtheater, er ist ja noch gar nicht alt, kaum fünfundvierzig. Aber die Weiber, lieber Herr, die Weiber! Er hat ihnen alles geopfert, seine Stellung, seine Gesundheit, sein Talent. Ein Wüstling, sagen Sie, es geschieht ihm recht. Natürlich, aber jammerschade ist's doch! Wenn ich so denke, was er selbst noch vor drei Jahren gekonnt hat in Laibach! Seinetwegen hat Nadler damals auch die Schönau engagiert, sie war eine blutige Anfängerin. Elise Schütz heißt sie und ist die Tochter eines Troppauer Beamten; in ihrem siebzehnten Jahre ist sie von einem Offizier verführt worden, dann immer tiefer gesunken. Endlich hat sie Birk bei einem Gastspiel dort kennen gelernt und mitgenommen. Wie schön sie damals war, ist gar nicht zu sagen. Die Weiber waren mir bis dahin gleichgültig, in sie habe ich mich auf den ersten Blick bis zur Tollheit verliebt. Natürlich hat sie mich ausgelacht; trotzdem und obwohl ich bald bemerkt habe, daß sie auch ihren Geliebten betrügt, hat meine Liebe nur zugenommen. Das hat so zwei Jahre gedauert – ihr Talent hat sich entwickelt, aber auch ihre Verderbtheit immer mehr – Herr, was ich gelitten habe, ist nicht zu sagen. Endlich sagt mir Nadler: ›Sie werden nicht vernünftig, so lang Sie beim Theater sind –‹ und alles andere dazu. Aber da hat mich der Stickler überredet: ›Komm' mit‹ – das war das einzige Mal, wo er ›du‹ zu mir gesagt hat, der Lump – ›da bist du täglich mit ihr zusammen, da hast du keine Rivalen.‹ Und die Folge? Noch ein Jahr Folter... O Herr, lieber Herr, so viel kann noch kein Mensch gelitten haben!«

Sender war tief erschüttert; ein so wildes Weh, wie aus diesen Worten sprach, war ihm im Leben noch nie begegnet.

»Das muß anders werden«, sagte er. »Ich will mit Nadler sprechen, vielleicht engagiert er Sie wieder. Dann hätten Sie wenigstens den Trost, beim Theater zu bleiben.«

Können faßte seine Hand. »Ich danke Ihnen«, sagte er. »Sie sind ein guter Mensch. Und Nadler täte es vielleicht aus Barmherzigkeit wirklich... Aber jetzt ist's zu spät...«

»Jetzt?«

Können wankte. Sein Gesicht war totenbleich geworden, er ballte die Fäuste, daß die Nägel schmerzhaft ins Fleisch drangen. Und so, mit gesenkten Augen, stieß er fast unverständlich hervor: »All die Jahre hab' ich gedacht: ›Wenn du sie einmal – nur einmal – in deinen Armen hältst – dann weicht dein Wahnsinn von dir –‹ Und vor einigen Wochen – wir waren in Kolomea – mein Bruder hat mir – gerade Geld geschickt –«

Er brach zusammen und schlug die Hände vors Gesicht.

»Jetzt nicht mehr!« stöhnte er. »Jetzt könnte ich – einen Mord begehen, um wieder Geld zu bekommen...«

»Entsetzlich!« murmelte Sender und wandte sich ab. Er fand kein Wort mehr, auch Können schwieg.

Da ging die Tür.

Es war Hoheneichen. Mit ausgebreiteten Armen kam er auf Sender zu. »Servus, Bruderherz, der Eisstoß kommt uns zu Hilfe. Nun mußt du nach Borszczow. Ich sage dir...«

Aber Sender war nicht in der Stimmung, sein Geschwätz zu ertragen. Er eilte auf seine Kammer. Als er an Nummer drei vorbeiging, trat eben die Schönau hervor, in demselben hellen Seidenkleid wie gestern abend.

»Guten Morgen, Junge!« Sie tätschelte ihm die Wange. »Hast du schon eine Karte? Wart', dir schenk' ich eine.«

Sie ging in ihr Zimmer zurück. Er aber, als müßte er einer Gefahr entfliehen, lief nach seiner Kammer und riegelte sich dort ein.

Zur Mittagsstunde mußte er doch wieder hinunter. Doch ließ er sich das Essen ins Extrazimmer bringen und schärfte Ruben ein, den Schauspielern nichts davon zu sagen.

Sie wußten ihn dennoch zu finden. Kaum, daß er den letzten Bissen hinuntergewürgt, trat der Direktor ein, hinter ihm die Schönau.

»Da haben wir den Ausreißer«, rief Stickler. »Aber Sie entrinnen uns nicht!«

Und sie schmollte: »Grobian! Mir so davonlaufen! Das bin ich sonst nicht gewöhnt! Schein' ich dir so häßlich?«

Sender stammelte verlegen, er habe nicht stören wollen. »Und nach Borszczow kann ich keinesfalls mit«, fügte er fest hinzu.

»Larifari«, rief die Schönau. »Was ich will, setz' ich durch.«

Stickler aber bat: »Ums Himmelswillen, warum nicht? Sie können ohnehin frühestens am Mittwoch über den Dniester. Ob Sie die drei Tage hier oder in Borszczow zubringen, kann Ihnen und Ihrem Direktor doch gleichgültig sein. Und bei uns können Sie spielen, Geld verdienen, den Beifall eines dankbaren Publikums ernten.«

»Es geht doch nicht«, erwiderte Sender. »Und ich habe es Ihnen schon gestern gesagt«, fügte er bei, »wer weiß, ob ich's kann.«

»Schön«, sagte Stickler. »Dann sprechen Sie uns die Rolle vor. Tildchen, schick' die anderen nach oben und Können mag das Buch holen.«

Er faßte Sender unter den Arm und zerrte ihn auf den Flur. Sender schwankte, ob er sich mit Gewalt losreißen oder nachgeben sollte. Er hatte sich eben für das erstere entschieden, als Birk hinzutrat. Er sah noch immer gebrechlich genug aus, aber doch frischer als am Abend.

»Tun Sie's«, sagte er. »Die Probe schadet Ihnen nicht. Ich habe die größten Darsteller dieser Rolle gesehen, einst Ludwig Devrient, zuletzt Dawison. Vielleicht kann Ihnen ein Hinweis von mir nutzen... Nadler hat mir wiederholt von Ihnen gesprochen, Sie interessieren mich.«

Darauf gab Sender nach. Sie traten in den Saal. Unten nahmen die Schauspieler Platz, auf der Bühne stellte sich Stickler, das Buch in der Hand, neben Sender hin, die anderen Rollen zu markieren. Das Herz des jungen Mannes klopfte, daß er kaum zu atmen vermochte; er konnte ja die Rolle auswendig, wie sein Morgengebet, auch hatte ihn Pater Marian hier seiner Auffassung wegen besonders belobt, dennoch war ihm zu Mute, als könnte er kein Wort über die Lippen bringen.

Aber es ging. »Dreitausend Dukaten – gut –« Diese ersten Worte murmelte er noch fast unverständlich. Dann aber festigte sich seine Stimme. Er nahm die Sprechweise an, wie er sie in der Klosterzelle einstudiert, dann auch die Haltung. Es ging immer besser und er fühlte es, er machte seine Sache gut. Die unten steckten die Köpfe zusammen und flüsterten; er wußte, es konnte kein Hohn sein. Stickler schien freudig überrascht, und als Sender die große Rede sprach:

»Signor Antonio, viel und oftermals
Habt Ihr auf dem Rialto mich geschmäht –«

machte er immer größere Augen. »Alle Wetter!« rief er, nachdem Sender geschlossen, und gab fast erregt das nächste Stichwort.

Als die Szene zu Ende war, faßte er Senders Hand: »Mensch, wo haben Sie das her?«

Die anderen applaudierten, nur Können und Birk nicht. Der Kleine saß mit gesenktem Haupte da, Birk fast aufrecht, seine Augen glänzten, aber er sagte nichts.

Noch größer war der Eindruck der folgenden Szenen. Immer stärker fühlte Sender seine Kraft erwachen, immer leichter flossen ihm die Worte von den Lippen. Und als er jene Rede begann, die ihm Marians höchstes Lob eingetragen: »Fisch mit zu ködern: sättigt es sonst niemanden, so sättigt es doch meine Rache...« – da vergaß er, wer und wo er war, er fühlte sich als der Jude Shylock auf dem Rialto zu Venedig.

Aber gerade beim Schluß dieser Rede: »Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die will ich ausüben –« wäre er fast gescheitert. Das Wort stockte ihm in der Kehle, das Blut drängte zum Herzen – mit bleichem Gesicht und erschreckten Augen starrte er ins Parterre. Sein Blick war zufällig dahin geglitten – und da saß Malke. Nicht die Schönau, sondern das Mädchen, das er so schmerzlich geliebt. Wie die junge Schauspielerin nun dasaß, das Antlitz ernst, voll gespannter Teilnahme, die Augen sinnend auf ihn gerichtet – das war keine Ähnlichkeit, das war Malke selbst... Mit Mühe riß er den Blick los und hütete sich wohl, wieder nach ihr zu blicken... Erst in der Gerichtsszene fand er die frühere Sicherheit wieder.

»Mensch!« rief Stickler, nachdem er geschlossen. »Sie sind ja ein Hauptkerl... Und Sie trauen sich nicht, den Shylock in Borszczow zu spielen?... Unter tausend Anfängern findet man einen wie Sie.«

Auch die anderen umringten und beglückwünschten ihn. Am lautesten und wortreichsten Hoheneichen; er wollte Sender umarmen, da trat die Schönau dazwischen.

»Halt's Maul«, befahl sie ihrem »Bräutigam«. »Schieb' ab! Der braucht dein Lob nicht.« Ihr Gesicht wies einen ungewohnten, ernsten, ja herben Zug. »Und mein's auch nicht.«

Sie wandte sich ab und ging. Verdutzt schaute ihr Sender nach und sah sich dann nach Können um. Das Männchen saß noch immer unbeweglich auf seinem Platze, das Haupt tief geneigt.

»Ich lasse Sie nicht!« rief Stickler. »Einmal will ich auf meiner Bühne einen solchen Kerl haben. Sie haben ja fast nichts mehr zu lernen.«

Da trat Birk heran.

»Im Gegenteil«, sagte er scharf. »Technisch hat er noch sehr viel zu lernen, fast alles. Aber was liegt daran?... Sie können's! Wenn aus Ihnen kein Ganzer und Großer wird, die Natur kann nichts dafür. – Merken Sie sich das, ich hoffe, daß Sie einst Ihren Kollegen im Burgtheater erzählen können: ›Das hat mir der Birk gesagt, einige Wochen, eh' ihn der Tod erlöst...‹«

Er nickte und schlich wankend hinweg.

»Fünf Gulden, Kurländer«, drängte Stickler. »Freie Reise, freie Station für den einen Abend.«

Aber Sender riß sich los und eilte in seine Kammer. Dort saß er wohl zwei Stunden auf dem Bette, mit klopfendem Herzen, glühenden Wangen, das Hirn voll stolzer Träume und Gedanken. Er hat dieser Stunde nie vergessen.


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