Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Die Mutter folgte dem Rat des Marschallik. Sie ließ Sender allein. Wohl eine Stunde vernahm sie aus der Stube keinen Laut. Endlich trat er heraus, nickte ihr stumm zu und schlug den Weg in die Felder ein.

Traurig blickte sie ihm nach. Es gab ihr einen Stich durchs Herz, wie bleich er war. »Er ist nicht mein Fleisch und Blut«, dachte sie, »aber doch ein Mensch wie ich. Wie hart ihm alles fällt, sogar sein Glück.«

Und da täuschte sie sich nicht. Bitterhart wurde es dem armen Jungen. Zwar hatte er nun, während er ziellos über die Stoppelfelder dahinschritt und immer weiter in die Heide hinaus, bereits seine Wahl getroffen, eigentlich schon früher, während der Unterredung mit dem Marschallik, aber in seiner Brust war's darum nicht friedlicher geworden. Natürlich mußte er um Malke werben, nicht allein, weil es das Gewissen gebot und weil ihn die Gewißheit ihrer Gegenliebe berauschte, sondern weil es ihm glattweg unmöglich schien, künftig ohne sie zu leben.

Aber sein Ziel! Sein heißersehntes, so recht um den Preis seines Herzbluts angestrebtes Ziel rückte ihm nun in die Ferne. Freilich brauchte er nicht ganz darauf zu verzichten – der Marschallik hatte ihn erst auf diesen trostreichen Gedanken gebracht, aber der lag ja auch sonst nahe genug – gab es nicht auch verheiratete Schauspieler, war nicht auch Nadler verheiratet? Hätte er um Malkes willen seinem Beruf entsagen müssen – ihm schauderte; »wer weiß«, dachte er, »wie ich mich dann entschieden und ob ich es überlebt hätte!« Drückte ihn doch nun schon der Gedanke zu Boden, daß er vielleicht ein Jahr länger harren mußte, denn gleich nach der Hochzeit konnte er ja doch nicht fort.

Aber je weiter er in die herbstliche, rotschimmernde Heide hinausschritt, desto heller wurden seine Gedanken. Vielleicht brauchte er nicht einmal ein Jahr zu warten – Malke war ja kein gewöhnliches Weib, sie mußte sein Ziel verstehen und förderte ihn gewiß, statt ihn zu hindern. Vielleicht hatte auch sie Talent zur Kunst – doch nein, den Gedanken verbannte er, kaum daß er ihm aufgestiegen; sein Weib, sein schönes, geliebtes Weib sollte nicht vor die Menge treten. Er allein – aber sie sein Leitstern, ihre Zustimmung sein schönster Lohn, seine Triumphe das Glück ihres Lebens. Er warf sich ins Heidekraut und schloß die Augen, um besser träumen, sich die Bilder der Zukunft ausmalen zu können; ein seliges Lächeln lag auf seinen Zügen. Er hatte die Liebe, so lang er sie nicht kannte, an anderen komisch gefunden, eine »Narrheit«, die er nie mitmachen wollte – und so fremdartig war ihm diese Empfindung erschienen, daß er zweifelte, ob er je Verliebte werde spielen können. Dann, als sie unerwartet über ihn gekommen, hatte sie ihm Schmerz, Wirrnis und Aufregung genug gebracht, aber keinen Augenblick des Glücks. Nun aber flutete es auf ihn nieder, mit jedem Atemzug voller und reicher, daß er all die Seligkeit kaum zu ertragen vermochte. »O wie schön das ist«, murmelte er, »wie schön... wie schön...« und dann leise ihren Namen. Ihm wurde die Brust zu eng, er richtete sich auf, um leichter atmen zu können. »Wie schön...« und plötzlich brachen ihm die Tränen aus den Augen und überfluteten sein Antlitz.

»Ich Narr«, sagte er endlich lächelnd und wischte sich die Tränen fort. »Da liege ich einsam auf der Heide und weine, statt bei meiner Braut zu sein und mich mit ihr zu freuen.« Er blickte um sich. Noch schimmerte die Heide in satter, roter Farbenglut, aber die Sonne war im Sinken, im Osten glitt eben die weiße Mondsichel empor.

Er sprang auf und schritt der Stadt zu, anfangs rasch, dann immer langsamer. »Halt«, dachte er, »meine Braut wird sie erst morgen. Ich will sie auch heute gleichsam zufällig treffen. Anders freilich werden wir schon jetzt miteinander sprechen als sonst – jetzt, wo ich weiß –«

Er lächelte. »Wie sie sich verstellt hat! Was so ein Mädchen kann! Über jedes freundliche Wort war sie ordentlich böse.« Er fühlte eine Empfindung des Unbehagens, der Unsicherheit in sich aufsteigen. Aber er schüttelte sie ab, »Unsinn – jetzt, wo sie es Taube gestanden hat –«

Dennoch ging er immer langsamer, und als er von fern ein Licht aufschimmern sah, die Laterne am Mautschranken, welche die Mutter eben angezündet, hielt er den Fuß an und blickte hinüber. »Soll ich's der alten Frau schon heute sagen?« murmelte er.

Er entschloß sich, es nicht zu tun. »Zuerst muß Reb Hirsch seine Einwilligung geben. Der Marschallik meint zwar, daß sie sicher ist, und wollte er etwa ›nein‹ sagen, so bringen Malke und ich ihn gewiß herum, aber die Mutter soll nicht drum zittern. Morgen, wenn alles in Ordnung ist, freut sie sich doppelt.«

Er ging weiter, dem Marktplatz zu, aber immer zögernder. Die Dämmerung war hereingebrochen, die Mondsichel warf ihr blasses Licht über die Gartenstraße, die er noch zu durchschreiten hatte; nun war sie wohl schon mit Taube vor dem Hause. »Wie red' ich sie an?« dachte er.

»Nun – mit dem Guten Abend«, lachte er dann auf, »das weitere findet sich.« Dennoch schlich er nun förmlich und das Herz pochte ihm immer ungestümer, je näher er dem Marktplatz kam.

Da war er endlich auf dem Platz und wieder nach einigen Minuten vor dem Hause des Vorstehers. Himmel, sie war nicht da. Aber da erschien sie eben mit Taube vor der Tür.

Er trat auf sie zu und bot ihr den Gruß. Sie erwiderte freundlich wie immer, wenngleich nicht so laut wie Taube, die ihm auch die Hand bot. Er drückte sie herzhaft und hielt dann Malke die Rechte hin. Er tat es heute bei der Begrüßung zum ersten Mal, und sie blickte befremdet auf. Dann rührte sie einen Augenblick mit ihren schlanken, weißen Fingern an die seinen.

Es verblüffte ihn mehr, als es ihn betrübte. »Gut!« dachte er, »ich will dir den Gefallen tun! Also heut' noch wie sonst!« Und darum trat er auch wie immer an Taubes Seite und schritt neben dieser her.

»Nun?« fragte die dicke, lustige Frau, »was bringt die Barnower Zeitung heut'?« So pflegte sie ihn zu nennen.

Er dachte nach. »Daß Dovidl Morgenstern aus der Haut fährt«, begann er, »wissen Sie schon. Aber halt! – eine Neuigkeit gibt's wirklich: der Prior hat bei einer Lemberger Malerin ein neues Altarbild bestellt. Ein Weib, das malt und gar Heilige fürs Kloster – das ist sehr komisch!«

»Warum?« fragte Malke. »Meine Cousine Viktorine Salmenfeld, die älteste Tochter meines Onkels Franz, malt auch solche Bilder und sehr gute. Sie hat sich in Wien als Künstlerin einen Namen gemacht und soll ebenso liebenswürdig wie begabt sein. Leider kenne ich sie nicht persönlich.«

»Leider?« rief Taube. »Du mußt gottlob sagen!«

»Warum? Weil sie Christin ist? Deshalb bleibt sie doch meine Blutsverwandte, und ich weiß, daß sie auch meiner freundlich denkt.«

»Aber Malke«, rief Frau Taube erschreckt, und Sender war es kaum minder. Nach seiner Anschauung zerschnitt die Taufe jedes Band. »Da sehen Sie das am Ende gern?« rief er angstvoll.

»Die Taufe? Nein, gern niemals. Und unter zehntausend Fällen ist kaum einer, wo sich nicht das geringste dagegen sagen läßt, denn häufiger, glaub' ich, trifft sich's nicht, daß es jemand aus innerster Überzeugung tut. Aber daneben gibt es Fälle, die man beklagen, aber nicht verurteilen darf, und der liegt bei meinem Onkel Franz vor. Aber wenige fassen sie gerecht auf. Mein Großvater, Nathan Salmenfeld, war ein lebenskluger, aber überaus strenggläubiger Mann, der seinen drei Söhnen ihr Lebensziel von Anbeginn vorgeschrieben hatte, der älteste, Froim, sollte Arzt, der zweite, Manasse, Advokat werden, der dritte, Hirsch, mein Vater, sein Wirtsgeschäft erben, aber alle sollten nicht minder fanatisch bleiben wie er selbst. So mußte Froim auch im Gymnasium den Kaftan tragen, auf der Universität, in Pest, bei Chassidim wohnen. Es war ein Höllenleben. Die Christen verhöhnten ihn und diesen Juden galt er auch nicht mehr für rein. Ist's ein Wunder, daß er da seinen Glauben mit all dem furchtbaren Zwang hassen lernte und ihn endlich abschüttelte? Ihn haben die Chassidim zum Christen gemacht! Mein Onkel Max aber, der jetzt Advokat in Czernowitz ist, hat dasselbe Martyrium durchgelitten und dann doch nur den Zwang abgeschüttelt, nicht den Glauben.« Und sie erzählte begeistert, welch herrlicher Mann dies sei, ein Vorkämpfer für die Rechte seiner Glaubensgenossen, aber auch für ihre sittliche Veredlung und Befreiung.

»Nächstens tauft der sich auch«, sagte Taube in ihrer gewohnten Weise, während Sender fragte: »Wie lange waren Sie in seinem Hause?«

»Sechs Jahre. In meinem achten Jahr' verlor ich die Mutter. Das ist ja gewiß das schwerste Unglück, das ein Kind treffen kann. Aber für mich hatte es doch noch ein Glück im Gefolge: ich kam in das Haus meines Onkels. Er und seine Frau haben mir die Eltern ersetzt, seine Kinder die Geschwister. Und einen besseren Lehrer als meinen Cousin Bernhard hätte ich nie haben können.«

Schon wieder dieser Bernhard! Aber Sender beruhigte sich wieder, als sie fortfuhr: »Freilich konnte er mich nur in den Ferien unterrichten; er war damals Student in Wien.«

»Dann ist er wohl schon in den dreißigen?« fragte er mit einem gewissen Behagen.

»Ja. Zweiunddreißig. Er ist jetzt noch Konzipient in der Kanzlei seines Vaters, hofft aber bald zum Advokaten ernannt zu werden. Wie seine Aussichten jetzt stehen, weiß ich freilich nicht. Denn ich erfahre immer weniger von der Familie«, fuhr sie mit einem leichten Seufzer fort, »mein Vater wird immer frommer, er ist nun seit Jahren auch mit seinem Bruder Max entzweit.«

»Aber du warst doch noch vor zwei Jahren in Czernowitz?« fragte Taube.

»Nur für einige Wochen, das hat er ausnahmsweise erlaubt.«

»Es muß Ihnen hart gefallen sein, nun wieder alles zu entbehren«, sagte Sender warm und blickte sie voll liebevoller Teilnahme an.

»Sehr hart«, erwiderte sie. »Sie verstehen mich!«

Das ermutigte ihn. »Nun wird's ja bald wieder besser werden«, sagte er mit leuchtenden Augen.

Sie blickte ihn befremdet an. »Wie meinen Sie das?«

Er errötete. »Das – das werden Sie ja erfahren«, stotterte er und versuchte zu lächeln. Es war ihm sehr willkommen, als im selben Augenblick die Frau des Vorstehers auf sie zutrat und die Geschichte vom Pater Ökonom und der Frau Putkowska, »der Viper von Barnow«, zu erzählen begann.

Dann trat auch Jossef Grün zur Gruppe. »Nun, Sender«, fragte er, »ich hoffe, deine Mutter war nicht allzu unglücklich über den Bescheid vom Bezirksamt?«

»Welchen Bescheid?«

»Hat sie ihn noch nicht? Wolczynski hat mir gesagt, er ist ihr bereits zugestellt: die Ablehnung ihres Gesuchs, daß ihr der Pachtvertrag verlängert wird. Der Lump hat's durchgesetzt und sie hat sich leider trotz meines Rats nicht mit ihm verständigt.«

»Es war ja nicht möglich«, erwiderte Sender, »aber ich glaube nicht, daß sie darüber sehr unglücklich sein wird.« In der Tat, dazu lag nun kaum Grund vor. Mit seinem Gewinn und einem Teil von Malkes Mitgift konnte er wohl auch so ihre Zukunft sichern.

Der Vorsteher und seine Frau gingen wieder, aber andere Bekannte traten heran. »Wie lange bleibt Ihr noch hier?« wurde Malke gefragt.

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie.«Wie es mein Vater bestimmt.«

»Es ist doch ein Unrecht«, dachte er, »daß man ihr noch immer nichts von seinem morgigen Kommen gesagt hat.«

Er teilte es ihr halblaut mit.

Die Wirkung war eine ganz unerwartete. Sie erbleichte und starrte ihn aus weitgeöffneten Augen erschreckt an.

»Um Gotteswillen«, murmelte er, »was haben Sie?«

Sie hatte sich gefaßt.

»Was ich habe?« fragte sie bitter, ja verachtungsvoll. »Ich soll mich wohl noch freuen, daß Sie es wissen und ich nicht? Ihnen hat es natürlich der Marschallik gesagt!«

»Ja!« gestand er. »Aber –« Da durchfuhr ihn ein Gedanke: sie glaubte offenbar, der Vater komme, um ihre Verlobung mit Mosche Grün zu feiern.

»Jetzt verstehe ich!« sagte er lächelnd. Freilich konnte er vor Taube nicht offen sprechen, aber es gelang ihm doch wohl, sich ihr verständlich zu machen. »Sie glauben, er kommt, um das – sagen wir das Geschäft, das der Marschallik vermitteln wollte, abzuschließen? Davon ist keine Rede mehr! Der Mann, der das Geschäft schließen sollte, hat eingesehen, daß es für ihn nicht passend ist, und ist zurückgetreten.«

»Wie?« rief sie fassungslos vor Freude. »Verstehe ich Sie recht? Sie schluchzte auf, griff nach seiner Hand und drückte sie.

Ihn durchrieselte es heiß. »Liebe Malke«, murmelte er. »Beruhigen Sie sich! Niemand wird Sie zwingen! Sie – Sie werden jenen Mann heiraten, den Sie selbst gewählt haben.«

Das ungestüme Glücksgefühl, das ihn durchflutete, machte seine Worte undeutlich, aber sie hatte ihn doch verstanden.

»Sender, lieber Sender!« stieß sie mit glühenden Wangen hervor und preßte seine Hand in ihren beiden.«Sie sind ein edler Mensch, Gott wird es ihnen lohnen – durch Glück und Ruhm auf Ihrer Laufbahn, die Sie sich erwählt haben.« Sie lächelte ihn durch Tränen an. »Sie kennen mein Geheimnis – aber ich auch das Ihre! Wir haben es wohl beide nur erraten?... Aber ich kann jetzt nicht so...« Ihre Stimme brach sich. »Ich danke Ihnen noch morgen. Bis in den Tod vergess' ich's Ihnen nicht.«

Und sie stürzte ins Haus.

»Was war das?« fragte Frau Taube erstaunt.

Er konnte nichts erwidern. »Gute Nacht«, murmelte er endlich und stürzte davon, ohne auf die Richtung zu achten. Erst als das Rauschen des Sered an sein Ohr schlug, hielt er an. Er war in die Anlagen zum Flusse gelangt. Auf die nächste Bank saß er nieder.

»Was war das?« sagte er endlich laut vor sich hin. »Ich glaube – eine Verlobung.«

Er schloß die Augen, wie nachmittags auf der Heide, und auch dasselbe selige Lächeln lag auf seinen Zügen.

Kühl strich der Herbstwind durchs entlaubte Geäst, der Fluß rauschte durch die stille, tiefdunkle Nacht, sonst war nichts hörbar, als das Schlagen der Glocken. Er aber vernahm auch diese nicht, nur die holde, weiche Stimme: »Sender – lieber Sender!«

Lange, lange saß er so. Er hat diese Stunden nie vergessen, trotz alledem, was ihnen gefolgt, niemals, und noch in der Sterbestunde hat ihn die Erinnerung daran gelabt, wie glücklich er in jener Nacht gewesen...

Als der Morgen nahte, erhob sich der Ostwind stärker und überdeckte ihn mit welken Blättern. Da endlich erhob er sich, heimzugehen.

Jenseits des Flusses sah er im ersten grauen Morgenschimmer die Ruinen des Schlosses ragen. »Da führ' ich sie einmal hin«, dachte er, »an dieser Stelle hat mein Glück begonnen. Wenn das der arme Wild noch erlebt hätte.«

Er ahnte nicht, wie bald er den Raum wieder betreten sollte und was dort seiner harrte.

Es war bereits lichter Tag, als er sein Lager aufsuchte. Schon nach zwei Stunden erhob er sich wieder, das Morgengebet zu sprechen. »Dank Dir, Gnadenreicher, der Du erfüllest, wonach unser Herz schmachtet!« Seit jenem Aprilmorgen, an dem ihn dann sein Blutsturz ereilt, hatte er diese Worte nicht mehr mit so heißer Inbrunst gesprochen.

Als er die Wohnstube betrat, kam ihm die Mutter besorgt entgegen.

»Du mußt heut' nacht spät heimgekommen sein«, sagte sie. »Ich war bis Mitternacht auf und habe dich erwartet. Gestern nachmittag hat mir der Bote diesen Brief vom Bezirksamt gebracht.« Sie reichte ihm den geschlossenen Brief hin.

»Wir wollen den häßlichen Brief nicht erst aufmachen, Mutter«, sagte er mit feuchten Augen. »Was sagst du immer: ›Gott nimmt nicht bloß, er gibt auch und gibt mehr, als er nimmt.‹ In dem Brief steht, daß du die Maut nicht mehr bekommst. Aber deshalb wollen wir doch fröhlich sein – heut' verlob' ich mich mit Malke. »

Mit einem Freudenschrei sank ihm die alte Frau in die Arme. Sie hielten sich lange und wortlos umschlugen.

»Gottlob«, rief sie dann und pries das schöne Mädchen. »Aber daß du damals das Bild gesehen hast, war doch nur ein Zufall, nicht meine Absicht.«

»Aber ein glücklicher Zufall«, sagte er fröhlich, »sonst hätte ich mich nicht so rasch in sie verliebt.«

Erst nach einer Weile griff Frau Rosel wieder nach dem Brief. »So lies doch«, bat sie.

Er tat's. »Es ist so, Mutter.«

»Aber was wird nun aus mir?« klagte sie.

»Eine zärtliche Großmutter«, erwiderte er und küßte ihre Stirne; »da gibt's noch mehr zu tun, als dem Kaiser die Maut einzuheben. Und angenehmer ist's obendrein, nicht wahr?«

Er fand den Laden bereits geöffnet, Dovidl am Schreibtisch einige Kunden bedienend. Aber unerhört genug! Er drohte nicht aus der Haut zu fahren und schwieg auch über den gestrigen Nachmittag. Und als Sender davon begann, erwiderte er freundlich: »Ich weiß ja, was vorgeht... Wenn du auch heut' nachmittag frei haben willst, so sag's nur.«

Nur zögernd räumte er dann den Platz am Schreibtisch. Er befürchtete offenbar, daß Sender heute noch mehr Unheil anrichten werde, als gestern. Aber der junge Mann war trotz der durchwachten Nacht und des Ereignisses, das seiner harrte, so klar im Kopf, so voll ruhigen, sicheren Glücksgefühls im Herzen, daß er die Arbeiten in der Lotterie, trotz des großen Andrangs – es war ja heute Dienstag – pünktlich erledigte und daneben noch Zeit fand, die Eingabe Fragezeichen-Ritterstolz fertig ins reine zu schreiben. Dennoch lehnte er den angebotenen Urlaub ab.

Als er zur Mittagsstunde heimging, begegneten ihm einige Lohnwagen. »Komisch genug wär's«, dachte er, »wenn da so mein künftiger Schwiegervater an mir vorbeiführe. Ich kenn' ihn ja nicht!« Und als er von fern einen Chorostkower Kutscher, seinen einstigen Kumpan von der Landstraße, in einem leichten Wägelchen daherkutschieren sah, blickte er neugierig hin. »Da könnt' Reb Hirsch wirklich kommen.« Aber drin saß nur ein Frauenzimmer, er wollte vorbei, ohne aufzublicken.

Da hörte er sich plötzlich angerufen, und gleichzeitig hielt das Wägelchen. Er sah auf und in das runde, wohlgenährte Antlitz Jüttes.

»Gottswillkomm!« rief er fröhlich und trat an den Schlag. »Welcher gute Wind bringt Euch her?... Aber bringt Ihr Euren Reb Hirsch nicht mit?«

»Der kommt morgen«, sagte sie unsicher und sah ihn aus den braunen Augen, die sonst so munter und durchdringend blickten, fast zaghaft an. »Wie – wie geht's Euch, Sender?«

»Dank' der Nachfrag'«, rief er lustig.« So gut wie noch nie! Euer Vater sagt Euch den Grund!«

»So?« fragte sie befangen und seufzte tief auf. »Und wie geht es –« Sie stockte. »Aber ich will Euch nicht aufhalten.«

»Habt Ihr in der Zwischenzeit das Seufzen gelernt?« fragte er lachend. »Reb Hirsch kommt doch gewiß morgen?«

»Gewiß«, erwiderte sie gedrückt, »wenn es nötig ist!«

»Dann kommt er«, lachte Sender. »Denn es ist dringend nötig. Auf Wiedersehen! Und grüßt Malke. Ich komm' Abends, wenn nicht schon früher!«

»Auf Wiedersehen!« murmelte sie betrübt und ließ den Kutscher weiterfahren.

Er machte sich nicht viel Gedanken über das veränderte Wesen des Mädchens; daheim erzählte er der Mutter doch davon lachenden Mundes. Auch sie lächelte.

»Merk' dir's, Sender! Jedes arme Mädchen, das noch keinen Bräutigam hat, seufzt bei der Verlobung ihrer reichen Freundin. Jütte wünscht deshalb doch dir und Malke gewiß das Beste.«

Er nickte fröhlich. Leise pfeifend ging er in den Laden zurück und an die Arbeit. Während er aber der Frau Putkowska einen Traum auslegte – diesmal hatte ihr nicht von einem rosa Seidenkleid geträumt, sondern von einer Geißel, – stürzte Mosche Grün herein, legte ein Briefchen vor ihn hin und lief davon.

Pochenden Herzens besah er die Adresse: »An Herrn Sender Kurländer, Wohlgeboren hier. Durch Güte.« Wie fein und zierlich sie schrieb. Drinnen stand:

»Lieber Freund!

Ich habe Sie dringend zu sprechen. Kommen Sie heute nachmittag vier Uhr zur Ruine. Ich werde Sie dort mit meiner Freundin Jütte erwarten.

Mit herzlichem Gruß                
Ihre treue Freundin          
Regina Salmenfeld.«

Selig, verzückt starrte er auf das Blättchen. Die Liebe, Gute wußte, wie sehr er sich nach ihr sehnte, und gewährte ihm freiwillig ein Stelldichein, nur um ihm für seine Werbung »zu danken«. Du lieber Himmel, sie ihm »danken«. Das hätte eine Barnowerin nicht getan, aber er hatte eben das Glück, eine »aufgeklärte« Braut zu haben. Jütte würde dabei sein, schrieb sie, natürlich, aber der alte Schloßhof war groß....

Es war halb vier. »Ich muß nun doch fort«, sagte er Dovidl, der ihn denn auch sofort entließ.

»Ich muß doch als der Erste da sein«, dachte er und eilte über die Seredbrücke den Hügel empor, in den Schloßhof. Aber als er den wüsten Raum betrat, sah er schon ein Frauengewand durch das kahle Geäst schimmern.

Es war Jütte. Sie saß auf der Bank neben dem verschütteten Brunnen und starrte gesenkten Hauptes vor sich hin. Als er näher trat, fuhr sie empor.

»Ihr – Ihr allein?« rief er und als er sah, wie bleich sie aussah und daß ihre Augen gerötet waren, stieß er zitternd hervor: »Was – was ist geschehen?«

In ihr Antlitz schlugen die Flammen. »Nichts«, murmelte sie. »Malke ist wohl, aber sie kommt nicht. Sie wollte es, aber es wäre... es wäre doch wohl über ihre Kraft gegangen.... Die Ärmste, welche furchtbaren Aufregungen hat sie in letzter Zeit erlebt! Aber auch um Euretwillen, Sender, habe ich sie davon abgebracht.... Derlei hört man aus fremdem Munde leichter.«

»Um meinetwillen?«... Er schwankte und griff nach dem steinernen Rand des Brunnens, sich zu halten.... »Was redet ihr da?«

»Hört mich an«, bat sie und faltete die Hände, »hört mich ruhig an. Es wird Euch hart treffen, ich weiß, sehr hart.« Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. »Aber es ist niemand daran schuldig.... Vielleicht mein Vater, aber auch er hat es gut gemeint.« Die Tränen erstickten ihre Stimme.

»Sprecht!« murmelte er.

Sie nickte. »Ich will es kurz machen. Aus Eurer Verlobung mit Malke kann nichts werden. Sie liebt seit ihrer Kinderzeit einen anderen, ihren Vetter Bernhard. Vor zwei Jahren hat sie sich mit ihm verlobt. Reb Hirsch wollte nichts davon wissen; ein ›Deutsch‹, der Schweinefleisch ißt – Ihr versteht. Es waren furchtbare Auftritte im Hause, auch die Stiefmutter war dagegen. Und die Frau ist sehr bös. Sie haben beschlossen, Malke mit einem Frommen zu verheiraten, auch gegen ihren Willen... Mein Vater hat sie vielen angetragen, aber – es ist ja ein Getaufter in der Familie – es ist nicht gegangen. Darum war Reb Hirsch schließlich auch mit Euch zufrieden, obwohl Ihr auch Deutsch gelernt habt. Aber da war ja ein anderes Hindernis, Ihr wolltet ja nicht heiraten wegen Eurer Pläne. Ihr wollt ja Schauspieler werden....«

Er hatte ihr wie betäubt zugehört, bleich bis in die Lippen, aber ohne Regung. Bei diesem Wort ging ein Zucken durch sein Antlitz.

»Erschreckt nicht!« sagte sie hastig. »Ich bin zuerst auf den Gedanken gekommen, Malke hat es dann aus Euren Gesprächen ganz erkannt. Aber von uns beiden erfährt es niemand.«

»Weiter«, sagte er tonlos.

»Da hat also mein Vater seinen Plan geschmiedet. ›Ein halber Deutsch ist er, da soll er sich auch so verloben.‹ Ich sollte mit Malke herkommen, Eure Bekanntschaft vermitteln, Euch und ihr zureden. Aber ich hab' ›nein‹ gesagt. Mein Vater hat gejammert, Reb Hirsch hat gedroht, mich aus dem Haus zu geben. Ich bin fest geblieben.« Ihre Augen blitzten. »Zu einem solchen Spiel zwischen zwei guten Menschen hab' ich nicht mithelfen wollen....«

»Und da haben sich die anderen gefunden«, sagte er. »Der Vorsteher und Taube und die ganze Stadt. Und jetzt«, fügte er knirschend hinzu, »bin ich zum Gespött für sie alle geworden....«

»Nur die beiden haben es gewußt«, sagte sie schüchtern. »Und zum Gespötte, sagt Ihr – wer dürft' Euch verspotten? Ihr habt ehrlich...«

»Dann war«, unterbrach er sie finster, »natürlich auch das mit Mosche eine Lüge.«

»Ja«, sagte sie.

Er nickte. Nun war ihm alles klar. Er schlug die Hände vors Gesicht, ihm war so weh, so furchtbar weh zu Mute, wie nie zuvor im Leben. Als hätten ihm die Leute das Herz aus der Brust gerissen und in den Schlamm geworfen.... Er stöhnte leise auf, auch aus körperlichem Schmerz, nun empfand er wieder ein Stechen bei jedem Atemzuge. »Was liegt daran«, dachte er, »wenn ich jetzt sterbe...«

Dann aber raffte er sich empor. »Es ist gut«, sagte er und ließ die Hände sinken. »Geht, Jütte!«

Sie blickte ihm ins Gesicht und schlug erschreckt die Hände zusammen. Wie entstellt er war, wie jählings gealtert. »Sender«, rief sie schluchzend, »habt Ihr sie denn so lieb? Ich kann mir's ja denken, sie ist so schön, so gebildet. Aber bedenkt, wär' das ein Glück geworden? Sie will ja einen anderen und denkt nur an ihn...«

»Darum hat sie sich auch hierher schicken lassen«, fiel er bitter ein. »Was liegt an einem Pojaz? Der muß die Komödien früh gewohnt werden!«

»Das glaubt Ihr selbst nicht!« rief sie. »Sie hat freilich ihre Fehler wie jeder Mensch, und so lieb ich sie hab', ich kenne diese Fehler. Sie ist ein anderer Mensch als Ihr, vielleicht auch – vielleicht auch als ich – bei Euch kommt alles aus dem Herzen und bei ihr alles aus dem Verstand. Und darum –« sie errötete bis ans Stirnhaar – »ich sag's nicht, um Euch zu trösten, ich mein's wirklich so, bei Gott – vielleicht wär's doch zwischen Euch beiden nicht gut geworden, auch wenn sie nicht mit ihrem Doktor versprochen wär'. Sie ist sehr gebildet, aber sie weiß auch, daß sie es ist, und wer nur ein Tüpfele weniger weiß als sie, ist nichts in ihren Augen, auch wenn er das beste, treueste Herz hätt'.« Sie sprach immer hastiger. »Sie hat vielleicht hundert Bücher gelesen, ja, oder gar noch mehr, aber glaubt Ihr, daß sie nur ein bissele Supp' für einen Kranken kochen kann? Oder nähen und stricken? Nur immer lesen und an den Bernhard denken. Er war ihr Lehrer und weiß mehr als sie, und wenn sie ihn bekommt, ist sie eine Frau Doktorin und kann in einer großen Stadt leben –«

»Aber was red' ich da?« unterbrach sie sich, wieder flammte das rundliche Antlitz purpurn.... »Ich wollt' nur sagen, Ihr dürft's ihr nicht verargen, daß sie hergekommen ist. Sie hat die Höll' im Haus und fürchtet den Vater, und so denkt sie: ›Du hast die Gewalt – und ich den Verstand.‹ Sie hat sich zum Schein gefügt, und vielleicht hab' auch ich etwas Schuld. Ich hab' ihr gesagt: ›Dieser Sender hat etwas ganz anderes vor, als heiraten.‹ So ist sie gekommen mit dem Vorsatz, Euch so schlecht zu behandeln, daß es zu nichts kommt. Aber da habt Ihr ja zum Unglück gleich am ersten Abend gesagt, daß auch Ihr nicht wollt –«

»Ein Mißverständnis«, sagte er. »Und auch das gestern abend. Ich hab' Mosche gemeint und sie mich.« Seine gequälten Nerven überkam plötzlich ein Lachreiz. »Hahaha!«

»Sender«, rief sie ängstlich, »ich bitt' Euch, weint, wenn es Euch so ums Herz ist, aber lacht nicht. Mir ist so bang um Euch. Ihr tut mir so leid. Und ich kann Euch doch nicht helfen.« Sie hob schluchzend die gefalteten Hände zu ihm empor. »Beruhigt Euch!«

Er verstummte, dies Lachen hatte ihm selbst zu wehe getan. Und wie er sie so weinend vor sich stehen sah, rührte ihn ihre Teilnahme.

»Ich dank' Euch, Jütte«, sagte er. »Aber nun verzeiht –« Seine bleichen Lippen versuchten ein Lächeln.... »Es ist doch etwas plötzlich gekommen...«

»Ihr wollt allein sein! Aber wir müssen doch erst verabreden, wie die Sach' zu beenden ist...«

»Sie ist zu Ende. Sie will mich nicht, ich werd' sie nicht zwingen.«

»Aber was fangen wir mit ihrem und meinem Vater an?« fragte sie angstvoll. »Beide ahnen natürlich nicht, daß ich mich da eingemengt hab'. Was mich erwartet, wenn sie es erfahren, könnt Ihr Euch denken. Aber das braucht Euch nicht zu bekümmern.« Die kleine untersetzte Gestalt reckte sich energisch auf, die braunen Augen blitzten.... »Immer gradaus, und wenn ein Mensch das Rechte tut, muß er auch die Folgen auf sich nehmen. Meinetwegen also braucht Ihr meine Bitte nicht zu erfüllen. Nämlich als gestern das Telegramm meines Vaters kam, Reb Hirsch möchte gleich kommen, sagte er mir: ›Ich hab' morgen ein großes Geschäft, fahr' du hinüber, red' ihr zu, sag' ihr, was ich ihr antue, wenn sie ›nein‹ sagt, vielleicht geht es auch ohne mich; denn bei der Verlobung kann mich ja Reb Jossef vertreten. Geht's nicht, so mag mir dein Vater morgen telegraphieren, und ich komm' übermorgen.‹ Ich muß meinem Vater bis zum Abend Bescheid sagen, natürlich Nein. Dann kommt Reb Hirsch morgen – und das wird furchtbar sein. Also –«

»Soll ich Eurem Vater sagen, daß ich's mir anders überlegt habe?«

»Ja – darum läßt Euch Malke anflehen. Ich soll, sagt sie, auch für mich bitten, das kann ich nicht. Und Euch vorstellen, daß es für Euch das beste ist, auch dies wär' nicht ehrlich. Denn wohl steht Ihr dann vor der Welt stolz da, aber Eure Mutter hättet Ihr schwer gekränkt. Um Malkes willen aber – ja, da kann ich bitten, und ich tu's aus ganzem Herzen.« Wieder hielt sie ihm die gefalteten Hände entgegen. »Ihr bewahrt sie vor Bösem, vor dem Schlimmsten. Ihr kennt Reb Hirsch und seine Frau nicht, ich aber kenne sie... Und Malke ist Euch ja lieb« – sie errötete – »Ihr habt die Liebe zu ihr bekommen. Ich weiß nicht, was das ist, aber es muß etwas Großes sein. – Sender, wenn Ihr sie sehen könntet, wie eben ich, als ich von meinem Vater kam und ihr alles aufklärte – so verzweifelt, die schönen, blauen Augen starr vor Furcht und Entsetzen.... Sender, sie ist ein armes Geschöpf, und weil sie Euch so teuer war und weil Ihr ein guter Mensch seid...«

»Ich will's tun«, murmelte er. »Verlaßt Euch drauf.... Noch heute sag' ich's Eurem Vater...«

»Sender«, rief sie, »das tät' kein anderer!... Wo Ihr Eure Mutter so lieb habt! Was habt Ihr für ein Herz! Gott wird's Euch lohnen! Mit einem treuen Weib, das Euch liebt, wie Ihr's verdient, und mit Glück und Gedeihen bei dem, was Ihr vorhabt...«

»Dabei vielleicht, wenn Er barmherzig ist«, erwiderte. er mit zuckenden Lippen. »Aber ein Weib... ich werd' allein bleiben...«

Er wandte sich ab und schritt dann rasch tiefer ins Gemäuer hinein.

Sie schlug den Blick zu Boden. »Ich will nicht sehen, wie er weint«, murmelte sie. Ihr selbst aber rannen unablässig die Tränen über die runden Wangen, während sie ins Städtchen hinabschritt....


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