Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel

Minder langwierig gestalteten sich die anderen Verhandlungen, die Frau Rosel in ihrer Herzensangst um Senders Schicksal zu führen hatte.

Wer sich nicht rechtzeitig mit Luiser Wonnenblum abgefunden, – und dazu waren die wenigsten vorsorglich genug, da ja die Fälschung der Matrikeln schon bei der Geburt des Knaben stattfinden mußte, – hatte nur zwei Wege: er wandte sich an einen Agenten, der die Mitglieder der Kommission bestach, oder an einen »Fehlermacher«, gewöhnlich einen Bader oder Wundarzt, der den jungen Menschen so übel zurichtete, daß er als untauglich befunden werden mußte. Beide Gewerbe wurden von Christen und Juden betrieben, ebenso waren unter den Klienten beide Bekenntnisse gleichmäßig vertreten. Da das »Fehlermachen« billiger zu stehen kam, so schlugen die minder bemittelten Leute in der Regel diesen Weg ein.

Frau Rosel hatte kaum das tägliche Brot, dennoch graute ihr vor diesem Mittel. Sie versuchte es zunächst bei Herrn v. Wolczynski, dem vornehmsten Bestechungsagenten im Barnower Kreise, der einst zwei Güter besessen hatte, aber langsam durch Verschwendung und Hazardspiel zu diesem Geschäft hinabgesunken war, das freilich seinen Mann trefflich nährte, sofern er es nur recht verstand. Ein richtiger Agent mußte den Charakter und die Verhältnisse aller Mitglieder der Kommission aufs genaueste kennen, um die Schwächen herauszufinden, durch deren Ausnützung er jeden dieser Offiziere, Ärzte und Beamten zu seinem Werkzeug oder doch zum untätigen Zuschauer seines Treibens herabwürdigen konnte. Und ebenso mußte er eine große Personenkenntnis im Kreise haben, denn von dem Aussehen des Jünglings, dem Vermögen seiner Eltern hing ja die Höhe des Preises ab. Endlich aber hatte er die schwere Kunst zu üben, all seine Schuftigkeit unter der Maske eines Ehrenmanns zu verbergen.

Herr v. Wolczynski verstand sich auf all dies und auf eine vierte Kunst dazu: niemals mit sich handeln zu lassen. Eine große Kunst in einem Lande, wo um alles gehandelt wird. Er ließ Frau Rosel ruhig reden, so lang sie wollte, und überlegte: »Sie ist arm, hat aber eine Affenliebe für den Schlingel, er ist blaß, mager, aber gesund –« Laut jedoch sagte er nur: »Dreihundert Gulden!«

Sie jammerte, das könne sie nicht erschwingen.

»Feste Preise!« war seine Antwort. »Adieu, liebe Frau!«

Länger währten die Verhandlungen mit Dovidl Morgenstern. Der Mann war seines Zeichens Winkelschreiber. Er hatte in seiner Jugend einige Jahre in Lemberg zugebracht, dort Deutsch lesen und schreiben gelernt und sich dann mit Hilfe des Bürgerlichen Gesetzbuchs und des Strafgesetzes zu einem »feinen Kopf« ausgebildet. Für die Juden von Barnow war er neben Luiser das Orakel in allen Rechtsfragen. Da dieser Erwerb nicht hinreichte, so machte er Herrn v. Wolczynski Konkurrenz. Sein Geschäft war kleiner als das des Edelmanns, er verdiente weniger dabei und war ein Jude. Darum galt er ebenso allgemein als Schurke wie Wolczynski als Ehrenmann. Dovidl ließ mit sich handeln, er verlangte, als Frau Rosel zu ihm kam, fünfhundert Gulden, und kam dann zu ihr, er wolle es um zweihundert richten. Aber auch diesen Betrag konnte sie nicht aufbringen, selbst wenn sie ihren einzigen Schmuck opfern wollte, die perlenbesetzte Stirnbinde.

Am nächsten Tage sandte der Wundarzt Grundmayer zu ihr, sie möge ihn besuchen. Er war ein alter Säufer, einst als Feldscher einer Husareneskadron nach Barnow gekommen und nach seiner Entlassung aus dem Dienst hier sitzen geblieben.

»Hoho!« gröhlte er sie an, als sie bei ihm eintrat, »haben Sie's so dick, daß sie dem Dovidl lieber zweihundert Gulden geben wollen, als mir dreißig. Um dreißig Gulden schneid' ich Ihrem Bengel eine Fußsehne entzwei, daß er zeitlebens hinkt, oder hau' ihm zwei Finger ab, wenn Ihnen das lieber ist!«

Die Frau starrte ihn entsetzt an.

»Noch immer besser, als dienen!« rief er. »Und um dreißig Gulden können Sie nicht mehr verlangen. Wollen Sie sich's aber mehr kosten lassen, so machen wir was Feines, was sich wieder wegkurieren läßt. Je nachdem der Bursch ist – schicken Sie ihn mir! Vielleicht ein chronisches Magenleiden – sehr zu empfehlen! Oder eine Lungenschwindsucht – ist noch feiner, von der echten nicht zu unterscheiden. In sechs Monaten mach' ich ihn dann wieder gesund – auf Ehre, so wahr ich Doktor Franz Xaver Grundmayer heiße und ein katholischer Christ bin. Kostet samt der Kur hundert Gulden!«

Mit Mühe vermochte sich Frau Rosel diesen lockenden Anerbietungen gegenüber so weit zu fassen, um ihren Dank und das Versprechen, sich die Sache zu überlegen, stammeln zu können.

»Ist nichts zu überlegen«, grollte der würdige Mann. »Wollen wahrscheinlich lieber den Lumpen, den Srul in Nahrung setzen! Das verdammte Judenvolk hängt doch zusammen wie die Kletten! Glauben vielleicht, er macht's billiger?! O ja – der Kerl macht vielleicht schon um vierzig Gulden eine Schwindsucht! Ist aber auch darnach! Entweder auf zehn Schritt zu erkennen, daß der Lümmel doch genommen wird, oder so dauerhaft, daß sie kein Herrgott wieder fortbringt. Ich warne Sie!«

Frau Rosel beteuerte, sie wolle mit dem Srul nichts zu schaffen haben. Aber ebenso fest stand ihr Entschluß, auch auf die Hilfe des »Doktor« Grundmayer zu verzichten. Wohl aber tauchte ein anderer Gedanke in ihr auf: wie, wenn sie Sender auf ehrlichem Wege freibrächte! Der Stadtarzt von Barnow, der als Physikus des Kreises allen Rekrutierungen in seinem Sprengel beizuwohnen hatte, war freilich ein unbestechlicher, aber wohlwollender und einsichtiger Mann; Sender hustete ja und war auch sonst nicht der Stärkste; vielleicht nützte es, wenn sie diesen Mann um Schonung bat, er tat dann gewiß, was ihm sein Pflichtgefühl gestattete. Auch der Marschallik bestärkte sie in diesem Vorsatz, schon wollte sie ihn ausführen, da erfuhr sie, daß der Physikus diesmal den Rekrutierungen gar nicht beiwohnen werde; er sei gerade für dieselbe Zeit nach Lemberg berufen. So war es auch; um ihn und andere Männer von derselben Denkweise unschädlich zu machen, hatten die vielen Wolczynskis in Galizien durch ihre hochmögenden Gönner durchgesetzt, daß die Regierung gerade im April eine Enquête nach Lemberg berief, um »über die im Rekrutierungswesen zu Tage getretenen Mißstände zu beraten«; damit waren die ehrlichen Männer auf die einfachste und unverfänglichste Weise beseitigt!

Obgleich auch diese Hoffnung vereitelt war, blieb Frau Rosel doch fest. »Ich kann's nicht tun«, erklärte sie ihrem Gewissensrat, dem Rabbi. »Andere mögen den ›Fehlermacher‹ mieten – ich will sie nicht schelten. Und vielleicht tät' ich's auch, wenn ich meinem Sender sein Fleisch und Blut gegeben hätt'. Aber es ist anvertrautes Gut! Was soll ich der armen Miriam antworten, wenn ich ihr droben begegne?!«

Der Greis nickte ernsthaft.

»Recht habt Ihr!« sagte er. »Sie wird Euch ja ohnehin Vorwürfe machen – Euch und mir – des Kadisch wegen... Aber das ist nicht zu ändern!... Nein, über den Verwaisten darf keines ›Fehlermachers‹ Hand kommen. Aber wo nehmt Ihr die zweihundert Gulden her?«

»Das frag' ich Euch«, rief sie unter strömenden Tränen. »Ich bring's nicht zusammen, und wenn ich den letzten Stuhl aus dem Zimmer verkauf'.«

»Dann steht's schlimm«, sagte er gedrückt. »Dovidl läßt nichts mehr nach; bei anderen eine Sammlung machen, wär' vergeblich – Sender ist ja nicht hiesig! – mag Mendele Schnorrers Sohn ein ›Sellner‹ werden!«

Er dachte nach. »Da kann nur eines helfen: eine Heirat! Von der Mitgift erlegen wir das Geld!«

»Aber der Marschallik weiß nichts rechtes für ihn«, wandte sie schüchtern ein.

»So nehmt, was er hat. Hier steht eine Seel' auf dem Spiel!«

»Aber wenn er unglücklich wird?«

»Lieber unglücklich werden, als kein frommer Jud' mehr sein können!... Und dann – eine unglückliche Ehe läßt sich scheiden, aber wer rekrutiert wird, muß sieben Jahr' Sellner bleiben!« So lange währte damals die Dienstpflicht in Österreich.

»Und wenn Sender nicht will?«

»Schickt ihn zu mir – und er wird wollen!«

Die Zuversicht des frommen Mannes erhöhte auch ihren Mut, getrösteter kehrte sie heim. Aber diese Stimmung hielt nicht lange vor. Die Tage verstrichen, Reb Itzig ließ sich nicht blicken, und doch war es nun höchste Zeit. In vierzehn Tagen schon sollte die Losung stattfinden, die Versammlung aller Stellungspflichtigen im Gemeindehause, bei der jeder aus einem Säckchen die Nummer zog, welche die Reihenfolge seines Erscheinens vor der Kommission regelte. »Wie soll ich's ihm erklären«, dachte sie, »daß er nicht befreit ist?!«

Aber auch ein anderer Grund ließ sie zögern. Er war gerade in diesen Tagen so stillfröhlich, wie sie ihn nie zuvor gesehen. Der laute, übermütige Vorwitz, der sie oft gekränkt und geärgert, aber auch die versteckte Scheu, mit der er ihr in diesem Winter gegenübergestanden, waren verschwunden. »Jetzt«, dachte sie, »zeigt sich an ihm jener Zauber, der seinem armen Vater so viele Freund' gemacht hat, aber dabei ist er doch gottlob so ganz anders, als der, so häuslich, brav und gehorsam.« Sie mochte das Glücksgefühl nicht stören, das ihm aus den Augen leuchtete; woher es rührte, ahnte sie nicht. Er hatte nun auch die Sprachlehre überwunden, schwelgte in den farbigen Bildern einer bisher unbekannten, ungeahnten Welt, die ihm das Lesebuch erschloß, und tat dabei in Gedanken täglich einen Schritt vorwärts, dem großen Ziele seines Lebens zu.

»Der gute Junge«, dachte sie. »Die bittere Stund' kommt ihm früh genug, aber wenigstens will ich's ihm dann auf gute Art beibringen.«

Das Schicksal wollte es anders. Diese Stunde sollte für beide eine der furchtbarsten ihres Lebens werden.

Es war der erste Sonntag im April, zugleich der erste wolkenfreie Tag nach den endlosen Regengüssen, die für diese arme Landschaft den Anbruch des Frühlings bedeuten, denn wie alles andere Schöne, was unter glücklicheren Himmelsstrichen die Menschen labt, wird ihr auch der Lenz spät und kärglich zuteil. Noch waren die Straßen grundlos, die Äcker von einer Schlammschicht bedeckt und an den Bäumen hingen die ersten grünen Blättchen triefend herab, aber nun zum ersten Male seit lange, seit er zuletzt im Schnee geglitzert, lag der Sonnenschein verklärend über der traurigen, endlosen, verregneten Ebene und die Luft war feucht, aber warm. »Frühling, Frühling«, murmelte Sender, als er in der ersten Frühe das Fenster seines Kämmerchens öffnete, und beugte sich weit vor, diese reine Luft einzufangen. »Gottlob, Frühling!«

Er lächelte beglückt vor sich hin. »Mein letzter Frühling in dieser Kammer!« Und dann folgte der letzte Sommer und wie rasch war der Herbst da und dann – zu Neujahr...

Er schloß die Augen, als könnte er den Glanz des Glücks nicht ertragen, in dem sein Leben vor ihm lag, soweit ihm der Blick reichte. Bisher hatte ihn eine trotzige oder kecke Zuversicht erfüllt, heute, an diesem ersten Frühlingsmorgen, da ihm jedes Hindernis beseitigt schien, war ihm so weich und zugleich so selig zu Mute wie nie zuvor. Mit anderer, höherer Empfindung als sonst langte er nun die Gebetriemen aus dem Schrein und schlug sein Andachtsbuch auf, das Morgengebet zu sprechen.

Es war ein abgegriffenes Büchlein mit mürben Blättern, das wohl einst in schwarzes Leder mit Goldschnitt gebunden gewesen; heute war der Einband grau und zerfetzt, der Druck fast verwischt. Ein altes Büchlein, und er hatte es nie neu gekannt; die Mutter hatte es ihm einst, als er beten gelernt, geschenkt; es habe früher einem Verwandten gehört. Aber so alt es war, ihm diente es gut, und gar beim Morgengebet konnte ihn der undeutliche Druck nicht stören; dies Gebet kannte er ja, wie jeder Jude, auswendig, und hielt beim Beten nur deshalb den Blick auf das Buch geheftet, weil es die Sitte so gebot. Und vielleicht sprach er auch das Gebet all diese Jahre oft genug aus keinem anderen Grunde – die Unterlassung wäre Sünde gewesen, warum sollte er sündigen? Heute aber, im Glanz dieses Frühlingstages, quollen ihm die Worte nicht bloß von den Lippen, sondern auch aus dem Herzen. Er war sich dessen wohl selbst kaum bewußt, und noch weniger hätte er sich über den Grund Rechenschaft geben können – verstanden hatte er diese hebräisch-chaldäischen Worte wohl auch sonst, heute schienen sie ihm für ihn selbst geschrieben: »Dank dir, Gnadenreicher, der du erfüllest, wonach unser Herz schmachtet... Erbarme dich über uns und gib uns in das Herz, zu verstehen und zu erkennen, zu hören und zu lernen...« Und als er an die Stelle kam: »Gepriesen seist du, der du die Siechen genesen machst und alle Krankheit von uns nimmst« – erhob er die Augen zum Himmel.

Ja, auch diese Last war nun von ihm genommen, die einzige, die ihn noch bedrückt. Er hatte das »bißchen Husten« nicht schwer genommen, aber es war doch recht lästig gewesen, und er hatte gelogen, wenn er der Mutter versichert, er empfinde keinen Schmerz dabei. Aber er hatte immer gehofft, das werde besser werden, wenn nur erst der Winter vorbei sei, und wirklich war schon während der Frühlingsregen der Hustenreiz geringer geworden. Heute quälte er ihn kaum mehr, und wenn er atmete, fühlte er kein Stechen in der Lunge. Wohl aber hatte er dabei eine andere Empfindung, die ihm wohl ungewohnt, aber nicht peinigend war, ein Gefühl der Schwere und Wärme in den Lungen, und es wuchs, je mehr er die feuchte, schwüle Luft dieses Frühlingsmorgens einsog. Es war, als hätte der Erdgeruch, der sie erfüllte, etwas Berauschendes; seine Pulse klopften, der Atem ging hastiger, das Blut drängte ihm zu Kopfe, und als er sich am Schluß des Gebetes, wie es die Satzung vorschrieb, dreimal tief gegen Osten verneigte, überkam ihn ein Schwindel, daß er sich am Bettrand festhalten mußte, um nicht umzusinken.

Aber das ging so rasch vorbei, daß es ihn nicht weiter ängstigte. Als er in die Wohnstube trat und der Mutter den Morgengruß bot, blickte sie ihn mit freudigem Staunen an und sagte: »Heut' geht's dir gottlob wieder ganz gut, nicht wahr? Du hast ja ordentlich rote Backen, wie ich sie eigentlich noch nie an dir gesehen hab'!«

»Ich fühl' mich auch ganz gesund!« sagte er. »Was hab' ich dir immer gesagt? Der Husten ist nicht der Rede wert!«

»Es war ja nur, weil du so mager bist!« Sie überflog das scharfgeschnittene Antlitz, die hochaufgeschossene, bewegliche, aber schmalbrüstige Gestalt. »Dir schlägt ja kein Essen an, du bleibst wie ein Windhund!«

»Jetzt soll's anders werden«, erwiderte er lachend und machte sich über die Frühstückssuppe her. »Gib acht – du wirst mich bald ums Geld zeigen können, so fett werd' ich.«

Mit dem Essen ging es aber doch auch heute nicht recht, so wenig wie früher, und jene seltsame Empfindung der Schwere in den Lungen wollte nicht weichen. Um es der Mutter zu verbergen, führte er den Löffel fleißig, aber fast ungefüllt zum Munde. Es kam ihm sehr gelegen, daß eben ein Wagen am Schranken hielt, nun mußte die Mutter das Zimmer verlassen. Aber Frau Rosel blieb auf ihrem Sitz am Fenster, statt ihrer trat die alte Kasia, die sonst am Sabbat den Dienst für sie verrichtete, an den Kutscher heran und nahm das Mautgeld in Empfang.

»Ich hab' sie heut' hier behalten«, sagte die Mutter zur Erklärung, »weil ich später in die Stadt muß!«

»So?« fragte er. »Wozu?«

Sie blickte vor sich nieder, setzte zum Reden an und schwieg dann wieder.

»Ich habe verschiedenes in Ordnung zu bringen«, sagte sie endlich fast verlegen. »Wie lang bleibst du heut' in der Werkstätte?«

»Wie gewöhnlich bis nach Elf. Warum?«

»Wart' heut' auf mich, ich werd' dich abholen...«

Das war so ungewöhnlich, daß er sie befremdet ansah. Aber sie wich seinem Blick aus.

»Dahinter steckt was!« dachte er unruhig, als er dem Städtchen zuschritt. »Sie war so verlegen...«

Aber der Gedanke verflog rasch, wie er gekommen. Der Morgen war so herrlich und ihm so freudig zu Mut – er glaubte, nie einen schöneren Frühlingstag erlebt zu haben.

»Guten Morgen!« rief ihm der Meister fröhlich entgegen, als er in die Werkstätte trat. Er hatte dem Lehrling auch sonst in der letzten Zeit häufig zuerst den Gruß geboten, nun klang es gar wie ein Jubelruf.

»Auch er ist an einem solchen Tag ganz anderer Laune«, dachte Sender, »obwohl er doch nur ein Uhrmacher ist...«

»Guten Morgen, Meister! Der Frühling ist da!«

»Freilich ist er da«, kicherte Klein-Jossele, »und mit ihm alles, was dazu gehört...«

»Was dazu gehört?!« wiederholte Sender lächelnd. »Natürlich – die Sonne, die Blumen –«

»Und noch was«, lachte der Meister. Da aber kam ihm das fromme Gebot in den Sinn: »Du sollst deinem Nächsten nicht unangenehme Botschaft künden, es sei denn zu seinem Heil.« Er zwang sich zu einer ernsten Miene und wies Sender die Arbeit für heute an. »Es drängt aber nicht«, setzte er freundlich hinzu.

Dann jedoch kitzelte ihn die Neuigkeit, die er unterdrückt, doch ordentlich im Halse, er glaubte daran ersticken zu müssen.

»Meyerl Schulklopfer war eben da«, begann er in möglichst harmlosem Tone.

Meyerl Kaiseradler war ein armseliges, gebeugtes, gleichsam von der Not des Lebens zerdrücktes Männchen, das sich kümmerlich als Diener der »Schul«, der Synagoge, fortbrachte; als solcher hatte er die Männer in den Wintermonaten zum Schulgang zu wecken, daher der Name seines Amtes. Da er dabei samt seinen vielen Kindern hätte verhungern können, so gönnte man ihm den Nebenverdienst, alle amtlichen Mitteilungen der Gemeinde auszutragen.

»So?« fragte Sender. »Müßt Ihr wieder Steuer zahlen...«

»Nein!... Diesmal hat er dich gesucht, lieber Sender!«

»Mich? Was wollte er?«

Aber da hatte in dem kleinen Manne wieder die Ehrfurcht vor der frommen Satzung über die Schadenfreude gesiegt. »Ich weiß nicht... Er kommt wohl wieder.« Und er zwang sich sogar, hinzuzufügen. »Etwas Böses ist's wohl nicht!«

»Ich wüßt' auch nicht was«, erwiderte Sender gleichmütig.

Leise pfeifend und gemächlich machte er sich an die Arbeit, die ihm zugewiesen war. Aber der Meister hatte ja selbst gesagt, es eile nicht. Und so blickte er immer wieder durch die offene Ladentür auf den Marktplatz, an dem des Uhrmachers Haus lag.

Es war da heute mehr Leben als sonst. Die Bauern aus den Vororten zogen im Sonntagsstaat zur ruthenischen Kirche, die wenigen katholischen Bürger von Barnow eilten zur Messe in der Klosterkirche. Dazwischen standen viele Juden auf dem Platze in größeren Gruppen oder zu zweien. Einige schrien und gestikulierten, andere hörten ihnen andächtig zu, wieder andere starrten mit bleichem Antlitz und traurig vor sich hin.

»Was nur die Leut' heut' haben?« fragte Sender den Meister. Aber noch ehe dieser erwidern konnte, vermochte Sender sich selbst die Antwort zu geben. Da erschien hastigen Schritts, das hagere Antlitz mit der Hakennase hoch erhoben, Dovidl Morgenstern auf dem Marktplatz und war im Nu von einem Haufen umringt, der immer größer anwuchs.

»Ach so!« lachte Sender. »Die Rekrutierung!... Wann ist sie denn?«

»Die Losung ist in acht, die Stellung in vierzehn Tagen«, erwiderte der Meister und lächelte die Uhr, die vor ihm lag, ganz verzückt an.

»Freilich«, erwiderte Sender. »Wir sind ja schon im April. Gottlob, daß es mich nichts angeht.« Im stillen aber wiederholte er diesen Gedanken noch viel nachdrücklicher. »Wie entsetzlich wär' das, wenn ich jetzt ›Sellner‹ werden müßte. Sieben Jahr' muß man dienen! Aus wär's mit meinem Plan, mit meinem ganzen Leben! Ich glaub', ich würde den Schmerz nicht ertragen! Gottlob!... Gottlob!«

Und wieder sah er gleichmütig zu, wie immer mehr Leute draußen zusammenströmten und sich die Gruppe um Dovidl Morgenstern vergrößerte.

»Er lügt ihnen natürlich vor«, sagte er dem Meister, »daß er sie alle befreien wird – alle! Und die armen Teufel glauben ihm!«

Jossele Alpenroth wollte sich ausschütten vor Lachen.

»Recht hast du!« rief er. »Für einen Hexenmeister halten ihn die Dummköpfe. Und doch wird jährlich die bestimmte Zahl genommen! Hahaha! Nicht einer weniger!«

»Aber hart ist's doch!« sagte Sender. »Sieben Jahre! Wen's gerade trifft – ihm wär' besser, er wär' nie geboren!«

Darauf erwiderte der Meister nichts mehr und es wurde so still in der Werkstätte, daß man die Fliegen summen hörte.

Nach einer Weile pfiff Sender wieder leise vor sich hin. Aber er mußte dazwischen doch zuweilen die Hand auf die Brust legen. Er fühlte sich völlig wohl, aber jener ungewohnte Druck wollte nicht weichen.

Indes hatte auch Frau Rosel ihren Gang zur Stadt angetreten. Der Rabbi hatte ihr am Tage zuvor durch Meyerl Schulklopfer sagen lassen, er erwarte sie morgen zehn Uhr, er habe Wichtiges mit ihr zu besprechen. Ihr Herz pochte, je näher sie seinem Hause kam. Es handelte sich um Senders Schicksal!

Wenige Schritte vor dem Hause hörte sie sich angerufen; da kam Itzig Türkischgelb hastig herbeigekeucht, daß die dünnen, grauen Wangenlöckchen nur so um das rötliche Antlitz flogen. »Er hat mich auch bestellt«, sagte er, »er will mit uns die Sach' in Ordnung bringen!«

»Wenn's nur von uns beiden abhinge«, erwiderte Frau Rosel kummervoll.

Im Vorzimmer des Rabbi trafen sie den armen, kleinen Kaiseradler, der gleichsam Adjutantendienste bei dem Gelehrten versah. »Ich hab' da einen Zettel für Euern Sohn«, sagte er demütig, »ich hab' ihn nicht getroffen – es ist die Vorladung zur Losung, darf ich sie Euch geben?«

Die Frau nahm die Vorladung und ließ den Blick traurig auf dem grauen Papier haften. Oben war der kaiserliche Doppeladler zu sehen, unten der Stempel der Gemeinde Barnow; die gedruckten und geschriebenen Zeilen, die dazwischen standen, verstand sie nicht – es waren ja »christliche« Buchstaben. In deutscher Sprache, die damals im ganzen Kaiserstaat die Amtssprache war, wurde der Uhrmacherlehrling Sender Glatteis, bei der Rosel Kurländer im Mauthaus wohnhaft, aufgefordert, bei Vermeidung der gesetzlichen Strafen u.s.w. Zur Orientierung für den Boten hatte Luiser Wonnenblum in hebräischer Kurrentschrift an den Rand geschrieben: »Roseles Pojaz.«

Frau Rosel trat, vom Marschallik geleitet, in die Studierstube des Rabbi. Er saß im Lehnstuhl hinter einem mächtigen Folianten und horchte einem seltsamen Konzert. An einem Tische am Fenster saßen drei Jünglinge, wiegten sich gleichmäßig hin und her und lasen unisono in hohen Tönen näselnd einen Talmudtext, daß es wie der Singsang dreier verschnupfter Tenore klang. Bei dem Eintritt der beiden hieß sie der Rabbi hinausgehen, lud die Gäste zum Sitzen ein und begann dann: »Es steht geschrieben: ›Laß die Kinder der Welt das Weltliche besorgen.‹ Aber geschrieben steht auch: ›Der Waisen Sache sei deine Sache.‹ Ich hab' mich nicht darum zu kümmern, welcher Jung' welches Mädele nimmt und ob er Sellner wird oder nicht. Aber Sender ist ein Fremdling in unserer Gemeinde, und hat sonst keinen Annehmer als mich, und sein Vater – er ruhe in Frieden – hat mich vielleicht ohnehin schon vor Gott verklagt – wegen seines ›Kadisch‹. Er soll mir nicht auch nachsagen dürfen: ›Er hat meinen Sender dem Verderben überlassen!‹ Und darum muß ich jetzt über seine Heiratssach' mit Euch reden und über seine Militärsach', so ungern ich es tu'!«

Er begann sich hin und her zu wiegen und fuhr fort: »Sind es aber zwei Sachen? Nein – es ist beides eine Sach'! Wenn Sender nicht heiratet, so muß er Sellner werden! Folglich muß er heiraten! Wo aber ist da die Schwierigkeit? Ist Sender vielleicht, Gott bewahre, außer stande, zu heiraten? Nein! Oder haftet, Gott bewahre, ein Makel an ihm? Nein! Oder findet sich niemand, der ihm seine Tochter geben wollt'? Nein, Reb Itzig hier hat mir gesagt, er kennt solche Eltern! Oder ist an diesen Eltern oder an ihren Töchtern ein Makel, daß Ihr, Frau Rosel, oder Sender sie verschmähen müßtet?! Nein, nicht an allen. Also wo ist die Schwierigkeit, frag' ich nochmals? Darin liegt sie, daß Euch, Frau Rosel, leider kaum eine zur Schwiegertochter recht ist. Und ferner darin, daß Sender nicht heiraten will! Das erste ist nicht in der Ordnung, und das andere ist gar eine Sünde, und beides wegzutun und auszurotten, als ob es nie dagewesen wär', ist meine Pflicht und mein Recht. Darum hab' ich euch beide hierher berufen!«

Frau Rosel machte eine Bewegung, sie wollte sprechen.

»Später!« sagte der Rabbi streng. »In der ›Klaus‹ (Gelehrtenstube) sprechen Weiber nur, wenn sie gefragt werden, und dann kurz! Ich, der ich doch wahrlich genug zu sagen hätte, rede auch kurz. Und ich bin doch der Rabbi! Denn warum? Weil geschrieben steht: ›Das wohlriechendste Gewürz ist Schweigen.‹ Und ferner steht geschrieben: ›Der Weisheit Zaun ist die Schweigsamkeit!‹ Und dann steht noch geschrieben: ›Bevor du gesprochen, bist du deiner Worte Herr! Nachdem du gesprochen, sind sie deine Herren! Darum besinne dich, ehe du sie deinem Munde entweichen läßt!‹ Und ebenso steht geschrieben: ›Bewahre deine Zunge vor unnützen Reden, damit deine Kehle keinen Durst bekomme!‹«

»Ich verstehe«, sagte der Marschallik mitleidig. »Soll ich Meyerl Schulklopfer sagen, daß er Euch etwas Wein bringt?« Und ehe sich der Rabbi über diese unerhörte Kühnheit gefaßt, sprach er weiter: »Wir haben nur zwischen zweien die Wahl. Erstens Reb Hirsch Salmenfelds Malke...«

»Schweigt!« unterbrach ihn der Rabbi. »Eine Verbindung mit einem solchen Menschen beredet man in einer ›Klaus‹ nicht...«

»Es steht aber«, wandte der Marschallik ein, »geschrieben: ›Richte jeden nach seiner eigenen Tat!‹ Reb Hirsch ist der Frömmste der Frommen. Hab' ich nicht recht, Frau Rosel?«

Die Frau blickte furchtsam nach dem Rabbi hin. »Der Rabbi meint aber –« begann sie zögernd.

»Ich mein' nicht!« rief der Greis. »Ich weiß, daß es eine Todsünd' wär'. In eine Familie, wo solche Frevel geschehen, läßt man keinen Waisen heiraten. Vielleicht ist auch die Tochter gottlos, sie kann ja Deutsch lesen!«

»Aber Rabbi – meine Jütte sagt –«

»Eure Jütte! An Eurer Stelle ließ' ich mein Kind nicht dort... Deutsch Lesen und Schreiben ist ein Makel fürs ganze Leben, noch mehr – ein Gift ist es! Wer darf mit Gift umgehen? Der Apotheker. Luiser muß es können, weil er die Matrikel zu führen hat, und Dovidl Morgenstern wegen der Prozesse. Aber für jedes andere jüdische Kind, ob Mann, ob Weib, ist es Todsünde – Todsünde, hört Ihr! Und was immer gegen Sender vorgebracht wird, er ist fromm und hält alle Gebote und hat sich fern gehalten von den Wegen der Frevler und Abtrünnigen. Ihm ein Weib, das christliche Bücher liest?! Ich bin sein Annehmer und duld' es nicht! So ein Weib kommt überhaupt nie in meine Gemeinde – niemals

Der Marschallik zuckte die Achseln. »Dann muß er die aus Kolomea nehmen«, sagte er, »Reb Chaim Goldguldens Lea. Der Vater ist einverstanden, er weiß, daß sich kein anderer findet!«

»Um Himmelswillen«, schrie Frau Rosel auf. »Die Kleine, Bucklige?! Und häßlich ist sie wie die Nacht und fast dreißig Jahr' alt – man hat's mir gesagt!«

»Achtundzwanzig!« sagte der Marschallik. »Übrigens – ich hätt' dem armen Sender die hübsche Malke auch lieber gegönnt...«

Der Rabbi strich nachdenklich den langen Bart.

»Reb Chaim Goldgulden ist ein Frommer und Gerechter«, sagte er. »Klein? Bucklig? Was tut das? Es steht geschrieben: ›Achte auf die Schönheit des Herzens!‹ Die Tochter von Reb Chaim ist gewiß tugendhaft und flieht vor dem Laster!«

»Da könnt Ihr ganz ruhig sein!« rief der Marschallik. »Wenn Ihr sie kennen würdet! Lea braucht vor dem Laster nicht zu fliehen – das Laster flieht vor ihr!«

»Und die zweihundert Gulden für Dovidl Morgenstern würde Reb Chaim sofort erlegen?!«

»Ja!« erwiderte der Marschallik. »Ich glaub', der würde sogar fünfhundert zahlen! Wenn nur den alten Mann nicht vor Freud' der Schlag trifft! – Daß er die noch anbringt, hat er wirklich nicht mehr gehofft! Übrigens sind ihr achthundert Gulden vor Gericht zugeschrieben!«

»Gut!« sagte der Rabbi. »Meyerl!« rief er laut. »Wo ist Euer Sohn?« wandte er sich an die Frau.

»In der Werkstätte. Aber um Himmelswillen –«

Der Schulklopfer erschien an der Tür.

»Du holst den ›Pojaz‹ aus seiner Werkstätte«, befahl ihm der Rabbi, »rasch«!

Der Bote stürzte davon.

»Rabbi!« rief Frau Rosel unter strömenden Tränen. »Das ist ja eine Sünd' vor Gott. Einen Menschen mit gesunden Gliedern wollt Ihr an einen Krüppel binden?«

»Schweigt!« rief der Greis in heftigem Zorn. »Was Sünde oder fromme Tat ist, weiß ich besser als Ihr! Sünde wär's, wenn er Sellner würde! Glaubt Ihr, ich misch' mich zum Vergnügen in Eure Sachen! Aus Ehrfurcht für die Gebote Gottes! Aber dann muß ich auch so entscheiden, wie es seinem Willen entspricht!«

»Oh!« schluchzte Frau Rosel. »Das kann seinem Willen nicht entsprechen!... Die Ehe wird ja auch kinderlos bleiben! So ein Krüppel kann nicht Mutter werden. Nicht wahr, Reb Itzig?«

Der Marschallik zuckte die Achseln. »Bei Gott ist alles möglich!... Aber ein Wunder wär's!«

»Hört Ihr? »rief Frau Rosel. »Ich bin ja ein unwissend Weib, aber ich hab' immer gehört: eine Ehe zu stiften, die kinderlos bleiben muß, ist Sünde!«

»Ein unwissend Weib!« sagte der Rabbi. »Ihr sagt es selbst! Es gibt nur eine Todsünde für Mann und Weib: unvermählt zu bleiben! Bleibt die Ehe kinderlos, so wird sie selbstverständlich wieder getrennt. Übrigens –« er wandte sich an den Marschallik – »wißt Ihr noch eine dritte?«

»Nein...« erwiderte dieser. »Aber vielleicht in einigen Tagen...« fügte er mitleidsvoll, zu Frau Rosel gewendet, hinzu.

»Haben wir dazu Zeit?« fragte der Rabbi. »Gebt mir die Vorladung«, befahl er der Frau.

Sie reichte sie ihm hin.

Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht lesen!« sagte er und schob das Blatt scheu von sich.

»In vierzehn Tagen ist die Rekrutierung«, sagte Frau Rosel. »Aber bis dahin –«

»Sollen wir warten?« fuhr der Rabbi auf. »Unmöglich! Lea! Es bleibt dabei.«

Während so über seine Zukunft entschieden wurde, saß Sender ahnungslos in der Werkstätte. Als Meyerl Kaiseradler hereinstürzte, ihn zum Rabbi zu entbieten, schrak er heftig zusammen. Hatte Rabbi Manasse von seinen Besuchen im Kloster erfahren? Dann war er verloren!

»Warum?« stammelte er. »Wozu –«

»Es ist wegen der Rekrutierung«, sagte Meyerl beruhigend.

»Der Rekrutierung?« stammelte Sender mit bleichen Lippen. »Ich bin ja frei!«

»O nein!« flötete Jossele Alpenroth mit sanfter Stimme, aber seine Augen leuchteten vor Freude, »das ist ein Irrtum von dir, lieber Sender! Du mußt dich stellen!«

»Ja, das mußt du!« bestätigte Meyerl. »Ich hab' dir ja auch den Befehl zur Losung zuzustellen gehabt. Deine Mutter hat ihn eben für dich übernommen. Aber komm' – sie warten!«

Einen Augenblick stand Sender starr vor Schrecken. Dann begann er zu taumeln; er empfand plötzlich einen furchtbaren Schmerz in der Lunge, als würde ihm da ein Messer eingebohrt, und gleichzeitig überflutete das Blut sein Hirn – ein Schwindelanfall wie am Morgen, nur ungleich stärker.

Erschreckt sprang der Meister auf den Schwankenden zu und ließ ihn auf den Schemel gleiten. Schwer atmend saß Sender da, sein Antlitz ward abwechselnd tiefrot und totenfahl; instinktiv hielt er die Hand auf die Brust gepreßt.

»Sellner!« stammelte er. »Jetzt!... Barmherziger Gott... jetzt!«

»Aber nein!« tröstete Meyerl. »So höre doch nur! Sie beraten ja eben! Komm'!«

Sender raffte sich auf und folgte dem Boten; anfangs zögernden Schritts, dann lief er rascher als dieser. Die Wärme und Schwere in den Lungen wuchs zur quälenden Hitze, der Atem ging pfeifend aus und ein, das fahle Antlitz war von kaltem Schweiß überdeckt. So stürzte er, lange vor Meyerl, in die Stube des Rabbi und auf seine Mutter zu, die ihm, fast ebenso bleich wie er, das Antlitz von Tränen überströmt, die Arme entgegenbreitete.

»Es ist ja nicht möglich!« keuchte er mühsam hervor. »Ich bin ja dein einziger Sohn!... Wo ist der Befehl?«

Er riß ihr das Schriftstück aus der Hand.

»Sender Glatteis!« schrie er auf. »Das bin ja nicht ich... Und doch.... ›bei der Rosel Kurländer‹ ...«

Das Blatt entfiel seiner Hand.

»Barmherziger Gott!« stöhnte die alte Frau auf und schlug die Hände vors Antlitz.

»Mutter... was ist das... was bedeutet das?!« Zitternd tastete seine Hand nach der ihrigen...

Da fühlte er sich plötzlich an der Schulter gefaßt und zurückgerissen. Der alte Rabbi stand vor ihm, hoch aufgerichtet, mit verstörten Augen, fassungslos vor Zorn.

»Elender!« schrie er. »Du kannst diese Buchstaben lesen?... Meinen Fluch über dich... Hinweg...«

Sender suchte sich loszumachen – da fühlte er jenen schneidenden Schmerz wiederkehren, heiß und salzig quoll es in seiner Kehle empor und drohte ihn zu ersticken; er sank zu Boden und ein Blutstrom brach aus seinem Munde.

»Er stirbt!« schrie Frau Rosel auf und warf sich über ihn. »Ihr habt ihn mir getötet!«


 << zurück weiter >>