Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Sechstes Kapitel

»Es war so gegen Ende des Winters«, pflegte er darüber zu erzählen, »da läßt mich einmal Jossef Grün, der Vorsteher, rufen und mietet mich, mit seinem Sohn Schmule nach Sadagóra zu fahren, zum Wunderrabbi.

Der Schmule ist so in meinem Alter, damals also war er im zwanzigsten, aber dabei blaß, schwach, kränklich wie ein zwölfjähriges Kind. Weil jedoch Jossef gar so ein frommer Mensch war, so hat er ihn schon den Herbst vorher verheiratet, noch dazu mit einem Mädchen, welches um zwei Jahre älter war und dabei dick und rot wie ein Maschansker Apfel. Aber wie ein halbes Jahr vorbei ist und sich noch immer keine Hoffnung auf ein Enkelchen zeigt, wird der Alte ungeduldig und denkt: der große Rabbi muß es richten.

Wie er mir das erzählt, und ich mir so den Schmule anschau', denk' ich mir im stillen: ›da hat der Mann recht, ohne ein Wunder wird dieses schwächliche Kind nicht Vater werden.‹ Laut aber verspreche ich alles, um was der Alte mich bittet: achtzugeben auf den Schmule und mit ihm vor den Rabbi zu gehen und ihn dort zum Reden zu bewegen, weil der schüchterne Junge sonst vielleicht gar nicht sein Anliegen vorbringen möchte.

So fahren wir also aus, kommen am Abend des zweiten Tages nach Sadagóra und kehren in einer Schenke ein. Dort sind einige Juden, die uns gleich vertraulich näher rücken und fragen, wozu wir gekommen sind – aber nicht aus Neugier und noch weniger aus Gutmütigkeit. Das ganze armselige Nest lebt ja nur vom Rabbi, und darum sind alle seine freiwilligen oder bezahlten Helfer. Die Fremden werden ausgeforscht, man berichtet dann ihren Namen, ihren Stand und ihr Anliegen dem Rabbi, und am nächsten Tage, wo er den Besucher vorläßt, kann der Mann mit leichter Mühe den Allwissenden spielen!

›Bei uns sollt ihr euch einmal eine Beule anrennen‹, denk' ich und fange an zu klagen, was für ein unerhörtes Schicksal den Schmule hergeführt hat. Seit wenig mehr als drei Jahren ist er verheiratet, und alle zehn Monate gebiert sein Weib Drillinge! Immer Drillinge, also zwölf Kinder in dreieinhalb Jahren – und gerade jetzt scheinen wieder neue unterwegs – ein richtiges Unglück!

Die Leute glauben's zuerst nicht, aber dann fang' ich an, es genau zu erzählen, als wär' ich selber die Mutter, und zähl' die Geburtstage und die Namen der Kinder auf und mach' von jedem die Stimme nach. Da werden selbst die Schlauesten von diesen frommen Gaunern gläubig und nicken ernst und suchen meinen Schmule zu trösten.

Der rückt unruhig hin und her, schweigt aber noch. Aber wie sie ihm gar sagen: ›Der Rabbi kann alles, er wird gewiß den Schoß deines Weibes für immer verschließen!‹ da fängt er laut zu weinen an.

›Gott behüt' mich davor‹, schluchzt er, ›dann prügeln mich mein Vater und mein Schwiegervater, daß mir kein Knochen im Leibe ganz bleibt.‹ Und dann heult er ihnen sein wirkliches Unglück vor.

Anfangs schimpfen die Leute auf mich, aber dann wundern sie sich über meine Art, zu erzählen, und einer ruft: ›Auf Ehr', ich hätt' geschworen, daß ich selbst die Kinder gesehen hab' –‹

›Nun‹, sag' ich, ›ich heiß' nicht umsonst der Pojaz!‹

›Du bist der Barnower Fuhrmann?‹ rufen sie, ›du bist Roseles Pojaz? Wieviel haben wir schon von dir gehört, du mußt noch mehr erzählen!‹

Nun krame ich meine Geschichten aus, und alle lachen, daß ihnen die Tränen über die Backen laufen. Und an jenem Abend hab' ich zum ersten Mal das Wort gehört, welches mir für mein Leben das Wichtigste, das Einzige geworden ist.

Was das für ein Wort war?

›Theater!‹

Da sagt nämlich einer von den Sadagórern, welchen sie immer den ›Meschumed‹ (Abtrünnigen) genannt haben, weil er viele deutsche Bücher gelesen haben soll – Sinai Welt hat er geheißen: ›Gott‹, sagt er, ›ewig schad', daß dieser Mensch ein Fuhrmann bleibt!‹

Ich lach': ›Prinz oder Wunderrabbi wär' ich auch lieber!‹ sag' ich.

›Ich kenn' etwas anderes‹, erwidert er, ›was dir vielleicht das Liebste wär' – Komödiant!‹

›Was heißt das?‹ frag' ich.

›Das weißt du nicht?! So nennt man die Menschen, die im Theater die närrischen Leut' spielen, über die man lachen muß.‹

›Was ist ein Theater?‹ frag' ich weiter.

›Man sollt's nicht glauben‹, ruft er erstaunt, ›wie sehr die Polnischen zurück sind! Also höre! Da tut sich eine Gesellschaft zusammen, Männer und Weiber, und sie mieten einen Saal und beschmieren sich die Gesichter und ziehen sich komische Kleider an, und stellen zusammen eine Geschichte vor, wie du sie uns allein vorgemacht hast – alles erlogen, keine Silbe wahr, aber solang' man ihnen zuhört, glaubt man, daß es wahr ist, und lacht oder weint. Die anderen Leut' aber zahlen, damit sie in den Saal gehen können und zuhören und zuschauen.‹

›Und was tut der Komödiant bei Tag?‹ frag' ich.

›Nichts, da raucht er Zigarren und ist ein großer Herr, weil er sich am Abend genug verdient!‹

›Das glaub' ich nicht!‹ sag' ich.

›Ha! ha! ha!‹ lachen die Sadagórer, ›er glaubt's nicht! So fahr doch nach Czernowitz – es ist ja kaum eine Meile – dort ist jetzt ein Theater.‹

›Das will ich‹, sag' ich drauf.

Es ist mir aber in jenem Augenblick nicht einmal so ernst damit gewesen. Erst als wir allein in unserer Schlafkammer sind, Schmule und ich, und ich kann nicht sogleich einschlafen – da fällt mir's wieder ein, und nun freilich hat mich der Gedanke gequält und zu rütteln begonnen. Denn das wär' ja ein Leben, wie ich mir's schon selber geträumt habe! Herumfahren, die Leut' anschauen, ihnen ihre Narrheiten abgucken und sie dann den anderen vormachen. Und nun erst von einem solchen Vergnügen auch reichlich leben können – heiß und kalt ist es mir geworden, ruhelos hab' ich mich herumgewälzt und erst gegen Morgen bin ich so eingedämmert...

Dann machen wir die Geschichte beim Rabbi ab, ohne viel Reden, kurz und gut: er bekommt dreißig Gulden und Schmule bekommt seinen Segen. Anfangs hat er freilich fünfzig verlangt, aber ich sag' ihm: ›Dann fahren wir zum Nadwornaer Rabbi, der verlangt nur zwanzig Gulden, obwohl er auf Zwillinge segnet!‹ – und da hat er schnell nachgegeben.

Als wir aus Sadagóra hinausfahren, lenke ich links ab, gegen Czernowitz.

Schmule bemerkt es gar nicht, bis wir endlich über der Pruthbrücke sind und in der Vorstadt, der Wassergasse. Da fängt er freilich zu schreien an, daß er nichts zu suchen hat in der unheiligen Stadt, in welcher die Juden Hochdeutsch reden und Schweinefleisch essen.

›Dann steig ab‹, sag' ich ruhig, ›und miete dir einen Anderen.‹

Nun klammert er sich natürlich an mich, wir fahren den Berg hinauf, in die Stadt.

An der Straße, auf einem freien Platz ist ein Zelt aufgeschlagen, davor steht ein Mann, nur in gelbliche Leinwand eingenäht, daß er von fern wie nackt aussieht und trompetet.

›Nur immer herein!‹ schreit er, und ein Haufe Gesindel steht vor ihm und lacht.

›Ist das ein Komödiant?‹ frag' ich ganz bekümmert, denn der Mensch hat sehr verhungert ausgesehen.

›Ja‹, antwortet mir ein Knabe.

›Also ist hier das Theater?‹

›Nein!‹ lacht er, ›das ist im Hôtel Moldavie. Hier tanzt man auf dem Seil, und zwei Affen sind drin.‹

›Gottlob‹, denk' ich, und laß mir den Weg zum Hôtel beschreiben. Gegenüber dem Hôtel, in einem kleinen jüdischen Gasthaus, stell' ich den Wagen ein und lauf' gleich hinüber.

›Im ersten Stock ist das Theater,‹ sagt man mir, ›aber es wird erst um sechs geöffnet.‹

›Könnt Ihr mir keinen Komödianten zeigen‹, bitt' ich den Kellner, der auch ein Jude war, aber sehr komisch gekleidet – eine kurze, schwarze Tuchjacke hat er getragen und hinten waren zwei Schwänze dran.

›Warum?‹ fragt er.

Ich will's aber nicht eingestehen und bitt' nur immer fort. Er aber fragt mich immer wieder.

Da fährt mir's endlich so heraus.

›Weil ich selbst so ein Komödiant werden will.‹

Der Mensch schüttelt sich vor Lachen und greift mir an meine Wangenlöckchen und sagt: ›Die mußt du dir noch schöner drehen, wenn dich der Direktor aufnehmen soll.‹

Im selben Augenblick geht ein langer ›Deutsch‹ (Herr in moderner Tracht) an uns vorbei und will die Treppe hinauf.

›Herr Direktor‹, sagt ihm der Kellner, ›hier ist ein neues Mitglied‹ – und erzählt ihm meinen Wunsch.

Der ›Deutsch‹ schaut mich an, er hat ein Gesicht zum Erschrecken, blaß, furchtbar mager, ganz glatt rasiert, so daß er halb gelb, halb blau war – eine ungeheure Nase und funkelnde, stechende Augen – und noch dazu hat es fortwährend in dem Gesichte gezuckt.

Aber wie er mich fragt: ›Ist es wahr?‹ da erschrecke ich nicht, sondern sage ruhig ›Ja!‹ und erzähle ihm alles.

Der Kellner lacht fortwährend wie besessen, aber der Herr bleibt ernst und sagt mir: ›Komm mit!‹

Er führt mich in ein Zimmer im ersten Stock, da ist eine dicke Frau gesessen und hat sich eben das Gesicht weiß angeschmiert.

›Eulalia‹, sagt er ihr, ›hör einmal zu.‹

Und mir sagt er: ›Zeige uns, wie du dir deinen Namen als ›Pojaz‹ verdient hast.‹

Ich nehme mir ein Herz und fang' an, meine Stücklein loszulassen – eins nach dem anderen. Der Herr schaut die Frau an, die Frau den Herrn, sie lachen nicht, wie sonst meine Zuhörer, aber dennoch glaube ich, daß es ihnen gefallen hat.

›Genug‹, sagt endlich der Herr und fängt mit der Frau zu reden an. Es war aber Hochdeutsch, noch dazu ungemein schnell, ich habe sehr wenig davon verstanden.

Endlich fragt mich der Herr: ›Was meinst du selbst, Bursche, hast du Talent?‹

Das habe ich damals nicht verstanden, ich habe geglaubt, er fragt, ob ich einen ›Talis‹ (Betmantel) habe.

›Nein!‹ sag' ich also. ›Aber wenn ich heirate, so muß mir meine Braut einen schenken.‹

Sie sind erstaunt, dann lachen sie und der Herr fragt wieder: ›Ich meine, ob du glaubst, daß du zum Komödianten taugst?‹

›Natürlich‹, sag' ich. ›Ich?! Glauben Sie mir, so hat noch nie ein Mensch dazu getaugt.‹

›Das wird sich zeigen‹, schmunzelt er, ›hier hast du eine Karte, schau dir heute die Vorstellung an und komm dann in den Speisesaal.‹

Da bitt' ich noch um eine Karte für meinen Schmule und dank' ihm schön und renn' wie verrückt die Treppe hinunter – in mein Gasthaus.

Den Schmule hab' ich in Tränen getroffen, das Kind hat sich allein gefürchtet in der fremden Stadt. Und wie ich sag', daß er abends ins Theater gehen soll, weint er noch stärker und meint: Das ist ein schlechtes Vergnügen, eine Sünde, das tut er nicht. Und gleich will er fort.

›Gut!‹ sag' ich, ›bleib zu Haus! Aber gleich einspannen? Wirklich nicht um die Welt!‹

Denn ich kann nicht beschreiben, wie mir zu Mut war, so, als hätt' mir jemand tausend Gulden geschenkt, oder als hätt' ich zu viel Wein getrunken!

So lauf' ich also allein vor dem Hôtel Moldavie auf und ab, bis es dunkel wird, und mein Herz hat mir gepocht zum Zerspringen.

Endlich läßt man mich in den Saal – ich war der Erste und hab' mich vorn hinsetzen wollen, aber mein Platz war auf einer Bank in der Mitte. Eben hat man die Lichter angezündet, ich habe mir angesehen, wie der Saal eingerichtet war. Aber das hat mich nicht sehr überrascht. Es war ja beinahe so, wie in unserer Betschul': unten Bänke für die Männer, oben zwei Galerien für die Weiber, und vor mir ein großer Vorhang, wie er ›in Schul'‹ vor der Thoralade hängt. Nur daß dort nicht das Wort ›Osten‹ eingesteckt war, sondern es waren darauf nackte Kinder hingemalt, die so übereinandergepurzelt sind.

Später, wie die Leut' kommen, merk' ich, daß es doch ein großer Unterschied ist. Erstens waren es lauter feine ›Deutschen‹, zweitens sind auch Männer hinaufgegangen auf die Weibersitze, und wieder haben sich Weiber auf die Männersitze gesetzt.

Dann hat plötzlich vor dem Vorhang eine Musik zu spielen begonnen. Es war ganz lustig, wie ein Tanz. Aber mir war nicht ›tanzerig‹ – gefreut hab' ich mich freilich, aber dabei war mir furchtbar bang.

Nun endlich schiebt sich der Vorhang hinauf, merkwürdig, als ob er von selber ginge; man hat nicht gesehen, wer ihn zieht.

›Eine Gasse!‹ ruf' ich, daß sich die Leut' nach mir umschauen und zu lachen anfangen. Es hat mir wirklich geschienen, daß man da in eine Stadt hineinschauen kann – Häuser, ein Turm, eine Brücke. Und da kommen drei Leute heraus, alle schwarz angezogen, bemalte Gesichter haben sie gehabt und große falsche Bärte angeklebt.

Sie fangen an zu reden – verstanden hab' ich nur so viel, daß es gute Freunde sind und von Geschäften reden. Aber einer von ihnen war gewiß der Vornehmste, weil er einen Pelz getragen hat und weil die anderen so um ihn herumgetänzelt sind. Anton hat er geheißen, wie mein Freund, der Kutscher vom Bezirksvorsteher. Dieser Anton hat fortwährend mit der Zunge angestoßen und dabei mit dem Kopfe gewackelt, als ob er traurig wär'.

Dann sind noch einige Freunde gekommen, darunter ein junger Mensch mit einem blonden Bart, der will Geld von Anton borgen. Da hat sich aber gezeigt, warum Anton traurig ist: er hat selbst kein Geld und muß sich's erst borgen gehen.

Alle gehen hinaus, und da fängt auf einmal die Stadt zu wackeln an und schiebt sich hinauf! Es war alles nur auf Leinwand aufgemalt. Und statt der Stadt ist plötzlich ein ganz schönes Zimmer da, und da stehen zwei hübsche Mädchen und sprechen miteinander.

Natürlich – wovon reden Mädchen? – vom Heiraten reden sie! Aber der Älteren gefällt keiner, über jeden schimpft sie. Der eine ist zu lustig und der andere zu traurig und der dritte zu gescheit und der vierte zu dumm. Gerade wie die Panna Waleria, die Tochter vom Verwalter in Kopecynce. ›Gib acht‹, denk' ich mir, ›daß du kein End' nimmst wie sie oder sitzen bleibst. Schön bist du freilich, aber das dauert nicht ewig.‹ Da – mitten im Reden laufen beide hinaus, das Zimmer verschwindet – wieder die Stadt.

Kommt der Blonde mit einem alten Juden. Ich denk' mir gleich: ›Jetzt will er sich das Geld vom Juden leihen!‹ Richtig ist es so – dreitausend Dukaten, weniger nimmt er nicht. Und der Anton, sagt er, soll bürgen.

›Faule Fisch'‹, denk' ich mir, ›der hat ja selbst kein Geld. Der alte Jud', wenn er kein Esel ist, wird sich doch vorher nach dem Anton erkundigen.‹ Aber da kommt der Anton selbst dazu, redet auch in den Juden hinein. ›Schajlock‹ hat er ihn genannt, weil ein Christ sich nie jüdische Namen merken kann, der Alte hat wahrscheinlich ›Schaje‹ (Jesaias) geheißen.

Aber Schajlock will nicht. ›Wo ist die Bürgschaft?‹ fragt er. ›Auf was hinauf dreitausend Dukaten?!‹ Und dann macht er dem Anton Vorwürfe, daß er ihn früher angespieen hat und überhaupt schlecht behandelt.

›Gott‹, denk' ich mir, ›dieser Anton ist gewiß ein Pole. Die machen es alle so. Aber wenn sie Geld brauchen, kommen sie zu uns gekrochen und schmeicheln...‹

Also – die Leut' reden hin und her, alles kann ich nicht verstehen, denn auch Schaje spricht nicht wie ein ehrlicher Jud', sondern Hochdeutsch, nur daß er durch die Nase singt und mit dem Kopf wackelt.

Ich hör' ihm zu und weiß nicht, warum er mir sehr bekannt vorkommt. Auf einmal erkenn' ich ihn, es ist derselbe ›Deutsch‹, der am Nachmittag mit mir gesprochen hat, aber ganz beschmiert und verkleidet.

›Gott‹, schrei' ich in meiner Überraschung, ›der Direktor‹.

Alle Leute wenden sich zu mir um und lachen.

›Was ist da zu lachen?‹ frag' ich. ›Es ist wirklich der Direktor.‹

›Pst, pst‹, machen die Leut'.

Ich schweig' und hör' zu, was Schaje weiter redet. Die dreitausend Dukaten will er richtig hergeben, aber wenn Anton nicht zahlt, so darf ihm der Jud' ein Pfund Fleisch ausschneiden.

›Faule Fisch'!‹ denk' ich wieder. ›Was hat Schaje von dem Pfund Fleisch?! Ich bin gar nicht für solche Sachen. Damit macht man nur Rischchus (Judenhaß). Und dann – der Bezirksvorsteher wird es gewiß nicht zulassen, denn der ist ja auch ein Christ.‹

Aber Schaje läuft ums Geld, und wie er draußen war, da ist der Vorhang mit den nackten Kindern wieder heruntergefallen und die Musik hat angefangen zu spielen.

Ich denk', es kann noch nicht aus sein und bleib' sitzen. Die Leut' schauen mich an und flüstern und lachen, es hat mich wenig gekümmert. Ein alter Herr ist neben mir gesessen, der fragt mich: ›Sie sind wohl zum ersten Male im Theater?‹

›Wie nicht?‹ sag' ich, ›kann man denn das in Barnow alle Tage sehen?‹

›Also aus Barnow?‹

›Ja, Sender heiß' ich und bin im Dienst bei Simche, dem Kutscher, wenn Sie ihn vielleicht kennen.‹

›Habe nicht die Ehre‹, sagt er.

›Die Ehre?‹ frag' ich. ›Meinen Simche kennt wirklich jeder, es ist gar keine Ehre dabei.‹

Aber da hat sich der Vorhang schon wieder hinaufgeschoben.

Wieder ein Stück Stadt. Kommt ein junger Bursch, wie ein Narr angezogen, schneidet Gesichter, macht Witze mit jedem – sogar mit seinem alten blinden Vater, was mir gar nicht gefallen hat. Er erzählt, daß er Bedienter bei Schaje ist, und schimpft auf ihn – so ein Lump – jüdisches Brot frißt er und schimpft dann drauf! Gewundert hat's mich freilich nicht. Zum Beispiel der Janko, der Kutscher von unserem Doktor Schlesinger, der macht's grad' so!

Dann kommt Schajes Tochter, ein ganz hübsches Mädchen, aber so verdorben, wie gottlob in Barnow kein jüdisch Kind ist. Über den eigenen Vater macht sie sich mit dem Bedienten lustig, aber wie Schaje kommt, ist sie ihm ins Gesicht hinein ganz gehorsam und demütig.

Aber was tut sie, wie er fort ist? Da verkleidet sie sich als Knabe und steckt seine Schätze zu sich, und wie ihr christlicher Liebhaber kommt, geht sie mit ihm durch.

Schimpf und Schande! Ich war so empört – zerreißen hätte ich sie können. Wie unserem reichen Moses Freudenthal seine Tochter Esther durchgegangen ist mit einem Husaren, da hat sie wenigstens den alten Vater nicht beschimpft und sein Geld liegen lassen. Die Leut' klatschen und schreien: ›Sehr gut!‹ und ›Bravo!‹, ich aber ruf': ›Schlecht ist sie! Prügeln sollt' man sie!‹ Und da lachen sie wieder.

Erst wie die Stadt fortwackelt und wieder das Zimmer kommt mit den zwei lustigen Mädchen, hab' ich mich erinnert, daß es ja nur so ein Spiel ist.

Die Mädchen haben wieder gelacht, und es waren einige Herren bei ihnen, darunter einer mit einem schwarz angestrichenen Gesicht, und etwas von Kästchen haben sie gesprochen. Und immer wieder Kästchen! Ich hab' nicht recht hingehört – was gehen mich eure Kästchen an?! Ich hab' nur immer so nachdenken müssen, wie die Geschichte mit Schaje und mit der Tochter ausgehen wird, und ob sie auch reuig zurückkommen wird, wie Esther Freudenthal, um vor dem Hause des Vaters zu sterben.

Aber es ist ganz anders gekommen.

Zuerst spazieren da zwei Herren herein und erzählen mit Lachen, wie Schaje halbverrückt in der Stadt herumläuft. Und dann kommt er selbst, blaß, verstört, aber die ›Galgans‹ (Lumpe) haben sich noch lustig über ihn gemacht!

Sie erzählen ihm, daß Antons Geschäfte schlecht stehen und daß er wird nicht zahlen können, und fragen, ob Schaje dann wirklich sein Fleisch nehmen wird?

›Ja‹, sagt der Alte und fängt an zu reden über Juden und Christen, und daß wir so bitter von den Christen verfolgt werden – durch Mark und Bein ist es mir gegangen und durch das tiefste Herz. Bis dahin hab' ich noch nicht so viel nachgedacht über uns und die Polen, und hab' geglaubt, es schickt sich so, aber jetzt haben sich mir die Augen aufgetan über das blutige Unrecht, das wir erdulden. Ach! wie hat der Alte gesprochen, welche Worte, welche Stimme! Bald hat er geweint, bald mit den Zähnen geknirscht. Totenstill ist es im ganzen Saal gewesen, die Tränen sind den Leuten in die Augen getreten.

Dann kommt noch ein Jud' und erzählt bald von Anton, bald von der Tochter, und Schaje hat vor Wut gebebt. Es hat ihm um die Dukaten grad' so leid getan, wie um die Tochter!

Anfangs hat mich das gewundert. Aber dann hab' ich mir gedacht: ›Geld ist Geld, aber ein Mädel, das dem Vater fortläuft und ihn noch dazu bestiehlt, ist keine Tochter mehr!‹

Kommt zum dritten Mal das Zimmer mit den Mädchen, diesmal war der Blonde bei ihnen, er macht ein Kästchen auf – es wird Hochzeit gemacht.

›Maseltow (Glück auf)!‹ sag' ich – aber was geht's mich an?

Endlich schiebt sich der Vorhang wieder herauf: Schaje und Anton stehen vor dem Richter!

So hab' ich noch nie zugehört wie damals, und ich hab's noch heute nicht vergessen. Aber auch heute noch weiß ich nicht, wer recht gehabt hat und wer unrecht; ich glaube, die Christen und der Jude haben recht gehabt – und beide haben unrecht gehabt.

Eine merkwürdige Geschichte!

Zuerst sagt Schaje: ›Anton hat mir diesen Wechsel unterschrieben, daß ich ihm ein Pfund Fleisch ausschneiden darf, wenn er nicht zahlt. Ich will mein Recht!‹

Der Richter ist ein alter Mensch mit einem Schmerbauch, aber dabei ein Dummkopf – nicht zu sagen!

Er traut sich keinen Spruch zu tun und läßt einen alten Advokaten rufen. Kommt aber ein junger Advokat mit einer ganz dünnen Stimme und wie ich ihn näher anschau' – ein Weib! – das größere von den zwei lustigen Mädchen!

Sie fängt an, sagt: ›Schaje hat recht, aber er soll sich erbarmen.‹

Schaje will nicht – sein Geld verlieren, gekränkt und mißhandelt zu werden und noch Erbarmen dazu, das wär' wirklich zu viel! ›Recht hat er‹, denk' ich. Aber da bietet ihm der Blonde, Antons Freund, die dreitausend Dukaten, das Doppelte, das Dreifache – Schaje will noch immer nichts als das Pfund Fleisch!

Das hat mir nicht gefallen! Sein Geld bekommt er, sogar dreifach, was hat er davon, wenn Anton stirbt! Sie bitten ihn: der Mensch soll nicht unversöhnlich sein! Mir hat da gleich nichts Gutes geahnt, denn erstens ist's ganz häßlich von Schaje, und dann ein Jud' vor einem christlichen Gericht – leider, wir in Polen wissen, was das heißt!

Richtig! Das Mädel sagt endlich: ›Ein Pfund Fleisch darf sich Schaje nehmen, aber wenn er einen Tropfen Blut dabei vergießt, wird ihm sein ganzes Vermögen weggenommen.‹ Heißt ein Kopf, ein eiserner Kopf!

Jetzt war ich sehr neugierig, was Schaje tun wird. Ich hab' geglaubt, er wird sagen: ›Gut, mein Vermögen soll hin sein, aber mein Recht will ich haben.‹ So paßt es sich für ihn, hat mir geschienen, wenn er schon so ein harter Mensch ist. Aber er?! – Jetzt will er das Dreifache nehmen!

Sie geben ihm aber nicht einmal das Einfache, und hier fängt das Unrecht der Christen an und hört gar nicht auf. Denn was sagt das Mädel weiter? ›Weil du einem Christen nach dem Leben getrachtet hast, sollst du selbst sterben!‹

Nach dem Leben getrachtet? Warum hat Anton so einen Wechsel unterschrieben? Warum hat das Gericht erlaubt, daß so ein Wechsel eingeklagt wird? Jetzt fällt es ihnen ein!

Schaje windet sich, es hilft ihm nichts. Sie schenken ihm nur dann das Leben, wenn er sich taufen läßt, und die Hälfte seines Vermögens muß er dem Anton geben!

Wirklich sehr bequem! Dreitausend Dukaten ausleihen, nicht zahlen, und für diese große Müh' vielleicht das Zwanzigfache als Belohnung bekommen!

Und Schaje?!

Schaje gehorcht und wird ein ›Meschumed‹ (Abtrünniger)!

Meinen Augen hab' ich nicht getraut – aufgesprungen bin ich und hab' die Fäuste geballt!

›So ein Unrecht!‹ schrei' ich. ›Das kann ich nicht länger anschauen!‹

Zum Glück sind schon alle Leut' aufgestanden, sonst wär' mir's vielleicht schlecht gegangen.

Ich aber lauf' allen voran die Treppe hinunter und dann auf und ab vor dem Hotel.

Bald war mir heiß, bald haben mir die Zähne geklappert – so aufgeregt bin ich noch nie gewesen.

›Gott!‹ denk' ich mir, ›was möcht' ich drum geben, wenn ich in dem Spiel der Schaje sein könnt'! Aber dann benehm' ich mich anders, entweder geh' ich gleich nach oder gar nicht!‹

Überhaupt hat nur dieser Mensch mir gefallen, der Anton hätt' ich nicht sein wollen, noch weniger der Blonde. Freilich hätt' ich die auch anders gemacht, als diese ›Deutschen‹. Der Anton, zum Beispiel, hat nur immer dasselbe Gesicht geschnitten, wie er in Todesangst und wie er gerettet war! Oder der Blonde – immer fröhlich, auch wie der Freund in Gefahr war!

›Schlechte Pojazen!‹ denk' ich, ›das muß ich dem Direktor sagen!‹

Und ich geh' in den Speisesaal.

Es war ganz voll – endlich hab' ich ihn herausgefunden: an einem großen Tisch ist er gesessen, mit vielen Herren und Frauen, die Dicke neben ihm. Er muß ihnen schon von mir erzählt haben, denn wie ich hinzukomm', sagt er: ›Seht – da ist er! Der jüngste Sohn der Musen!‹

Ich bin sehr erstaunt.

›Verzeihen Sie‹, sag' ich, ›meine Mutter hat nur einen Sohn und heißt Rosel – sie hält die Maut in Barnow...‹

Alle lachen, aber der Direktor fragt: ›Nun, wie hat es dir gefallen!‹

›Gut und schlecht‹, sag' ich. ›Aber eines müssen Sie mir jetzt gleich sagen: sind Sie ein Judenfeind oder nicht?‹

Er stutzt: ›Warum?‹

›Weil ich mich in Ihnen nicht auskenn. Sind Sie ein Judenfeind, warum haben Sie so schön von dem Unrecht geredet, welches der Pole uns antut? Sind Sie kein Judenfeind, warum benehmen Sie sich so zum Schluß, erst so hartherzig und dann so feig? Wissen Sie, was man dann sagt? Daß alle Juden so sind!‹

›Mein Lieber‹, sagt er, ›so hat es der Dichter vorgeschrieben!‹

›Wer?‹ frag' ich.

›Der Mann, der alles ersonnen und die Worte aufgezeichnet hat!‹

›Machen Sie das nicht aus dem Kopf?‹ frag' ich. ›Wie ich und wir alle unsere Spiele am ›Purim‹ (jüdische Fastnacht)?‹

›Nein‹, sagt er und klärt mich auf.

›Gut! Aber Sie kennen gewiß den Dichter! Ist er ein Judenfeind oder nicht?‹

Alle brüllen, nur der Direktor nicht.

›Er ist schon dreihundert Jahre tot‹, sagt er ernst, ›aber deine Frage kann ich doch beantworten. Er war ein edler, großer Mensch, darum hat er das Unrecht eingesehen, welches man den Juden antut. Aber zu seiner Zeit hat man die Juden überall so gehaßt, wie jetzt nur bei euch, und darum hat er seinen Leuten den Gefallen gemacht und läßt das Spiel so ausgehen, daß der Jud' verachtet und ausgelacht wird.‹

›Und warum machen Sie den Schluß nicht besser?‹

›Da sei Gott vor!‹ sagt er. ›Vielleicht siehst du einmal ein, was das für eine Sünde wäre. Aber wie hat dir das Spiel gefallen?‹

›Manches gut, manches schlecht‹, mein' ich, und fange an zu reden von ihm, von dem Anton und von den anderen. Und mach' dem nach und jenem.

Zuerst lachen sie mich aus, und alle Leut' im Saal stehen auf und stellen sich um mich herum.

Aber dann meinen sie: ›Er ist gar nicht dumm!‹ und schauen sich manchmal erstaunt an.

Endlich sagt der Direktor: ›Komm zu mir morgen um neun!‹

Ich geh' in mein Gasthaus, Schmule schläft schon. Ich leg' mich auch hin, aber kein Auge hab' ich geschlossen.

Endlich wird es Tag, ich besorge die Pferde, richte den Wagen und geh' dann zum Direktor.

Er ist grad' beim Kaffee gesessen, in einem großen roten Schlafrock, mit ihm die Dicke, den ganzen Kopf voll mit Papierlocken.

›Höre‹, sagt er, ›du hast es nicht erkannt, aber ich bin selbst ein Jude. Freilich aus einem anderen Land, aus Preußen. Aber nicht darum allein möchte ich mich gern deiner annehmen, sondern weil du höchst wahrscheinlich ein großes Talent bist. Ob du es bist, ob du wirklich für das Theater taugst oder nicht, weiß ich nicht gewiß. So, wie du jetzt bist, kann es dir niemand mit Gewißheit sagen. Aber bei Gott und auf Ehre! – soweit ich es jetzt beurteilen kann, taugst du vortrefflich dazu, mehr als ich, mehr als jemand von meinen Leuten. Wenn du schon älter wärst oder in einem guten, angenehmen Leben, ich möchte dir das vielleicht nicht sagen. Aber als Fuhrknecht hast du nichts zu verlieren. Und darum will ich, wenn dein Entschluß feststeht, dein Rater und Helfer sein.‹

Mir sind die Tränen in die Augen gekommen, wie er so gut zu mir geredet hat.

›Ich dank' Ihnen tausendmal!‹ – ich hab's sagen wollen, aber es ist mir nicht über die Lippen getreten.

Endlich fass' ich mich und sage: ›Übermorgen komm' ich wieder und bleibe!‹

›Nein‹, ruft er, ›jetzt darfst du noch nicht in das lustige, unsichere Leben hinein! – Um Gottes willen nicht! Bleibe zwei Jahre an einem Ort und lerne Deutsch – das ist das Wichtigste – lesen, schreiben, sprechen. Ferner mußt du so das Notwendigste wissen, das übrige findet sich. Hast du in Barnow Gelegenheit dazu?‹

›Wenn es sein muß‹, mein' ich, ›so wird sich alles finden.‹

›Gut‹, sagt er, ›ich bin jeden Winter hier, vom Oktober bis zum März. Aber vor Ablauf von zwei Jahren will ich dich nicht sehen. Wenn du mir schreiben willst, so wird's mich freuen. Ich heiße Nadler, Adolf Nadler. Und nun – Gott mit dir!‹

›Und mit Ihnen, Sie guter Mensch‹, sag' ich unter Tränen, und: ›Sie werden von mir hören!‹

Und geh' fort und lade meinen Schmule auf und fahr' zurück nach Barnow...«


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