Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Einige Tage später – der August neigte dem Ende zu – läuteten die Glocken des Klosters dem alten Prior zu Grabe. Der Unterricht mußte unterbrochen werden; Pater Marian war zwar nur »zur Besserung« im Kloster, aber der Konvent durfte ihn doch nicht von der Teilnahme am Begräbnis und den Totenmessen ausschließen.

Alle Geschäfte ruhten, ganz Barnow war in diesen Tagen auf den Beinen. Erstlich gab es, da der Adel und die Geistlichkeit des ganzen Kreises zusammengeströmt waren, viel zu sehen, und ferner war die bevorstehende Neuwahl ein Ereignis, das alle Bewohner der Stadt lebhaft interessieren mußte; für die Juden war es sogar eine rechte Lebensfrage. Der meiste Baugrund gehörte dem Kloster, der alte Prior hatte den Juden um keinen Preis auch nur eine Elle Bodens verkauft; das Ghetto war überfüllt; handelte der neue Prior ebenso, so mußte ein Teil der Bewohner die Stadt verlassen. Man wußte, daß sich zwei Kandidaten gegenüberstanden, der duldsame Valerian und der finstere Marcellin; selbst Rabbi Manasse gestattete, daß in der Schul' ein Bittgottesdienst für die Wahl des Valerian abgehalten werde. Der Raum war überfüllt, auch Sender fehlte nicht und betete sogar sehr eifrig. »Ein Haus brauch' ich hier nicht«, dachte er, »aber vielleicht hat es dann der arme Marian besser.«

Als er aus der Schul' heimging, am Hause des Vorstehers Jossef Grün vorüber, sah er vor der Tür zwei Frauen stehen, deren eine er wohl kannte. Das rotbäckige, blühende junge Weib war Taube Grün, die Schwiegertochter des Vorstehers, der Sender in der Sadagórer Schänke einst so reichen Kindersegen angedichtet, ein Knäblein hatte sie seither wirklich geboren. Die andere war noch ein Mädchen, sie trug ihr Haar, prächtiges, leichtgewelltes, hellbraunes Haar; als sie ihm nun ihr Gesicht zuwandte, fuhr er zusammen und wurde rot – das war die »Schöne, Traurige«! Mit Mühe faßte er sich so weit, um Taube unbefangen zu begrüßen; sie gab ihm den Gruß lächelnd, und wie er zu bemerken glaubte, sogar etwas spöttisch zurück. Das war wohl nur ein Irrtum gewesen, und so wagte er nach einer Weile zurückzublicken. Aber er hatte sich nicht getäuscht; nun deutete Taube lächelnd nach ihm, das Mädchen hörte mit fast finsterer Miene zu und wandte sich dann, als sein Blick sie traf, wie zürnend ab.

Betreten ging er weiter. »Ich kann mir denken, was Taube gesagt hat«, dachte er. »›Das ist der Pojaz, der die vielen tollen Streiche gemacht hat.‹« Aber wer war die Fremde und wie war ihr Bild in Frau Rosels Strickbeutel gekommen? »Kein gutes Bild«, dachte er. »Sie ist ja in Wirklichkeit noch viel schöner, auch nicht so mager, wie ich geglaubt hab'. Und dieser Wuchs – wie eine Königin... Aber was geht's mich an!«

Dies Letzte wiederholte er sogar laut, aber es wurde dadurch nicht wahrer. Der Gedanke an das Mädchen verließ ihn nicht, weder im Laden, noch daheim. Und der beste Beweis dafür war, daß er niemand nach ihr zu fragen wagte, weder den Winkelschreiber, der als Verwandter Grüns sicherlich um den Besuch wußte, noch Frau Rosel.

Bei Einbruch der Dämmerung – Sender saß eben mit der Mutter beim Abendessen – trat der Marschallik ein. »Wißt ihr schon«, erzählte er unter anderem, »heut' abend ist die Wahl. Man sagt, daß der gute Mensch, der Valerian, mehr Aussichten hat. Das wär' gut für die ganze Stadt, und besonders für mich. Wenn die Leut' erst bauen können, geht mein Geschäft doppelt so gut. Jossef Grün allein baut dann zwei neue Häuser – eins für seinen Schmule und eins für Mosche, den Jüngeren.«

»Der ist ja noch ledig«, sagte Sender.

»Wird's aber nicht lang mehr bleiben. Es ist zwar noch ein strenges Geheimnis, und wenn ihr jemand ein Wort davon sagt, zerstört ihr mir vielleicht das Geschäft, aber die Braut ist schon im Haus. Gestern abend ist sie gekommen. Ein schönes Mädchen, wunderschön, gute Familie, feine Mitgift, aber weil sie leider zufällig Deutsch lesen kann, will sie Jossef erst einige Zeit unter seinen Augen haben, ob sie fromm genug geblieben ist.«

»Natürlich!« sagte Sender grimmig. »So ein Glück, wie den dummen Jungen, den Mosche, der kaum sechzehn ist und wie dreizehn aussieht, ist nicht bald eine wert.«

»Was geht das dich an?« fragte der Marschallik. »Du bist ja ordentlich zornig geworden. Übrigens hast du recht: ein ungleiches Paar. Ich hab' sie ursprünglich für einen anderen bestimmt, der besser für sie gepaßt hätte, aber das hab' ich mir aus dem Kopf schlagen müssen; der will, scheint es, überhaupt nicht heiraten oder wartet auf die Prinzessin aus dem Mond. Du kennst ihn auch!«

Sender zwang sich zu einem Lachen, aber es klang nicht ganz unbefangen.

»Da habt Ihr recht getan«, sagte er. »Der heiratet schwerlich – das heißt, nicht sobald«, verbesserte er sich hastig, als er die Mutter schmerzlich zusammenzucken sah. »Aber wer ist es denn?«

»Reb Hirsch Salmenfelds Malke«, sagte der Marschallik, »die Freundin meiner Jütte, aus Chorostkow.«

»So – die?« sagte Sender langgedehnt. »Jütte hat ja Wunder von ihr erzählt.« Dann aber blitzte der Gedanke in ihm auf: ›Wenn er gar nicht ernstlich an mich gedacht hat, wie kommt Malkes Bild in den Strickbeutel meiner Mutter?‹ Laut aber sagte er: »Also die Verlobung mit Mosche ist beschlossene Sache?«

»Ich hoffe«, sagte Türkischgelb. »Jossef sagt: ›Wenn sie mir gefällt.‹ Aber wem würde die nicht gefallen? Eben hat er mir gesagt: ›Ihr habt sie noch zu wenig gerühmt, Reb Itzig.‹ Und jetzt ist sie kaum einen Tag hier.«

»Und wie gefällt sie dir?« wandte sich Sender an die Mutter.

»Ich kenn' sie ja nicht«, erwiderte Frau Rosel.

»Aber ihr Bild kennst du doch.«

»Ihr Bild?« Frau Rosels hageres Antlitz überzog sich mit dunkler Röte. »Woher weißt du, daß ich ihr Bild gehabt habe? Ich hab' nicht gewollt, daß du es siehst, wahrhaftig nein.«

Sender kannte den Ton, das war die Wahrheit. Aber warum war sie dann gar so verlegen und blickte hilfeflehend nach dem Marschallik hin? Dahinter steckte doch was.

Er sollte es sogleich erfahren. »Wir wollen ihm die volle Wahrheit gestehen, Frau Rosel«, sagte Türkischgelb. »Wie ich ihn kenne, wird's ihn nicht kränken. Vor der Rekrutierung hab' ich dich Reb Hirsch angetragen, er war einverstanden. Deine Krankheit ist dazwischen gekommen. Dann hab' ich vor einigen Wochen die Sach' wieder anspannen wollen und deiner Mutter das Bild gebracht. Sie war ganz entzückt, das wird dich nicht wundern, du hast es ja gesehen. Nun sagt aber Reb Hirsch ›nein‹. ›Ich weiß‹, sagt er, ›er hat einen Gewinn gemacht, auch Jütte hat gut von ihm gesprochen, aber seit ich erfahren hab', daß er Deutsch kann, will ich nichts mehr von ihm wissen.‹ Das ist alles. Es ärgert dich doch nicht?«

»Nein«, sagte Sender. Dann erhob er sich und trat ans Fenster. So konnte er nicht sehen, wie listig der Marschallik Frau Rosel zulächelte und dabei den Finger auf den Mund legte.

In dem Augenblick erklangen alle Glocken der Stadt und des Klosters; die Messe, die den Wahlakt einleitete, hatte begonnen.

Der Marschallik verabschiedete sich. »Ich muß doch hören, was drinnen vorgeht«, sagte er. »Kommst du mit, Sender?«

»Später«, erwiderte dieser.

»Mir scheint«, sagte der Marschallik, »du bist doch gekränkt. Bedenk', jeder Mensch muß seinem Gewissen folgen, auch Reb Hirsch. Und daß du niemand sagst, wozu Malke hier ist, darauf hab' ich dein Wort – nicht wahr? Denn Jossef ist ja auch sehr fromm, und wenn er etwa doch ›nein‹ sagt – aber ich will dir keine Hoffnungen machen.«

»Hoffnungen!« rief Sender ärgerlich. »Redet keinen Unsinn. Ich denk' gar nicht an Eure Malke.«

»Das glaub' ich gern«, erwiderte treuherzig der Marschallik und ging überaus vergnügt von dannen.

Eine halbe Stunde später kam Sender desselben Weges. »Was so ein Chassid kann«, dachte er zornig. »So lang ich nichts kann und nichts habe, bin ich ihm recht – jetzt nicht mehr. Vernünftig geht's bei uns zu – das muß man sagen! Ein so schönes, gebildetes Mädchen und dieser dumme, grüne Junge! Übrigens – für mich ist's jedenfalls so besser, denn wenn mich der Vater gewollt hätt', ich hätt' doch ›nein‹ sagen müssen, und hier wär's mir schwer gefallen, glaub' ich.«

Vor dem Gittertür des Klosterhofs stand die halbe Gemeinde und harrte in angstvoller Spannung der Entscheidung. Man vernahm nur zuweilen ein Flüstern, zu lachen wagte niemand. Umso geräuschvoller ging es drinnen im Hofe zu. Da standen, saßen und lagen die katholischen Bürger der Stadt, tranken und aßen bei Fackelschein von den guten Gaben, die ihnen die Diener des Klosters auf mächtigen Holztischen hingestellt, und johlten dazu, daß die Fenster klirrten. Wurde der Lärm zu arg, dann erhob sich Fedko, der würdige Pförtner, von dem Bänkchen neben der Tür, murmelte etwas gegen die Trunkenen hin und rief dann mit Stentorstimme gegen den Haufen draußen: »Ruhe, ihr versuchten Juden! Vor einem solchen Lärm würde der Teufel Reißaus nehmen und nun gar der heilige Geist! Und der heilige Geist, ihr Lumpenhunde, ist doch bei der Wahl notwendig. Denn wie sollen die hochwürdigen Herren sonst auf den Rechten kommen?«

Da drängte hastig ein halbwüchsiger Bursche durch die Reihen der Juden. »Platz!« schrie er. »Mich schickt mein Vater.«

Es war Mosche Grün. »Fedko«, rief er den Pförtner an. »Ihr sollt sagen, wer gewählt ist. Aber gleich!«

»O du freche, kleine Kröte«, zeterte der Alte. »Willst du es früher wissen als der heilige Geist? Zurück – oder!«

Er hob die Hand. Mosche flüchtete kreischend. Die anderen verhöhnten ihn, und am lautesten Sender.

Dann ging er weiter auf den Marktplatz. Auch hier wimmelte es von Menschen, und wer nicht auf die Straße getreten, stand doch am offenen Fenster. So Jossef Grün; er sprach mit einigen Männern auf der Straße. Im Fenster daneben stand die Fremde neben Taube und blickte ernst auf das laute Treiben nieder.

Sender trat so weit zurück, daß sie ihn nicht gewahren konnte, und starrte zu ihr empor. »Warum sollt' ich's nicht tun?« dachte er. »Ein schönes Gesicht darf man doch ansehen! Und merkwürdig, jetzt so von der Seite, ist sie schöner als bei Tage. Wie diese dicke Taube, die doch sonst ein hübsches Weib ist, neben ihr aussieht! Wie eine Stopfgans neben einem Schwan! Wahrhaftig die passende Braut für den Jungen, der sich eben so ausgezeichnet hat.«

Da kam dieser eben herbeigestürzt. »Vater«, klagte er, »sie sagen mir's nicht. Und der Fedko hat mich schlagen wollen, und die anderen haben mich ausgelacht.«

»Ein geschickter Bote bist du«, zürnte Jossef und ließ den Blick über den Platz schweifen. »Ist denn kein verständiger Mensch da, der es mir so bald wie möglich meldet?«

Da trat Sender hervor. »Ich will's versuchen, Reb Jossef«, sagte er und schielte dabei zum Nebenfenster empor. Er sah, wie Taube auflachte und dabei Malke neckend anstieß; die aber wurde rot und trat rasch ins Zimmer zurück.

»Brav, Sender«, sagte der Vorsteher erfreut. »Du bringst es gewiß heraus.«

Sender eilte zum Kloster zurück. »Was bedeutet das?« dachte er. »Sie haben's beide wieder so gemacht wie heute vormittag.«

Fedko hatte eben abermals eine Mahnrede gehalten, diesmal mit merklich unsicherer Stimme.

Sender trat auf ihn zu. »Wie steht's drinnen?« fragte er.

»Senderko – du?« rief Fedko zärtlich und klammerte sich ans Gitter. Es war keine überflüssige Bewegung, denn die große Flasche, die auf dem Bänkchen stand, war bereits nahezu leer. »Noch nichts entschieden! Aber sobald ich was weiß, sag' ich's dir – dir allein – denn du bist zwar verrückt, ganz verrückt – Kommedia, hehe! – und ein Jude, aber ich hab' dich gern, Senderko, sehr gern...«

Sender blieb neben dem Gitter stehen. Er brauchte nur wenige Minuten zu harren. Ein dienender Bruder erschien im Hofe und rief laut: »Geht heim, die Entscheidung wird erst morgen verkündet.« Unter den Juden erhoben sich Rufe der Enttäuschung; von den Zechern drinnen horchten nur wenige auf. »Frag' ihn, was es gibt«, bat Sender den Pförtner, und der steuerte denn auch gehorsam im Bogen auf den Frater zu und kam dann ebenso zurück.

»O die Schlauen«, kicherte er. »Sie wollen nur das betrunkene Pack los sein. Sie fürchten, die Kerls lassen den Valerian sonst bis morgen früh hochleben und fordern immer mehr Met und Schnaps. Schande« – er taumelte – »Schande, sich bei solcher Gelegenheit zu betrinken. Aber wer gewählt ist, darf ich dir nicht sagen, der Bruder hat's verboten.«

»Dann will ich nicht in dich dringen«, lachte Sender und trat zurück. Im nächsten Augenblick umgab ihn ein Knäuel Fragender, und zwanzig Hände zugleich faßten ihn am Kaftan, Knöpfen und Ärmeln. »Was hat er gesagt? Was hat er gesagt?« Aber er schüttelte sie ab. »Ich weiß es nun«, rief er. »Aber der Vorsteher muß es zuerst erfahren.«

Wie ein Triumphator, rings von einem Gefolge umgeben, trat Sender den Weg zum Marktplatz an, anfangs rasch, dann immer langsamer. Denn das Gefolge wuchs von Schritt zu Schritt lawinenartig an, weil einer dem anderen zurief: »Sender hat's herausgebracht und bringt's nun dem Vorsteher.« Aber auch Sender beeilte sich nicht, es war ihm nicht unbehaglich, so dahinzuschreiten, von allen Seiten bei den Knöpfen gefaßt, aber auch bewundert, denn auch sein Lob erklang von aller Lippen. »Sie wollen's nicht sagen, aber der Pojaz weiß es.«

Als der Zug endlich vor Jossef Grüns Haus anlangte, war er, aber auch Senders Verdienst ins Ungemessene angewachsen: »So ein Kopf! Das war noch nicht da.«

Jossef, der eben mit den Seinen beim Abendessen gesessen, eilte ihm auf die Gasse entgegen und führte ihn in die Stube. »Nun«, rief er in atemloser Erregung, »rede! Marcellin oder Valerian?«

Aber mit einem Worte Antwort zu geben, war Sender nicht gewillt. Er ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen. Da stand die ganze Familie und die anderen angesehenen Leute der Stadt und hingen an seinem Munde. Malke hatte sich in einer Ecke verborgen, hinter dem breiten Rücken der Freundin, aber auch ihre Augen sah er erwartungsvoll auf sich gerichtet. »So große blaue Augen«, dachte er, »wie heißt die griechische Göttin im Lesebuch, die solche Augen hat?« Laut aber sagte er endlich: »Furchtbar ist es bei der Wahl zugegangen, Reb Jossef, ganz furchtbar. Und Sachen haben sich die beiden Parteien gesagt, Sachen, schön war's nicht. ›Wenn ihr den Valerian wählt‹, riefen die einen, ›so ist's mit der Klosterzucht vorbei und er verkauft ganz Barnow an die Juden.‹ – ›,Und wenn ihr den Marcellin wählt‹, riefen die anderen, ›so ist unser Leben hier nicht länger zu ertragen und das Kloster verarmt. Warum sollen wir den Juden nicht gegen gutes Geld Baugrund verkaufen? Es bricht ja vielleicht eine Pest aus, wenn wir sie noch länger zusammenpferchen.‹ Es ist aber noch schlimmer gekommen –«

»Schlimmer?« rief Jossef erblassend. »Schlimmer?« wiederholten die anderen atemlos.

»Bei den Verhandlungen nämlich«, sagte Sender. »Böse Worte – aber wozu die wiederholen? Endlich sagt der Subprior: ›Wir werden uns nicht überzeugen. Wählen wir.‹ Er verteilt die Stimmzettel und –«

»Und?«

»Athene heißt die Göttin«, dachte Sender, »aber diese Augen sollen mich noch länger so ansehen!« – »Und jeder schreibt einen Namen auf«, fuhr er fort. »Auch dabei ist es nicht ganz glatt zugegangen, hör' ich. Endlich sammelt der Pater Sekretär die Stimmen und der Subprior beginnt zu lesen: ›Marcellin – Valerian – Marcellin – Valerian –‹«

»Stimmengleichheit?« stieß der Vorsteher hervor.

Sender schüttelte den Kopf. ›Zapple nur‹, dachte er, ›so ein Mädchen für deinen Mosche!‹ – »Dann Marcellin, Marcellin, Marcellin –«

»Gott Israels!« stöhnte Jossef Grün angstvoll.

»Und Marcellin«, fuhr Sender fort. ›Halt‹, dachte er, ›dreizehn Wähler sind's ja nur.‹ – »Dann aber Valerian und Valerian bis zu Ende.«

»Und wer ist gewählt?«

»Valerian! Aber es wird erst morgen verkündet!«

»Valerian«, jauchzte der Vorsteher und umarmte Sender. »Valerian«, fielen die anderen ein. Und es klang auf die Straße hinaus und einige Minuten später bis in die entlegenste Ecke des Ghetto: »Gott sei gelobt, Valerian!« Auch der Ärmste, der nie hoffen durfte, ein Fußbreit Erde sein Eigen zu nennen, jubelte auf, als wäre ihm ein Haus geschenkt; ein schwerer Druck war von den Gemütern genommen, unter jenen Männern, von denen das Schicksal dieser Mühseligen und Belasteten abhing, war ein menschlich Gesinnter mehr.

»Wein her!« rief Jossef. »Setzt euch alle. Du, Sender, neben mich. Du weißt, ich hab' immer was von dir gehalten. Und nun erzähle: wie hast du alles so genau erfahren?«

»Mein Geheimnis«, erwiderte Sender lächelnd. Wieder schweifte sein Blick zu Malke hin. Sie vermied es, ihn anzusehen, aber hören sollte sie ihn. »Es ist doch auch vielleicht manchmal für die Gemeinde gut, wenn einer Deutsch lesen kann und auch andere Leut' kennt, als Juden.«

»Gewiß«, gab Jossef zu. »Das heißt«, fügte er zögernd bei, »für alle wär's nicht gut. Aber wenn's ein Mann zugleich zu seinem Geschäft macht, wie du, und so einen feinen Kopf hat, so kann niemand was dagegen haben... Also«, fuhr er hastig fort, um von dem heiklen Thema abzukommen, »wie du es erfahren hast, ist ein Geheimnis. Aber warum wird die Wahl erst morgen verkündet?«

»Fragt nicht, Reb Jossef«, sagte Sender mit vielsagendem Lächeln. »Laßt Euch an der Nachricht genügen. Denn wenn ich Eure Neugierde befriedige, so wird mir dadurch vielleicht ein Weg verrammelt, auf dem ich der Gemeinde auch in Zukunft nützen kann. Ein Weg ins Kloster – Ihr seht, ich bin ein gefährlicher Mensch.«

»Nein«, rief Jossef eifrig, »daß du ein guter Jude bist, weiß ich.«

»Ich widerspreche nicht«, sagte Sender lächelnd, aber mit Würde. »Auch leidlich vernünftig bin ich geworden, Zeit wär's.« Er blickte Taube scharf an. »Wer mich jetzt noch als Pojaz ausschreit, tut mir unrecht. Und das alles trotz der deutschen Bücher, Reb Jossef; sie können also nicht gar so schlecht sein. Ihr sagt: ›Du bist ein Geschäftsmann, dir verzeihen wir sie.‹ Freilich muß ich sie auch zu meinem Geschäft machen, ich bin ja arm. Aber wenn ich reich wär', tät' ich's erst recht. Und wenn Ihr so denkt, so muß Euch ja ein Mädchen, das deutsche Bücher liest, gar als Sünderin erscheinen?«

Der Vorsteher stieß ihn heftig nur dem Fuß an. »Der neue Prior –« begann er laut.

Aber Sender war nicht der Mann, sich einschüchtern zu lassen. »Warum tretet Ihr mir auf den Fuß?« fragte er noch lauter. »Ich wüßt' gern, wie Ihr über so ein Mädchen denkt? Ich meine, man muß ihr deshalb nur noch mehr Achtung –«

Er verstummte bestürzt. Malke, die bisher mit glühenden Wangen und gesenktem Blick dagesessen, hatte sich geräuschvoll erhoben. »Komm', Taube«, sagte sie und schritt zur Tür hinaus. Frau Taube lachte laut auf und folgte ihr.

»Hast du denn nicht gewußt, wer das ist?« fragte der Vorsteher. »Das Mädchen kann ja selbst Deutsch lesen. Nun hat sie's für Spott genommen.«

»Aber das war's nicht«, beteuerte Sender. »Ich bitt' Euch, sagt ihr das.«

Eine Schar neuer Gäste trat lärmend ein, auch sie überhäuften Sender mit Lobsprüchen. Aber seine Stimmung war für heute abend verdorben. Er trat ans Fenster; draußen gingen Malke und Taube Arm in Arm auf und nieder. Sollte er sie ansprechen, sich entschuldigen? Vielleicht machte er's dadurch noch schlechter. »Ach was«, dachte er, »den Hals kann's nicht kosten!« Und er trat hinaus und auf Malke zu.

»Verzeiht«, sagte er. »Eine Fremde soll nicht glauben, daß ich sie kränken wollte. Ich hab's gut gemeint –«

Die blauen Augen blickten ihn abweisend, fast feindselig an. »Es hat mich nicht gekränkt«, sagte sie kalt. »Nur unangenehm war's mir. Es war gar so deutlich...«

»Das war's«, gab er kleinlaut zu. »Jetzt versteh' ich. ›Wenn man die Absicht merkt, wird man verstimmt‹, heißt ein deutsches Sprichwort, das in meinem Lesebuch steht.«

Sie lächelte spöttisch. »So beiläufig heißt es«, sagte sie. »Aber es ist kein Sprichwort, sondern ein Vers aus Goethes ›Tasso‹ und lautet: ›So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt.‹«

»Ich will's mir merken«, sagte er demütig. »Ist dieser ›Tasso‹ auch ein Spiel?«

»Was versteht Ihr darunter? Ein Drama? Ja!« Es klang messerscharf. »Komm', Taube.«

Aber das behäbige junge Weib empfand Mitleid mit dem Mißhandelten. »Ihr habt Euch ja heut' ausgezeichnet, Sender. Wie hast du ihn genannt, Malke? ›Der Held des Abends‹.« Sie wollte dadurch ein Pflaster auf seine Wunde legen. »Aber warum habt Ihr mich vorhin so scharf angesehen? Ich red' Euch nichts Böses nach. Nicht wahr, Malke?«

Das Mädchen zuckte die Achseln. »Ich erinnere mich überhaupt nicht«, sagte sie, »daß wir über diesen – Herrn gesprochen hätten. Komm'!«

Das war Taube denn doch zu arg. »Aber Malke!« sagte sie und bot Sender herzlich die Hand zum Abschied. »Ihr könnt heut' wohl schlafen, Ihr habt uns allen eine große Freude bereitet. Hoffentlich Euch selber die größte«, fügte sie neckend bei. Und als er sie fragend anblickte. »Wann baut Ihr Euer Haus, Sender?«

»Ich?« Er lachte auf. »Mit Gottes Hilfe in hundert Jahren. Denn nach meinem Tod müßt's sein. Lebend tu' ich's nicht. Wozu brauch' ich ein Haus?«

»Um darin mit Weib und Kind zu wohnen«, lachte sie.«Freilich, Euch sagt man nach, daß Ihr nie heiraten werdet. Ist das wahr?«

»Nie?« erwiderte er. »Derlei soll man nicht verschwören. Aber nicht so bald.« Da durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke: Dieses hochmütige Mädchen behandelte ihn deshalb so schlecht, weil sie wußte, daß ihr Vater ihn abgelehnt hatte, und nun befürchtete, er könnte die Werbung nochmals bei ihr selber versuchen. »O«, dachte er, »diesen Irrtum wollen wir dir nehmen.«

»So in zehn oder fünfzehn Jahren«, fuhr er fort, »früher nicht, und wenn mir die Schönste, Klügste und Bescheidenste begegnete. Denn Bescheidenheit, Frau Taube, ist in meinen Augen mehr wert, als alles andere zusammen, mehr, als wenn man den ganzen Goethe auswendig kann und Lessing und Schiller und Moritz Hartmann und Shakespeare und was weiß ich!« Er wurde immer heftiger. »Ein Mann soll heiraten, wenn er was ist, und dann jene, die er sich aussucht, nicht der Vermittler. Warum mich dann, werdet Ihr fragen, der Marschallik dennoch ausbietet, wie der Metzger das Kalb? Weil er hofft, er bringt mich doch herum. Aber er irrt sich. Seit der Mielnicer Sach' hab' ich von nichts mehr gehört und darum auch nicht ›nein‹ sagen können. Aber ohne mich geht's doch nicht. Und werd' ich gefragt, so sag' ich nein! nein! nein!...

»So«, dachte er, »nun weißt du's, du Hochmütige!« Aber wie ward ihm, als nun das Mädchen auf ihn zutrat und ihm die Hand bot.

»Ihr habt recht«, sagte sie fast bewegt. »Es freut mich, daß Ihr so denkt! Die Vermittler stiften viel Unheil an... Und erst die frühen Ehen!... Meine Jütte hat mir gesagt: ›Dieser Sender hat seine eigenen Gedanken!‹ Es freut mich, daß sie recht hat und daß es vernünftige Gedanken sind.«

Frau Taube starrte die beiden betroffen an.

»Unsinn!« sagte sie dann mit verlegenem Lachen. »Wenn jeder so dächte, dann könnt' die Welt aussterben.« Sie errötete. »Ich hab' meinen Schmule erst unter dem Trauhimmel gesehen, auch ist er zwei Jahr' jünger als ich, und seit ich meine Bübele hab', bin ich doch ganz glücklich. Sollen sich etwa jüdische Kinder gar noch aus Liebe heiraten?«

»Bewahre«, sagte Malke. »Es wär' zu entsetzlich.« Sie wollte es spöttisch sagen, aber es klang wie der Aufschrei eines wunden Herzens.

Dann wandte sie sich an Sender, der noch immer ganz betroffen dastand.

»Ich höre«, sagte sie freundlich, »daß Ihr nie einen Lehrer gehabt habt. Wie seid Ihr eigentlich zum Deutschen gekommen?«

»Durch Zufall«, sagte er zögernd. »Aber ich weiß darum auch wenig genug. Ihr habt mich vorhin zweimal auf Fehlern ertappt – aber wenn ihr wüßtet –«

»Verzeiht mir«, sagte sie herzlich. »Es war nicht recht von mir. Wenn Ihr meine Lehrer gehabt hättet, wo wäret Ihr!«

»Kaum ebenso weit«, erwiderte er und wunderte sich im selben Atemzuge, daß ihm das galante Wort eingefallen. Denn sein Hirn wirbelte wie ein Kreisel, namentlich wenn er sie ansah – und wie schön sie nun war, da ein freundliches, gütiges Lächeln die ernsten Züge verklärte! »Freilich hab' ich's nicht leicht gehabt. Wißt Ihr, wie mir mein bißchen Bildung vorkommt? Da hab' ich da einen bunten Flicken auf meinen Kaftan geheftet und dort einen – wie ich sie eben bekommen konnte, aber ein deutscher Rock ist's nicht geworden.«

»Wer weiß«, tröstete sie, »vielleicht schneidert ihr Euch den auch noch einmal zusammen... Aber es ist spät!« Sie bot ihm die Hand. »Gute Nacht – und auf Wiedersehen, nicht wahr?«

»Auf Wiedersehen«, erwiderte er, drückte ihre Hand herzhaft und ließ sie dann errötend fahren.

Langsam ging er heim. Alle fünf Schritte blieb er stehen und legte die Hand auf die heiße Stirne, aber davon wollte es drinnen nicht klarer werden.

»Da erklär' mir einer das Mädchen«, murmelte er. »Bin ich höflich, wird sie grob, werd' ich grob, ist sie höflich! Und da erklär' mir einer mich selber! Möcht' ich sie heiraten? Behüte! Warum hab' ich mich dann so geärgert, daß sie mir beigestimmt hat?«


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