Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Viertes Kapitel

Nun wechselt der Schauplatz dieser Geschichte; sie spielt nicht mehr in Barnow, sondern in Buczacz. Aber da dies gleichfalls ein erbärmliches galizisches Judennest ist und im selben Kreise, nur fünf Meilen von Barnow liegt, so ist dies anscheinend kein großer Unterschied. Aber nur anscheinend, in Wahrheit trennt die Bewohner beider Städtchen die tiefste Kluft. Wohl sind sie gleich ungebildet, gleich arm, gleich mißachtet, wohl tragen sie die gleiche Tracht und beugen sich demselben Gotte, aber sie dienen ihm in grundverschiedener Weise.

Die Juden von Barnow sind »Chassidim«, Mucker und Schwärmer, wilde, phantastische Fanatiker, die zwischen grausamer Aszese und üppiger Schwelgerei seltsam hin und her schwanken. Sie halten sich – daher ihr Name – für die »Begnadeten« unter den Juden, weil ihnen andere tiefere Quellen der Offenbarung fließen: jene der »Kaballa«, namentlich des Buches »Sohar«. In Buczacz hingegen wohnen »Misnagdim«, harte, nüchterne Leute, die vor allem die Bibel ehren, den Talmud aber nur insoweit, als er die Bibel erläutert, wie denn überhaupt die Geltung dieses Konversationslexikons bei keiner Sekte eine bindende ist, ja nicht einmal sein kann, weil es nicht viele Fragen gibt, über die der Talmud nicht sehr verschiedene Ansichten enthielte. Praktische, kühle Menschen, leben die Misnagdim schlecht und recht den Gesetzen ihres Glaubens nach, halten aber die zehn Gebote für wichtiger als alles andere, erklären sich die Wunder in möglichst natürlicher Art, sind jedoch im übrigen jeder überflüssigen Grübelei abgeneigt. Jedes Gleichnis hinkt, vielleicht darf hier gleichwohl an den Gegensatz zwischen den protestantischen »Stillen im Lande« und den Rationalisten derselben Konfession erinnert werden – es ist aber eben nur ein entfernt ähnliches Verhältnis.

Da der Glaube der Juden des Ostens in allen Stücken das belebende Moment ist, der Urquell und Endzweck allen Strebens, so sind die Juden von Barnow und die von Buczacz in der Tat grundverschieden. In Barnow wird viel gefastet, aber auch viel gezecht, in Buczacz bewegt sich das Leben in gemessenem, einförmigem Geleise; in Barnow wird den lieben, langen Tag über gelehrte Dinge disputiert und nur in den Zwischenpausen gearbeitet oder gewuchert, die Buczaczer widmen sich dem Handwerk und Handel; der Fleiß, die bürgerliche Ehrenhaftigkeit sind größer, die Achtung vor geistiger Tätigkeit und die Opferfreudigkeit für Armut und Gelehrsamkeit geringer. Die Barnower sind exzentrisch und leidenschaftlich, die Buczaczer gelten als harte, berechnende Menschen. Die gleiche Frömmigkeit und der gleiche Druck von außen machen freilich diese Verschiedenheit dem flüchtigen Blick unkenntlich; der Pole oder Ruthene merkt es kaum, daß in Buczacz eine andere geistige Atmosphäre herrscht, als in den übrigen Städtchen des Kreises, wie auch dem schlesischen Wasserpolaken der Unterschied zwischen einem Herrnhuterorte und einer protestantischen Industriestadt nicht ganz klar ist. Der Kundige kann ihn freilich nicht übersehen.

Auf diese Eigenschaften der »Misnagdim« baute die Rosel Kurländer ihre Hoffnung. Wenn ein Gast irgendwo schlecht bewirtet worden ist, so sagen die Leute in Podolien: »Man hat ihn aufgenommen wie die Buczaczer einen ›Schnorrer‹.« Diese nüchternen Leute haben einen Abscheu gegen alle unsteten Lumpen, auch wenn diese sehr fromm sind und lustige Geschichten erzählen. Hier konnte der Knabe, rechnete die kluge Frau, am leichtesten Verachtung jenes Lebens lernen, zu welchem ihn geheimnisvoll die Stimme des Blutes zog. Sie gab ihn in das beste Cheder zu Buczacz, das ein gutmütiger, wohlbeleibter Mann leitete, Simon Baumgrün.

Simon prügelte nicht gern, weil er dabei in Hitze kam, auch begnügte er sich mit drei bis vier Stunden täglichen Unterrichts. Der gravitätische, unbehilfliche Mann ward von seinen Schülern aufrichtig geliebt, weil sie herausfühlten, daß er sie liebte. Auch unser »Pojaz« machte da wohl im Grunde seines Herzens keine Ausnahme, aber er offenbarte diese Liebe in recht eigener Weise...

In den ersten Wochen ging freilich alles gut. Der Schmerz der Trennung war leicht verwunden; die fremde Umgebung beschäftigte den Knaben. Zwar kamen ihm die Leute von Buczacz langweiliger vor als jene der Heimat, dafür war's aber bei Simon Baumgrün besser als bei Elias Wohlgeruch. Aber der gute Simon hatte ein komisches Äußere und das nährte den Dämon, der in dem hastigen Buben hauste. Sender äffte dem Lehrer nach, erst heimlich, dann offen, er tat ihm tausend Streiche an. Wenn Simon in seiner Dose statt seines »gemischten Ungarischen« Sand fand, wenn er sich nicht wieder vom Sessel erheben konnte, weil dieser mit Leim bestrichen war, wenn er statt des Taschentuchs einen Kinderstrumpf hervorzog, wenn er statt des guten alten Moldauers, welcher zu seiner Labe bereit stand, den sauersten Essig zu kosten bekam – der »Pojaz« hatte es verschuldet, dies und noch viel mehr. Denn nur während des Unterrichts war der Lehrer der Gegenstand seiner Vergnügungen, für den Rest des Tages die ganze Gemeinde.

Noch heute erzählen die Leute von Buczacz, halb ärgerlich, halb belustigt, tausend Streiche von dem Kobold, der drei Jahre in ihrer Mitte gehaust.

Da kamen einmal in der Frühe jene Männer und Weiber, die regelmäßig in der Lotterie zu spielen pflegten, unter großem Freudengejohle vor der Türe des Kollektanten zusammen und jeder versicherte, Gerson, der Kollektant, sei gestern abend bei ihm gewesen und habe ihn aufgefordert, morgen früh einen großen Gewinn zu erheben.

Als ihrer immer mehr zusammenkamen, alle mit gleich strahlenden Gesichtern, da ward ihnen die Sache doch etwas bedenklich. »Gerson hat sich vielleicht geirrt«, meinte wohl der und jener, aber jeder war überzeugt, der Irrtum beziehe sich auf des Nachbars Gewinst.

Endlich begannen sie unwillig an der verschlossenen Ladentür zu pochen. »Gerson, mach auf! Gerson, mein Geld!« Und sie wurden immer ungestümer, bis endlich das Weib des Kollektanten erstaunt öffnete.

»Es hat ja diese Woche niemand gewonnen«, versicherte sie, »und eben darum ist mein Mann, weil ohnehin nichts zu tun war, gestern nachmittag nach Kolomea gefahren!«

»Aber er ist ja gestern abend an meiner Tür gewesen«, schrie der eine.

»An meinem Fenster!« schrie der andere.

»Meine Nummern sind herausgekommen 2, 5, 27.«

»Meine, meine 17, 48, 80.«

»Schweigt, ich hab' ein Terno, 46, 57, 89.«

Der Lärm wurde immer größer – die Frau wußte sich der Anstürmenden nicht zu erwehren und schrie um Hilfe.

Schließlich stand die ganze Gemeinde um den Laden, die Betroffenen wütend, die Zuschauer lachend. Der Knabe aber, der durch sein Nachahmungstalent den ganzen Spuk angerichtet hatte, saß zur selben Zeit mit ungewohntem Ernst zu Füßen seines Lehrers und nur zuweilen zuckte es wie ein Blitz über das blasse Antlitz.

Dieses Talent entwickelte sich überhaupt immer mehr und es ist schwer zu sagen, ob die Juden von Buczacz mehr Freude oder mehr Verdruß davon hatten. Auch der harmloseste Mensch hört es gern, wenn man seinen lieben Nächsten ein wenig verspottet, und darum war Sender in den meisten Häusern ein gern gesehener Gast.

Da stellte sich der Knabe hin: »Ratet, wer ist das?« Und dann hörte man eine sanfte Lispelstimme: »Erbsen! immer Erbsen! Weib! warum gibst du mir niemals Fleisch?« Worauf eine polternde Frauenstimme erwiderte: »Mit Braten bist du aufgewachsen? Verdien dir das Fleisch!« Der Mann fuhr fort zu flehen, das Weib zu poltern – man brauchte bloß die Augen zu schließen und hätte schwören mögen, da zanke sich der kleine Chaim Roser wieder einmal mit seinem großen Weibe Rifka.

Ein Hauptstücklein des Knaben war's, sonderbare Käuze in verschiedenen Gemütszuständen vorzuführen – zärtlich oder betrunken, zornig oder furchtsam. Seinem Lehrer hatte er vollends jede Gebärde abgeguckt – es war den Zuschauern fast unheimlich ob solcher Naturtreue.

Aber er bedurfte dazu nicht erst langjähriger Beobachtung.

Da war einmal ein berühmter Rabbi ins Städtchen gekommen, verweilte über den Sabbat und hielt am Vormittag eine Gastpredigt. Am Nachmittag war bei Moses Fränkel, einem reichen Manne, in dessen Hause der Rabbi abgestiegen war, zu dessen Ehren ein Fest. Niemand wurde besonders geladen, es war nach der Sitte dieser Kreise selbstverständlich, daß jeder kam, der Lust dazu hatte, Greise, Männer und Knaben. Darunter natürlich auch Sender.

Während sich die Frauen des Hauses in einem Nebengemach um die Gattin des Gastes scharten, suchten die Männer den hochwürdigen Herrn nach Kräften zu vergnügen. Zu diesem Zwecke ward ihm auch Sender vorgeführt und machte seine Stücklein.

»Könntest du auch nachahmen, wie ich rede?« fragte der Rabbi.

»Warum nicht?« erwiderte der Knabe und begann eine Kopie der Predigt, Zug um Zug getreu, bis auf die Art des Atemholens.

Die Leute sahen sich verlegen an, der Rabbi lächelte, aber immer gezwungener. Da ward die Tür des Nebengemachs geöffnet. »Verzeiht«, sagte die Dienerin, »aber die Rebbezin möchte hören, was ihr Mann predigt.«

Die eigene Gattin des Mannes hatte sich täuschen lassen!

So ward Sender unter den nüchternen Leuten von Buczacz nicht selber nüchtern, steckte sie vielmehr mit seinen Torheiten an.

Aber es ging dabei nicht immer so harmlos zu. Der schlanke, blasse Junge steckte voll Tücken und Nücken. Nur aus Übermut und weil es nun einmal Menschenart ist, seine Krallen zu brauchen, wenn man sie hat; wer sie nicht hat, findet das freilich unverzeihlich. Aber gut war der Junge dabei doch, grundgut und warmherzig. Er achtete nicht auf Besitz. Schenken war seine Leidenschaft, und einmal kam er ohne Stiefel, ein andermal ohne Hut heim, weil er sie an Arme verschenkt hatte.

Solche Züge versöhnten den guten, dicken Simon immer wieder mit seinem ungezogenen Zögling. »Eben ein Pojaz!« sagte er achselzuckend.

Minder gleichmütig nahm es die Rosel, als sie endlich nach zwei Jahren zum dreizehnten Geburtstage Senders nach Buczacz hinüberkam und die Ergebnisse der Erziehung überblickte. Mit dem vollendeten dreizehnten Jahre tritt der jüdische Knabe, wie bereits erwähnt, in den Bund der Männer, und dies ist auch in der Regel die Zeit, wo er einen bestimmten Beruf wählen muß.

»Meine liebe Frau Rosel«, sagte Simon bekümmert, »fünfhundert Knaben habe ich bis zum dreizehnten Geburtstag unterrichtet, fünfhundert Ratschläge habe ich gegeben – Euch weiß ich keinen. Zum Handelsmann taugt der Junge nicht – er schenkt ja alles weg! Zum Gelehrten auch nicht – er hat einen guten Kopf, aber keinen Fleiß!«

Die kluge Frau faßte sich rasch und wußte Rat.

»Dann muß er eben ein Handwerker werden«, entschied sie und gab ihn zu einem Uhrmacher in die Lehre.

So begann der dritte Abschnitt im Leben dieses sonderbaren Menschen, aber er endete jäh und bald.

Auch hier ging anfangs alles prächtig. Der Lehrherr, Hirsch Brandes, war nicht bloß der beste Uhrmacher des Kreises, sondern auch einer der vernünftigsten Männer von Buczacz. Er hielt den Knaben kurz, und dieser fügte sich, solange ihn die veränderten Verhältnisse und das neue Handwerk interessierten. Dann begann er sich zu langweilen und machte tausend tolle Streiche. Und endlich auch einen, infolgedessen er die Stadt verlassen mußte.

Da schlug nämlich einmal in später Abendstunde eines Herbsttages der Holzklöppel des Schuldieners von Buczacz, des kleinen, melancholischen Mendele, dreimal im wohlbekannten Takte an alle Fenster des Städtchens und mit seiner näselnden, ewig umflorten Stimme forderte Mendele die Leute auf, morgen schon um vier Uhr zum Gebete zusammenzukommen, der Rabbi befehle es und werde morgen selbst den Grund offenbaren.

Seufzend erhoben sich schon in der dunklen, kalten Frühe die Familienhäupter aus ihren warmen Betten und schlichen zur »Schul«. Aber das Gotteshaus war verschlossen und nun warteten sie zähneklappernd auf Mendele und den Rabbi.

Inzwischen waren auch diese beiden geweckt worden.

Der Rabbi hörte an seinem Fenster die wohlbekannten drei Schläge, und als er sich aufrichtete und erschreckt rief: »Mendele, was ist geschehen?« erwiderte dieser: »Auf, Rabbi, in der Schul' steckt ein böser Geist und poltert. Es stehen schon eine Menge Leut' draußen, aber ohne Euch trauen sie sich nicht hinein!«

»Gott! Gott!« rief der alte Mann entsetzt, »es ist gewiß Berisch, der Schenker, der keine Ruh' im Grabe hat, weil er so viel Wasser in den Schnaps gegossen hat!«

Und er fuhr hastig in seine Kleider.

Gleich darauf klopfte es an Mendeles Fenster: »Ich bin's«, rief eine kreischende Frauenstimme, »Mirl, die Köchin des Rabbi! Ihr sollt sogleich mit den Schlüsseln zur Schul' kommen. Drinnen hört man einen bösen Geist, die halbe Gemeinde steht schon draußen!«

»Gottes Schutz über Israel«, stöhnte das Männchen erschreckt und stürzte halbbekleidet zur Schul'.

»Hört ihr's schon lang?« rief er den Männern entgegen.

»Was?«

»Den bösen Geist, der drinnen ist?«

»Bist du verrückt – man hört ja nichts!«

»Aber der Rabbi hat es mir sagen lassen.«

Im selben Augenblick kam auch dieser herangekeucht.

»Leut'!« rief er, »es ist Berisch, der Schenker!«

»Der ist ja begraben!«

»Eben darum! Ein Lebendiger kann nicht als Geist des Nachts in der Schul' poltern.«

»Aber es poltert ja nichts, Rabbi!«

»Wie? Mendele hat mich doch geweckt!«

»Rabbi! Ihr habt mich ja wecken lassen, durch Eure Köchin!«

»Was?... Was?... Du warst ja bei mir!«

»Aber Mendele, warum hast du uns gestern abend herbestellt?«

»Ich euch? – Verrückt seid ihr!«

»Verrückt bist du, du warst ja bei uns allen!«

»Ich?«

Dem armen Mendele begann es im Hirn zu wirbeln und nicht minder dem Rabbi und den Leuten. So schrieen, riefen, klagten, schimpften sie wirr durcheinander, in dichtem Knäuel schoben sie sich hin und her, die tiefe Dunkelheit mehrte den Wirrwarr – es war eine unbeschreibliche Szene.

»Ein böser Geist«, rief plötzlich einer mit durchdringender Stimme, »das kann nur ein Geist angestiftet haben.«

»Ein Geist«, wiederholten die anderen und schoben sich noch enger zusammen. »Horch! da klopft es ja wirklich in der Schul'.«

In der großen Aufregung hörten sie in der Tat, was nicht zu hören war.

Da faßte sich endlich einer und rief: »Hört mich, ihr Leute! Ein böser Geist hat es angestiftet und aus vernünftigen Leuten Verrückte gemacht. Aber vor dem braucht ihr euch nicht zu fürchten.«

Es war Hirsch Brandes, der Uhrmacher. »Umsonst ist mein Sender gestern abend nicht so spät nach Hause gekommen!« fügte er bei.

»Der Pojaz!« riefen alle – es fiel ihnen wie Schuppen von den Augen. »Erschlagen soll man ihn – kommt – kommt – lebendig kommt er uns nicht aus den Händen!«

Aber da rief Hirsch Brandes: »Laßt das mir, ihr Leut', er soll sein Teil bekommen, und dann hinaus mit ihm – aus meinem Haus und aus der Stadt!«

So geschah's. Als Sender um die Mittagsstunde desselben Tages Buczacz verließ, da nahm er nicht bloß im Herzen, sondern auch in anderen Körperteilen lebhafte Erinnerungen mit an die Stadt seiner Jugend.


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