Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Siebzehntes Kapitel

Der Marschallik überbrachte Frau Rosel das Schriftstück und suchte den Konkurrenten Luisers auf. Auf dem Weg hielt er plötzlich an. »Das wär' ja was!« murmelte er in höchster Freude. »Gott im Himmel, das wär' ja was!« Fast hätte er vor Jubel über den glücklichen Einfall auf offener Straße einen Luftsprung gemacht. Dann eilte er hastig zu Dovidl Morgensterns Haus. Aber auf dem Flur vor der Tür mit der Tafel in deutschen und hebräischen Lettern: »Prifat-Agentschaft. Guter Rath in alle Sachen«,verschnaufte er sich erst gründlich, ehe er eintrat. Da hieß es ruhig auftreten.

Dovidl, ein hagerer Mann mit dünnem, rötlichem Bart, unsteten Augen und fahrigen Gesten saß an seinem Pult und schrieb eifrig, das Haupt tief hinabgeneigt, daß die Hakennase das Papier berührte. Bei Türkischgelbs Eintritt zuckte er empor, zwang sich dann aber, weiter zu schreiben. »Gut' Woch' – setzt Euch«, sagte er möglichst gleichmütig und setzte seine Arbeit fort.

Der Marschallik blieb stehen und sah ihm eine Weile zu. »Reb Dovidl«, begann er.

»Verzeiht – gleich! Ich bin beschäftigt – noch fünf Minuten –«

»Nicht eine halbe«, sagte der Marschallik freundlich, aber entschieden. »Deshalb kriegt Ihr die große Sach', die ich Euch bring', doch nur, wenn Ihr's billiger macht als Luiser!«

»Aber Reb Itzig«, rief der Winkelschreiber, fuhr empor und erhob vorwurfsvoll die Arme gen Himmel, »glaubt Ihr, ich mach' Euch was vor? Hab' ich das nötig? Ich hab' ja so viel zu tun! Wann hab' ich zuletzt die ganze Nacht geschlafen? Ich erinnere mich gar nicht mehr daran. Und mit Luiser droht Ihr mir? Mit diesem Stümper? Wißt Ihr, was die Herren vom Bezirksamt sagen, wenn sie eine Eingab' von ihm bekommen?«

»Ja«, erwiderte der Marschallik. »Sie sagen: ›Das ist ein Unsinn, der kann nicht Deutsch‹, sagen sie, ›in jedem Wort ein Fehler.‹ Und schütten sich aus vor Lachen.«

»So ist es!« rief Dovidl erfreut. »Habt Ihr's auch gehört?«

»Ja, von Luiser, er hat's mir eben über Euch gesagt!«

»Über mich?« Dovidl riß seinen Kaftan auf. »Ich fahr' aus der Haut.«

»Später. Hört zuerst, was ich Euch bringe.« Er trug ihm kurz die Sache vor. »Sagt: ›Dreißig Gulden!‹ und wir sind einig.«

»Unmöglich!« rief der Winkelschreiber. »Unmöglich!« wiederholte er wehklagend und taumelte händeringend in der Stube auf und ab. Da verbrauch' ich ja auf Tinte und Papier mehr. Wenn Ihr wüßtet, wieviel da zu schreiben ist. Zuerst muß ich ja bei allen Gemeinden in der ganzen Welt anfragen, ob sie was von Froim Kurländer wissen, denn vielleicht lebt er noch. Und wenn niemand von ihm weiß, erst die Scheidung, dann die Todeserklärung, dann die Annahme an Kindesstatt. Einen Menschen totschlagen geht leicht, und ein Kind bekommen noch leichter, aber auf gesetzlichem Wege ist das sehr schwer. Und das soll Luiser durchführen? Freilich, übernehmen wird er's. Er will ja jetzt sogar die Kollektur und die Versicherungen übernehmen, obwohl ich ihm gesagt: ›Jedem –‹«

»Die Hälfte! Ihr die Kollektur, er die Versicherungen. Merkwürdig! Die Hälften sind gleich, und doch will jeder die Kollektur!«

»Aber kann denn er die Kollektur führen?... Der Unverschämte! Ich wette, daß er Euch für diese Sache zuerst achtzig Gulden abgefordert hat.«

»Nein!« erwiderte der Marschallik entschieden. Und in der Tat waren's ja hundert gewesen.

»Also siebzig oder sechzig. Und ich will's um vierzig machen. Warum? Weil mein Grundsatz ist: ›Leben und leben lassen.‹ Luiser schindet die Leut', und dennoch verdien' ich mehr. Er spricht mir Böses nach, sagt Ihr? Das ist nicht schön von ihm, warum schimpf' ich nicht über ihn? Weil er mich erbarmt, denn seine Stube steht leer, und ich such' nach einem Schreiber – mit Lichtern such' ich – und find' keinen.«

»Deshalb bekommt Ihr doch nur dreißig Golden. Das vom Schreiber glaub' ich Euch nicht – wer sucht, der findet.«

»Lächerlich! Ich schreib' die Eingaben zuerst in hebräischer Schrift, da geht's rascher, zum Abschreiben muß ich also einen Juden haben! Gibt's denn hier so viel Juden, die Deutsch können? Ich gut und Luiser schlecht. Einen von auswärts kommen lassen? Das duldet Rabbi Manasse nicht. Wer sucht, der findet? Schaffet mir einen Schreiber, und ich will Euch königlich belohnen – zwei Gulden sollt Ihr haben, oder einen, oder was ihr verlangt!«

»Ich nehm' Euch beim Wort. Drei Gulden verlang' ich. Dafür sollt Ihr einen Schreiber haben wie noch nie einer war. Er kann besser Deutsch als Ihr und Luiser zusammen, schreibt wie gedruckt, ist klug wie der Tag und ein treuer Mensch. Und der Rabbi wird nichts dagegen haben.«

»Gut, drei Gulden. Wer ist's?«

»Roseles Pojaz.«

»Der?« rief der Winkelschreiber. In der Tat, das war ja ein kluger Mensch, und lesen konnte er auch. Aber für Sender brauchte er doch nicht dem Marschallik einen Vermittlerlohn zu zahlen. Den konnte er sich selbst schaffen.

»Das ist nichts für mich«, sagte er. »Ein Sterbender! Und gottlos ist er auch. Und ob er schreiben kann, weiß ich nicht.«

Der Marschallik lächelte. »Ich hab's ja nur für Euch und Frau Rosel gut gemeint. Sender selbst will lieber fort – er hat auch schon was... Reden wir nicht mehr darüber. Also kein Geschäft, Reb Dovidl, weder das große noch das kleine. Lebt gesund!«

»Das große ist ja in Ordnung«, rief Dovidl und sprang auf ihn zu. »Dreißig Gulden. Abgemacht.«

Er hielt ihm die Hand hin, und Türkischgelb schlug ein.

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb der Marschallik stehen und lüpfte den Hut. »Reb Itzig«, sagte er verehrungsvoll, »das habt Ihr gut gemacht! Will Sender hier bleiben, nun kann er's und braucht als ›Apotheker‹ keinen Schwur zu leisten. In acht Tagen läßt Dovidl die Mutter zu sich bitten und bietet ihr's an. Und alle können zufrieden sein, auch Dovidl, denn der ist ja glücklich, daß er mich um die drei Gulden betrogen hat.«

Er irrte nur insofern, als Morgenstern schon zwei Tage darauf um Frau Rosel sandte. Seine Aussichten auf die Kollektur waren gewachsen; und nun wollte er sich den Schreiber jedenfalls sichern. Aber Frau Rosel konnte nicht abkommen; es war der erste Tag, den Sender außer Bette verbrachte, und sie mochte ihn nicht verlassen.

Regungslos saß der Genesende im Lehnstuhl am Fenster, ließ den Blick über die Straße und das Stückchen Getreidefeld schweifen, das er überblicken konnte, und atmete tief – der Sonnenschein, die warme Frühlingsluft taten ihm so wohl – und daß er lebte, lebte! Noch war die dumpfe Betäubung im Hirn nicht ganz gewichen; wie ein Spinnennetz lag es über seinen Gedanken, und wenn er sich klar machen wollte, was alles geschehen, und sich ausmalen, wie es nun werden sollte, empfand er einen leisen Schmerz in den Schläfen. Aber wozu denken? Lieber atmen und wieder atmen – tief und immer tiefer – und die Glieder im Sonnenschein dehnen – die Hand nach einem Blättchen der Linde vor dem Fenster strecken, das Blättchen abreißen und fallen lassen, die Hand zur Faust ballen und sich freuen, daß er dies alles konnte. Die Hand zitterte, und wenn auch der Druck und die Stiche in den Lungen aufgehört, so mußte er doch noch zuweilen husten, aber daran lag ja nichts. »Sie werden gesund«, hatte ihm gestern der Regimentsarzt zum Abschied gesagt, da er nun weiter mußte, »und brauchen keine sonstige Medizin als Essen und Stillsitzen. Und noch eins: keine traurigen Gedanken!« Der Genesende nickte vor sich hin, immer und immer wieder, und atmete und lächelte: Traurige Gedanken? Es gab nur ein Unglück auf der Welt: sterben müssen – und er lebte ja und wurde gesund. Aber essen – der Arzt hatte recht – essen, wo nur die Mutter so lange blieb? Aber da trat sie ja ein, den Teller in der Hand und lächelte ihm zu. Er aß gierig – welch köstliche Suppe das war, nur etwas wenig. Aber die Mutter sagte: »In zwei Stunden bekommst du wieder einen Teller«, und so lehnte er sich geduldig in den Stuhl zurück und blickte in das Grün der Linde und sah zu, wie Sonne und Schatten im leisen Windhauch über das Laub huschten, bis er die Augen schloß und einschlief.

Am nächsten Tage fühlte er sich schon viel kräftiger. Da konnte er die Jacke selbst knöpfen und stützte sich bei dem Gang ans Fenster auf den Arm der Mutter nur, weil sie es so wollte, er hätte den Lehnstuhl fast selbst erreichen können. Und heute konnte er auch schon ein ganzes Zweiglein des Lindenbaums an sich heranziehen und die winzigen Knöspchen betrachten, aus denen einst die weißlich-grünen, duftigen Blüten brechen sollten. Und jenes Haschespiel zwischen Licht und Schatten konnte er länger verfolgen als gestern, ohne müde zu werden. Während er so hineinstarrte, flog ihm brummend ein Maikäfer an die Nase. Schwups! – da hatte er ihn. Aber nachdem er die glänzenden Flügeldecken und die feinen Fühlfäden betrachtet, legte er ihn sacht auf das Fensterbrett und freute sich, wie rasch er davonflog. Auch der Käfer und alles, alles wollte leben und sich der Sonne freuen, wie er selbst. Einmal schob sich eine Wolke vor die Sonne, aber sie wich bald wieder. Es mußte ja schön bleiben, immer, denn Licht und Wärme taten ihm wohl, und er mußte ja gesund werden...

Und darum war auch am dritten und vierten Tage der Himmel blau, und es wurde immer schöner auf der Erde. Denken? nein, denken mochte er auch heute nicht. Aber in einem hielt er's nun doch anders. Er hatte bisher kaum darauf geachtet, wer die Straße gezogen kam, oder sich gar, wenn er von weitem einen Bekannten zu erkennen geglaubt, tiefer zurückgelehnt, um nicht erblickt zu werden – er wußte kaum selbst warum, es war eine ebenso instinktive Bewegung wie das Schließen der Lider, wenn ihn der Sonnenschein blendete. Nun aber sah er sich die Leute unbefangen an; es waren freilich fast nur Bauern und ein näherer Bekannter ließ sich lange nicht blicken. Da endlich kam einer vorbei und es war sogar ein uralter Bekannter, der kleine Naphtali Ritterstolz, der einst sein erster Lehrer gewesen; er war nun nicht Hofmeister mehr, sondern hielt selbst eine Schule; das Antlitz sah noch immer aus, wie aus grauem Fließpapier geschnitten, aber an dem dürftigen Leib saß vorne ein ganz unmotiviertes Spitzbäuchlein und er trug die Nase hoch, wie es einem so frommen, vom Rabbi bevorzugten Schulmeister zustand. Napthali war ein eifervoller Mann; der Genesende fühlte eine Röte in seine Wangen steigen und schloß die Augen. Aber wie ward ihm, als er die wohlbekannte Stimme hörte: »Gut Woch', Sender! Wie geht's dir? Wahrlich, du darfst das Gebet der Genesenden aus ganzem Herzen sprechen.« Und als Sender die Augen öffnete, sah er, wie ihm der Würdige noch freundlich zunickte: »Schon' dich nur recht, daß du bald gesund wirst.« Er vermochte nichts zu erwidern, aber die Glut auf den Wangen brannte stärker. Wenn Naphtali so freundlich war, dann zürnte auch der Rabbi nicht zu sehr.

Der Rabbi! Er legte die Hand an die Stirne und sann. Nun empfand er dabei jenes Stechen in den Schläfen nicht mehr, aber er schüttelte doch den Gedanken ab. Später! – Das hatte Zeit! Aber ein anderes, woran ihn Naphtali erinnert, wollte er sofort verrichten – er hatte ja das »Gebet der Genesenden« noch nicht gesprochen. Er erhob sich, holte aus dem Netz über dem Bette sein Andachtsbuch hervor und schlug das Gebet auf. Zunächst las er die wenigen Zeilen nur mit den Augen und dann noch einmal flüsternd und endlich halblaut, mit zitternder Stimme, indes ihm die Tränen über die Wangen rannen: »Gelobt seist Du, der Du stützest die Wankenden und heilest die Siechen! Tod und Leben kommen von Dir, im Tod ist Frieden, aber Gnade im Leben. Dank Dir, der mich in Gnaden erhalten.«

Die Mutter erschrak, als sie ihn in Tränen fand, aber ihm mußte wohl zu Mute sein – wie ein Leuchten lag es über dem abgezehrten Antlitz. Sie tat keine Frage und setzte sich still mit ihrer Näharbeit in eine Ecke. Er blätterte in dem Büchlein, las da und dort, ließ es in den Schoß sinken und nahm es wieder auf. Dabei gewahrte er, was er bisher nie bemerkt, daß die beiden Blätter zwischen Deckel und Titelblatt zusammengeklebt waren. Der Klebstoff haftete nur am Rande, nachdem er diesen vorsichtig abgelöst, lag das bisher verborgene Blatt frei. Es wies drei Eintragungen in hebräischer Schrift und Sprache. Die Tinte war vergilbt, aber er konnte sie noch deutlich lesen.

Da stand zunächst in großen, etwas unbeholfenen Schriftzügen geschrieben: »Dieses fein gedruckte und schön gebundene Buch habe ich, Sender, Sohn des Abraham, aus der Schar der Leviten, der ich ein Kaufmann bin in der Stadt der Verbannung, Kowno geheißen, am heutigen Tage gekauft für meinen geliebten, einzigen Sohn Mendele zu seinem sechsten Geburtstage. Gottes Gnade ist mit mir gewesen, möge sie verdoppelt über meinem Sohne walten. Am 5. des Monats Adar im Jahre 5561 nach Erschaffung der Welt

Darunter war in feinen, phantastisch verschnörkelten Zügen zu lesen: »Ich, Mendele, Sohn des Sender, aus der Schar der Leviten, der ich ein unsteter und habeloser Mann bin, schenke dies Buch jenem, der es nach meinem Tode an meiner Brust findet und mein sterblich Teil barmherzig der Erde zurückgibt nach der Väter Weise. Wer immer es sei, er ist ein Glücklicherer als ich. Gottes Gnade habe ich verwirkt, dir, Unbekannter, möge sie leuchten. Auf der Wanderschaft im Lande der Verbannung, Ungarn geheißen, am 8. des Monats Tischri, am Vortag des Versöhnungstages im Jahr 5590 nach der Erschaffung der Welt

Darunter aber hatte dieselbe Hand gesetzt: »Am 16. des Monats Ab im Jahre 5592. Den Verzweifelnden richtet Er auf und begnadigt den Verurteilten. Er hat mir ein Weib gegeben und seinen Schoß geöffnet. Dieses Büchlein soll meinem Kinde gehören – es ist das einzige, was ich ihm vermachen kann. Aber da ich nun weiß, wie gnädig der Herr ist, so weiß ich auch, daß dies Büchlein meinem Kinde zum Segen sein wird.«

Der Jüngling las diese Zeilen einmal und dann wieder – es mochte in seiner Stimmung liegen, daß sie ihn tief ergriffen.

»Mutter«, fragte er, »wie hat der Verwandte, dem dies Büchlein früher gehört hat, geheißen?«

»Warum fragst du?« erwiderte sie unbefangen, da sie seine Entdeckung nicht ahnte, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken.

»Am Ende war's dieser Mendele selbst«, sagte er. »Du hast wohl auch das zusammengeklebte Blatt nie beachtet. Sieh her, was da geschrieben steht.«

Ihr gerann das Blut zu Eis. Ihr Blick drohte sich zu verdunkeln. Sie hatte das Blatt einst sorglich zugeklebt, die Inschrift herauszuschneiden, hatte sie nicht übers Herz gebracht.

»Hörst du nicht?« fragte er, als sie still blieb, und suchte den Kopf nach ihr zu wenden.

»Doch!« murmelte sie. »Das Blatt... Was – was steht denn da geschrieben?«

Er las es ihr vor.

»Der arme Mann!« fügte er bei. »Eine so schöne Schrift – er mag nicht ungelehrt gewesen sein... Und das Büchlein war das einzige, was er seinem Kinde vermachen konnte... Hast du ihn gekannt?«

Noch immer war ihr die Kehle wie zugeschnürt. »Nein!« erwiderte sie endlich. »Ich hab' das Büchlein von einem verstorbenen Vetter«, fügte sie dann hastig hinzu. »Ich habe es ehrlich erworben.«

»Natürlich!« erwiderte er. »Ob aber jener Vetter? Vielleicht hat er das Kind dieses Mendele um seinen einzigen Besitz gebracht! Und er war wertvoll, eines Vaters Segen wiegt schwer.«

Frau Rosels Haupt war tief auf die Brust gesunken. »Mein Herr und Gott«, betete sie, »wenn es eine Sünde ist, daß er nichts von seinem Vater weiß, so laß nur mich dafür büßen.«

Sender aber fuhr nach einer Weile fort: »Mutter, du hast ja ein frommes Herz, du wirst gewiß einverstanden sein. Wer im Zweifel ist, ob er nicht fremdes Gut besitzt, muß etwas zu frommen Zwecken spenden. Ich hab' das Büchlein nun schon so lang – und wo wär' auch das Kind jenes armen Mannes zu suchen? Aber wir wollen in der Schul' eine Kerze für seine Seele anzünden lassen. Vor mehr als zwanzig Jahren ist dies letzte geschrieben, da wird er wohl tot sein. Gott laß ihn in Frieden ruhen.«

»Amen!« rief Frau Rosel – ihr war's, als fiele eine Zentnerlast von ihrer Brust – »Amen!« –

»Mir scheint, er ahnt noch immer nichts«, sagte sie ihrem Vertrauten, dem Marschallik, als er sich wieder bei ihr einfand. »Aber mir ist's doch sehr bang... Soll ich ihm nicht morgen Luisers neue Vorladung geben? Dann wären seine Gedanken wenigstens vom ersten Anzeichen abgelenkt.«

»Behüte!« rief Türkischgelb. »Das brächte ihn erst recht zum Grübeln darüber. Die Sach' will so leicht wie möglich behandelt sein, wenn so ganz zufällig die Red' darauf kommt und mit allem übrigen zusammen. Das laßt mich machen, sobald ich's für gut halte. Jetzt müssen sich seine armen Lungen noch ausschnaufen und auch die Seel' des Menschen, Frau Rosel, auch die Seel' hat Lungen, die das nötig haben... Es ist nur deswegen, daß ich warte, denn jetzt hab' ich auch die Antwort auf jede Frage, die er stellen kann.«

Er stemmte die Arme in die Seiten und blickte sie triumphierend an.

»Ja!« rief sie freudig. »Und die Sach' mit Dovidl macht Euch keiner nach... Soll ich nun zu ihm hingehen?«

»Nein. Er bekommt die Kollektur und muß Sender haben. Jeder Tag länger macht den Monatslohn größer.«

Schon war etwa eine Woche seit dieser Unterredung verstrichen und noch immer hielt es der Marschallik nicht an der Zeit, eingehend mit Sender zu sprechen. »Ausschnaufen lassen«, wiederholte er immer wieder, »er wird schon selbst zu reden anfangen, wenn ihn etwas drückt.«

Aber das tat Sender nicht, und wirklich empfand er kaum allzu große Sorgen und Kümmernisse, auch nachdem er wieder zu voller Klarheit über das Geschehene gekommen. Das unendlich wohlige Gefühl des Genesens, das Bewußtwerden der jugendlichen Kraft, die ihm gleichsam aus diesen Frühlingsdüften in die Adern zurückströmte, ließen keine düsteren Gedanken in ihm aufkommen. Aber auch an sich schien ihm nun seine Lage nicht gar so schlimm. Er war wieder gesund, die Gefahr, Soldat zu werden, für immer vorüber; im nächsten Januar aber harrte seiner sein Gönner, warum sollte er verzweifeln? Der Rabbi wußte nun um seine heimlichen Kenntnisse, gar so groß schien ja sein Zorn nicht, aber angenommen, daß er's war und die Gemeinde ähnlich dachte, so mußte das eben getragen sein, bis die Erlösungsstunde schlug. Allzu schlimm konnte es ja nicht werden, so lang die Mutter und der alte Freund in herzlicher Liebe zu ihm standen, und wenn er sich auch keiner Täuschung darüber hingab, daß die rührende Güte, mit der sie ihm nun begegneten, vor allem dem Genesenden galt, etwas davon blieb ihm auch für die gesunden Zeiten gewiß. Ob ihn Jossele wieder aufnehmen würde, war ihm freilich sehr zweifelhaft, aber wo nicht, dann fand ihm sein findiger Beschützer vielleicht ein anderes Stücklein Brot, und im schlimmsten Falle mußte er sich eben bis zum Januar von der Mutter ernähren lassen. Dieser Gedanke erschreckte ihn auch nicht allzu sehr, er war ja der Sohn eines Stammes, dem die schwersten Opfer der Eltern für ihre Kinder etwas Selbstverständliches sind. Aber ebenso selbstverständlich ist diesem Stamme die dankbare Treue der Kinder für die Eltern, das vierte Gebot wird nirgendwo auf Erden so heilig gehalten, wie im Ghetto des Ostens – und wie konnte er davor bestehen?! »Es muß ja sein«, sagte er sich und malte sich aus, welch behagliches und ehrenreiches Alter er der Mutter bereiten würde. Gleichwohl wollte sein Gewissen nicht schweigen, und dieser Selbstvorwurf war die einzige, wahrhaft peinliche Empfindung, die ihn in diesen Tagen erfüllte. Hingegen dachte er an jenen fremden Mann im Ladungsschein kaum mehr, geschweige denn, daß ihn dieser Umstand mit Unruhe erfüllt hätte – das war irgend ein Versehen, das sich sicherlich harmlos genug erklärte – was konnte es auch anderes sein? Höchstens, daß er sich, wenn es ihm beifiel, sagte: »Ich muß die Mutter bitten, daß sie es richtig stellen läßt.« Aber das hatte ja Zeit, ebenso Zeit wie zu erfahren, wie ihm Rabbi Manasse gesinnt war.

Etwas anderes aber hätte er allerdings gern gewußt: ob die Mutter die Bücher in seiner Lade entdeckt. Aber zu fragen wäre ja Torheit gewesen; es brachte sie vielleicht erst auf die Spur. Er mußte warten, bis er kräftig und schwindelfrei genug war, um die steile, hohe Leiter zu seiner Kammer emporzuklimmen.

Endlich – es war in den ersten Tagen des Mai – fühlte er sich dazu im stande, schlich sich eines Morgens, während die Mutter am Schranken stand, in den Flur und begann die Sprossen emporzusteigen. Aber sie hatte ihn gewahrt und kam hastig nachgestürzt.

»Komm herab!« rief sie angstvoll. »Du fällst ja hinunter!«

»Aber wie denn?« beruhigte er sie. »Ich bin's doch gewohnt.«

»Ich fleh' dich an!« rief sie. »Hab' ich nicht genug Angst um dich ausgestanden?«

Daraufhin gab er nach und stieg hinab. »Aber morgen mußt du's erlauben«, sagte er.

»Darüber reden wir noch«, erwiderte sie, klagte dann aber dem Marschallik, als er zur gewohnten Stunde erschien, ihre Not.

»Dann muß ich mit ihm reden«, sagte er.

»Aber es wird ihn aufregen«, wandte sie angstvoll ein.

»Wenn ich mit ihm red'?« rief er. »Gebt acht, dann dankt er uns noch dafür. Nun gebt mir auch noch Luisers Schein«, sagte er.

Sie holte das Schriftstück aus einer Truhe, wo sie es sorglich, in ein Taschentuch eingeschlagen, aufbewahrt. Aber der Marschallik knüllte es zusammen und steckte es dann nachlässig gefaltet in die Brusttasche.

»Was tut Ihr?« rief sie erschreckt.

»Vernünftiges, wie immer«, sagte er.

Lächelnd trat er in die Wohnstube und setzte sich zu seinem Schützling.

»Lieber Sender«, begann er, »bin ich eine Katz'? Nein. Bist du ein heißer Brei? Nein. Haben wir einander lieb? Ja. Also will ich vernünftig und gradaus mit dir reden.«

Sender war rot geworden. »Ja«, sagte er, »es ist nötig, Reb Itzig. Redet!«

»Das ist aber nicht so nötig«, meinte der Marschallik, »als daß du antwortest! Weil ich aber nicht dumm bin, so frag' ich lieber gar nicht nach Sachen, über die du mir wahrscheinlich doch nicht antworten würdest. Also zum Beispiel, von wem du Deutsch lesen und schreiben gelernt hast?«

Er machte eine Pause.

»Ihr seid wie immer der Klügste«, sagte Sender mit verlegenem Lachen, »darauf würd' ich Euch wirklich nicht antworten, wenn Ihr fragen würdet.«

»Und von wem du die Bücher hast, wirst du natürlich auch verschweigen wollen.«

Aber trotzdem hielt er wieder inne und blickte Sender erwartungsvoll an.

»Natürlich!« erwiderte dieser.

»Nun aber kommt eine Frag'«, fuhr der Marschallik veränderten Tones fort, »auf die du antworten wirst. Betreffen diese Bücher unseren Glauben? Willst du Christ werden?«

»Nein!« beteuerte der Pojaz und fuhr erschreckt empor.

Der Marschallik nickte.

»Also du hast dabei einen vernünftigen Zweck und hoffst Nutzen davon zu haben?«

»Ja! Aber was es ist, kann ich Euch heute nicht sagen!«

»Sondern wann?«

»Spätestens im Januar.«

Der Marschallik blickte ihn forschend an. Sender hielt den Blick aus.

»Gut«, sagte der Alte, »du warst bisher immer ein frommer, guter Jung' und ganz klug – ich red' kein Wort mehr darüber, bis du selbst davon anfängst. Was du aber den anderen erzählen willst, ist deine Sach'. Nun aber was anderes, kannst du schon bis zum Januar davon leben?«

Sender verneinte kleinlaut. »Sonst wär' ich ja nicht bei Jossele für einen Gulden monatlich geblieben.«

»Dann ist's dir am End' ganz angenehm, daß ich dir was anderes gefunden hab'. Freilich nur um kleinen Lohn, und ob dir die Arbeit recht sein wird, weiß ich auch nicht.«

»Mir ist alles recht«, erwiderte Sender.

Nun setzte ihm der Marschallik weit und breit auseinander, was er mit Dovidl vereinbart. »Sieben Gulden monatlich. Gestern hab' ich's mit ihm abgeschlossen.«

»Reb Itzig«, rief Sender jauchzend und faßte seine Hand, »wie soll ich Euch danken?«

»Narrele!« wehrte der Marschallik ab. »Hab' ich's denn deinetwegen allein getan? Auch um den Maklerlohn. Denn daß ich dir's nicht verschweig', auch drei Gulden für mich hab' ich ihm abgedrückt. Es reicht zu einer feinen Jacke für meine Jütte... Und dann, vielleicht verträgst du dich mit Dovidl gar nicht, er fährt ja täglich fünfzigmal aus der Haut und zappelt, daß es einem beim Zusehen schwindelt. Aber ich hab' mir gedacht, es ist doch ein Anfang, und immerhin für dich besser, als wenn ich's mit dem Luiser versucht hätt'. Denn der ist gar hoffärtig auf seine Schreiberei, und kann dabei noch weniger als Dovidl. Er kann ja nicht einmal aus der Matrikel einen Ladungsschein schreiben. Ich weiß nicht, ob du's bemerkt hast – du hast in jenem Augenblick größere Sorgen gehabt, du Ärmster – aber er hat dir ja im Ladungsschein einen fremden Namen beigelegt... ›Glatteis‹ – glaub' ich – hahaha! – ein schönerer ist ihm für dich nicht eingefallen...«

Auch Sender mußte lächeln. »Ich erinnere mich«, sagte er.

»Er war ganz bestürzt, wie ich's ihm gesagt hab'«, fuhr der Marschallik fort. »Du kannst dir denken, ich hab' ihn auch gehörig damit aufgezogen. ›Gebt ihn mir zurück‹, bittet er. ›Ich will einen anderen schreiben, es kann mich mein Amt kosten.‹ Da geb' ich ihm den Schein zurück. ›Hier – und ein richtiger ist nicht nötig‹, sag' ich. ›Die Losung ist vorüber.‹ Aber er schreibt ihn doch und drängt ihn mir auf. Mir scheint, ich hab' ihn noch bei mir.«

Er griff in die Schoßtasche seines Kaftans. »Am End' hab' ich ihn verloren. Na, deshalb erschlägst du mich nicht.«

»Gewiß nicht«, lachte Sender.

Der Marschallik griff nach der Brusttasche.

»Halt – da ist er! So – da hast du dein Dokument, kauf' dir eine feuerfeste Kasse und leg's hinein.«

Sender überflog den Schein.

»Hahaha«, lachte er. »›Friher‹ – ›anterer‹ – ›geheusen‹ – in jedem Wort ist ein Fehler.«

Türkischgelb blickte ihn ehrfurchtsvoll an.

»So gut Deutsch kannst du schon?« fragte er. »Dann brauchst du am End' keine Bücher mehr?«

»O doch!« rief Sender.

»So? Wozu? Ich rat' dir, laß das bleiben. Sonst bekommst du noch Händel mit dem Rabbi. Und ich hab' dich so schwer genug mit ihm ausgesöhnt.«

»Also ist's Euch gelungen? Ich dank' Euch herzlich. Sonst hätt' ich ein schweres Leben hier gehabt.«

»Aber wie gesagt, leicht war's nicht«, fuhr der Marschallik fort. »Du wirst staunen, wie weit ich ihn gebracht hab'. Du wirst ihm einen Besuch machen und dann durch zwei Jahre täglich fünf Psalmen sagen. Ist das nicht fürchterlich?«

Sender lachte laut auf. »Ganz fürchterlich!« rief er.

»Dann hat er noch einen Schwur verlangt, daß du nie mehr ein deutsches Buch anrührst. Aber er sieht ein, daß jetzt keine Red' mehr davon sein kann. Bei Dovidl mußt du ja die deutschen Gesetze lesen lernen!«

»Natürlich! – Dann ist ja alles in schönster Ordnung.«

»Gnädig von dir, daß du das anerkennst. Wirklich, recht gnädig! Aber wie schwer die Sach' war, bedenkst du nicht. Anfangs haben er und die ganze Gemeinde getobt wie die Wahnsinnigen. Er läßt deine Mutter und mich rufen: ›Schwört mir, daß keine unheiligen Bücher im Hause sind. Sonst such' ich und verbrenne, was ich finde, und von Schonung ist dann nie mehr die Rede.‹ – ›Da müssen wir doch erst nachsehen‹, sag' ich. Wir suchen und finden – nun, du weißt ja!«

Er stieß ihn schelmisch in die Rippen. »Deine Mutter war sehr erschrocken, ich aber behalt' ruhig Blut. ›Was ist da Schlimmes? Schlimm wär's nur, wenn der Rabbi selbst die Bücher fänd'. Dann kann Sender nicht mehr in Barnow bleiben.‹ Denn, na, Sender –« wieder ein freundschaftlicher Rippenstoß – »dir brauch' ich ja nicht zu sagen, was für Bilder in dem einen Buch waren... ›Aber, wenn wir sie verbrennen, so erfährt niemand was davon, und für Sender ist's kein Schade‹, sag' ich.«

»O doch!« rief dieser erblassend. »Sind sie verbrannt?«

»O du Weiser!« rief der Marschallik spöttisch. »Entweder waren die Bücher gottlos. Dann war's für dich ein Nutzen. Oder sie waren nicht gottlos. Dann –« er zwinkerte ihn mit den Augen an – »dann gilt doch auch von deutschen Büchern dasselbe wie von hebräischen – sie werden nicht bloß in einem Stück gedruckt, und wer sieben Gulden Monatslohn hat und sich, weil es zu seinem Geschäft gehört, so viel deutsche Bücher, wie er will, kommen lassen kann, kann sie sich nochmals kaufen – oder gar, hehe! schenken lassen. Aber hätten wir sie nicht verbrannt – dann hätt's keine solche Stellung für Sender Kurländer gegeben, und keine sieben Gulden, sondern er wär' zur Stadt hinausgejagt worden. Also – verdienen wir deinen Dank oder nicht?«

»Gewiß«, meinte der Jüngling mit etwas sauersüßer Miene, aber doch aufrichtig. In der Tat – der Verlust ließ sich ersetzen.

»So bedank' dich auch bei deiner Mutter dafür!« sagte der Marschallik. Als es Sender tat, wurden die Augen der alten Frau starr vor Erstaunen und Bewunderung.

»Reb Itzig«, rief sie, »warum hat Euch Gott nicht Minister werden lassen?«

»Weil er weiß«, erwiderte er, »daß dazu weniger Verstand gehört, als zu einem richtigen Marschallik. Also – morgen bringen wir die Sach' mit dem Rabbi ins reine und nächsten Sonntag trittst du bei Dovidl ein. Frau Rosel, wenn Ihr glaubt, daß ich's verdient hab', so tät' ich um ein Gläsele Met bitten!«


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