Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Einundzwanzigstes Kapitel

In den nächsten Tagen lernte Sender auch die Lasten eines solchen Glücksfalls kennen. Kaum konnte er sich der Bettler erwehren, die ihn im Laden und daheim bestürmten; auch allerlei Plänemacher rannten ihm die Tür ein, der eine wollte mit seinem Gelde einen Kramladen, der andere ein Viehgeschäft, der dritte eine Brauerei eröffnen. Vor allem machten ihm die Geldmakler zu schaffen; dreihundert Gulden waren – und sind noch heute – in einer galizischen Kleinstadt ein großes Kapital. Der eine bot ihm zwanzig, der andere gar dreißig und mehr Prozent Zinsen, und es waren Leute darunter, die für den Betrag gut waren. Aber Sender trug sein Geld zur Sparkasse, obwohl sie nur fünf vom Hundert bezahlte. Selbst die Mutter ließ dies nicht ohne heftigen Widerspruch geschehen, den anderen vollends war seine Handlungsweise unfaßlich. Nur die Mildesten meinten: »Eben ein Pojaz, wie sollt' der mit Geld umzugehen wissen?« wogegen Dovidl rief: »Ein Verrückter – ich fahr' aus der Haut!«

Zu dieser ohnehin schwer erfüllbaren Drohung ließ sich übrigens der Winkelschreiber jetzt seinem Schreiber gegenüber seltener hinreißen als sonst, der »Kapitalist« hatte ihn nun ja nicht mehr nötig. Sogar Senders Verlangen, nun täglich zwei Freistunden mehr zu erhalten, führte zu einer gütlichen Einigung, nachdem er auch vom Lohn einen Gulden geopfert. Nur ein Zwischenfall hätte der Beziehung fast ein Ende gemacht, denn in Dingen der Rechtgläubigkeit verstand Morgenstern keinen Spaß, schon aus Geschäftsgründen.

Da brachte nämlich eines Tages, als Sender abwesend war, der Postbote ein Paket für ihn, für das neun Gulden Nachnahme zu bezahlen waren. Da ein Lemberger Buchhändler als Absender darauf stand, legte Dovidl den Betrag aus; er wollte wissen, welche Gesetze da der künftige Konkurrent heimlich bezogen, und ihm scharf ins Gewissen reden. Er war angenehm enttäuscht, als er, eine Sprachlehre und einen »Briefsteller« abgerechnet, deren Nutzen auch ihm einleuchtete, im Paket lauter »dummes Zeug« fand; wozu brauchte ein Winkelschreiber eine Weltgeschichte, ein Lesebuch und ähnliches? Daneben lag aber noch ein dünnes Büchlein, und als Morgenstern dieses aufschlug, und nur zwei Zeilen las, ließ er es entsetzt fallen. Denn diese Zeilen lauteten: »Frage: An wen glaubst du? Antwort: An meinen Herrn und Heiland Jesum Christum...«

Es war entsetzlich, es war grauenvoll, aber nicht zu bezweifeln: Sender war entweder bereits heimlich getauft oder bereitete sich dazu vor. Einen solchen Menschen aber durfte er nicht länger unter seinem Dache dulden, sonst traf ihn selbst der Bannstrahl des Rabbi. Und darum harrte er dem Eintreten Senders in wildester Erregung entgegen und rief ihm dann kreischend zu: »Gib mir neun Gulden, nimm deine Bücher und geh'... Abtrünniger, weh' dir!«

Sender blickte ihn verblüfft an, zog, nachdem er den Zusammenhang begriffen, sein Beutelchen, zählte die neun Gulden auf den Tisch, griff nach den Büchern und fragte dann ruhig: »Seid Ihr wirklich so beschränkt wie Rabbi Manasse, oder stellt Ihr euch nur so?«

»Ich platz'... Schlag' das Büchlein auf... Ich rühr's nicht an – das dünne da... Nun?«

Sender las: »›Katechismus für katholische Volksschulen‹... Das hab' ich nicht bestellt.«

»Nicht bestellt? Ich fahr' aus der Haut... Und was steht in dem Brief da?«

Er hielt ihm den Begleitbrief der Buchhandlung unter die Nase. Die Firma schrieb, sie habe, da die Post ihr den Brief verspätet übergeben, den Auftrag erst jetzt ausführen können und die verbreitetsten unter den gewünschten Büchern gewählt, gern sei sie eventuell zum Umtausch bereit. »Doch können wir Ihnen«, schloß der Brief, »keinen anderen Katechismus als den beiliegenden senden, da wir nur diese offizielle, vom erzbischöflichen Ordinariat approbierte Ausgabe führen, und es unseres Wissens Katechismen für einzelne Stände nicht gibt.«

Nun war Sender die Sache klar. »Esel«, murmelte er, obgleich die Schuld an ihm lag. Er hatte einen »Katechismus für einen künftigen Schauspieler« bestellt.

Laut aber sagte er: »Ein Mißverständnis. Ich schicke das Büchlein vor euren Augen zurück. Genügt euch das?«

»Nein!« rief der Winkelschreiber. »Ich muß doch wissen, was vorgeht. So gesteh's doch, du willst Christ werden.«

Erst nachdem ihn Sender darüber mit den feierlichsten Eiden beruhigt, gab sich Dovidl zufrieden, sofern er noch den Brief an den Buchhändler zu lesen bekomme. Aber dies konnte ihm Sender nicht versprechen, er gedachte seine Bestellung deutlicher zu wiederholen und für die Sendung Fedkos Adresse anzugeben. Dovidl war der letzte, den er in seine Pläne hätte einweihen mögen.

»Entscheidet euch«, sagte er. »Genügt euch mein Schwur nicht, so sind wir geschiedene Leute. Und ebenso gehe ich, wenn Ihr jemand eine Silbe von dem Katechismus erzählt.«

Dovidl fluchte und jammerte, dann gab er nach.

Die nächsten Wochen vergingen Sender in stiller, fleißiger Arbeit. Er konnte sich ihr ungestört widmen, im Freien, im Laden, in seinem Hause; die deutschen Bücher mehrten ihm nun sogar den Respekt bei den Leuten, sie gehörten ja zu seinem Geschäft. Nicht ohne Rührung trat er zuweilen in jenen Schloßhof, wo ihn vor Jahresfrist der unglückliche »Furbes« das Lesen gelehrt; das Schicksal hatte ihn doch wohl geleitet, wie ungleich näher fühlte er sich nun seinem Ziele!

Aber nicht allein um dieses Zieles willen schuf ihm die Arbeit Behagen, er freute sich des unbekannten, nie geahnten Lebens, in das er nun zu blicken begann. Die Erde, ihre Bewohner, ihre Geschichte, begannen sich ihm sacht zu enthüllen, er erkannte, daß er wie ein Blinder dahingelebt, oder richtiger wie ein Kind, das sich für den Mittelpunkt allen Treibens hält und sein Stücklein Welt für die einzige, die es gibt. Weil seine Erkenntnis wuchs, erkannte er deutlich, welche ungeheuren Lücken sie hatte, und daß er erst ein winziges Teilchen von dem wußte, was es zu wissen gab, ja noch mehr, erst ein Atom von dem, was ihm zu wissen nötig war. Aber weder diese Erkenntnis, noch die instinktive Empfindung, daß er von dem Wenigen, was ihn seine Bücher lehrten, vieles falsch und verkehrt auffasse, vermochte seine Zuversicht zu trüben; er mußte Lehrer haben, gewiß – der rechte Fortschritt begann erst in Lemberg, aber der war ihm ja auch gewiß.

Der Herbst, – wenn er nur erst da war! Er wünschte der Zeit Flügel, jeder einzelne dieser langen, heißen Julitage wollte gar nicht enden. Aber neben der Arbeit half ihm auch der Gedanke über diese Pein des Harrens hinweg, daß dies die letzte Zeit war, wo er der Mutter Liebe mit Liebe vergelten konnte. Sein Verhältnis zu ihr war nun inniger und zärtlicher geworden als je vorher, vielleicht, weil sich beider Wesen seit seiner Krankheit gewandelt. Sein Übermut hatte sich gelindert, kopfschüttelnd gedachte er nun selbst zuweilen der unzähligen tollen Streiche, in denen sich einst der dunkle Drang, der nun das rechte Ziel gefunden, ausgetobt. Die harte, verbitterte Frau aber war vollends immer weicher, und nun im Sonnenschein des Glücks fast fröhlich geworden. Freilich schien es ihm, als ob diese hellere Stimmung sich ihr wieder ein wenig getrübt hätte; sie seufzte zuweilen oder starrte stundenlang sinnend in das Licht der Lampe. Aber er glaubte den Grund zu wissen, der Marschallik fand sich ja wieder oft ein, und sie flüsterten dann immer lange miteinander; offenbar wurde abermals über eine neue Partie verhandelt, und diesmal war wohl auch Morgenstern irgendwie dabei beteiligt, denn auch er erschien ab und zu im Mauthause oder Frau Rosel in der »Prifat-Agentschaft«. Es wurde dann drinnen so leise gesprochen, daß er kein Wort verstand, aber er war nicht neugierig; gleichviel wie die Braut hieß, sie mühten sich vergeblich.

Mehr Unbehagen machte es ihm, daß er jenen »Katechismus« noch immer nicht erhalten hatte; endlich schrieb ihm der Buchhändler, er könne das Buch ohne genaue Angabe des Titels nicht auftreiben. Aber auch dies war nicht gar so schlimm, da mußte er den August und September eben anderswie nützen. Nun war er ja so weit, um nach Nadlers Rat die Werke Lessings und Schillers lesen zu können, und die standen ihm in der Bibliothek des Klosters zu Gebote.

Sein Freund Fedko war unschwer zu finden; er saß noch immer jeden Abend in seiner Stammkneipe. Der Alte war aufrichtig gerührt, als ihm Sender sein Anliegen vortrug.

»O, ich habe es geahnt«, sagte er. »Neulich habe ich einen merkwürdigen Traum gehabt; ich bin auf dem Marktplatz gelegen und war so schwer besoffen, daß ich mich nicht rühren konnte. Dann hat es zu regnen begonnen – lauter Slibowitz – in den Mund hat es mir hineingeregnet. Wie ich aufstehe, sage ich gleich: ›Fedko‹, sage ich, ›das bedeutet etwas Angenehmes – vielleicht stirbt der Prior – ein Totenmahl, und es muß ein neuer gewählt werden – ein Festmahl. Oder vielleicht kommt der verrückte Jude wieder!‹ Also – der Prior lebt – aber du bist wieder da! Nun – wann willst du zu den Büchern?«

»Morgen«, erwiderte Sender.

»Gut! Morgen! Aber den Slibowitz könntest du schon heute zahlen.«

Sender war dazu bereit. Mit strahlendem Gesicht setzte sich der Alte hinter den Schänktisch. Als er jedoch das Gläschen zum Munde führen wollte, verfinsterte sich plötzlich seine Miene.

»Teufel!« murmelte er bestürzt, »daran habe ich ja noch gar nicht gedacht!«

»Woran?« fragte Sender.

»Hm! Da haben sie nämlich –« Er stockte und sann nach! Dann griff er nach dem Gläschen und leerte es.

»Ach was!« murmelte er, »alle Menschen sind doch nicht verrückt wie dieser Jude da! Und wenn man nur vorsichtig ist... Also morgen, lieber Senderko, morgen mittag!«

Am nächsten Tage geleitete er ihn um die erste Nachmittagsstunde, kurz nach dem Mittagsläuten in die Bücherei.

»Es ist freilich eine Gefahr dabei«, murmelte er »wir müssen leise auftreten.«

»Warum?« fragte Sender.

»Hm – nein – nichts!« stotterte der Alte und wurde dunkelrot, er war das Lügen nicht gewohnt. Aber da standen sie schon vor der Tür der Bibliothek.

»Auch ich bin seitdem nicht dagewesen«, sagte Fedko treuherzig, indem er öffnete, »das Herz hat mir zu weh getan. So ohne dich – ohne einen Zweck... Du findest alles wie früher.«

Sender trat ein, die Riegel schlossen sich hinter ihm.

Es war in der Tat alles genau so, wie er es verlassen. Nur war ein Fensterflügel geöffnet, da drang die Sommerluft herein.

»Vielleicht hat der Sturm den Flügel eingedrückt«, dachte Sender. Aber als er näher zusah, gewahrte er noch eine Veränderung. Auf dem Tische des Ämilius lagen einige vergilbte Hefte. Er schlug sie auf und begann zu lesen. »Ho-mo homi-ni lu-pus.« Er konnte kein Wort verstehen, es war lateinisch.

War einer der Mönche inzwischen hier gewesen? Möglich, aber was störte das ihn! Er begann nach Schillers Werken zu suchen, fand sie jedoch nicht. Hingegen fiel ihm ein anderes Buch in die Hände, das er gleichfalls schon dem Titel nach kannte, es war im Lesebuch oft erwähnt: »Faust« von Goethe. Er blätterte hin und her. Es befremdete ihn, daß er kein Personenverzeichnis fand, keine Einteilung in Akte. Dann aber begann er wohlgemut zu lesen:

»Habe nun, ach, Philosophie,
Juristerei und Medizin«

und so weiter bis zum Vers: »Heiße Magister, heiße Doktor gar« – Da stutzte er zuerst: »Magister?« Das war der Titel des Provisors in der Apotheke, der Magister der Pharmazie war – »Ist dieser Faust Apotheker und Arzt zugleich?« dachte er. »Aber warum nicht, da er so vielerlei studiert hat?« Und weiter las er bis zum Vers:

»Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel«,

da hielt er abermals inne und fragte laut: »Was plagt ihn nicht? Was heißt Skrupel?«

»Ist das das einzige, was du nicht verstehst?«

Es war eine sanfte, leise Stimme, die diese Worte hinter ihm sprach, aber Sender erschrak tödlich und das Buch kollerte auf den Boden.«Gott über Israel!« stieß er entsetzt hervor und wandte sich um.

Vor ihm stand ein gebückter, klein gewachsener Greis im weißen Ordensgewande der Dominikaner.

»Erschrick nicht so«, sagte er lächelnd. »Wie kommst du her?«

»Ver-zei-hen Sie –« stammelte Sender und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.

»Hat dich der Fedko eingelassen?«

»Ja.«

»Und was suchst du hier?«

»Bücher – deutsche Bücher!«

Er brachte es nur mit Mühe hervor, und bebend fügte er hinzu: »Ich habe nichts genommen – alles stelle ich wieder an seinen Platz.«

Der Greis trat näher – Sender wich zurück.

»Fürchte dich nicht«, sagte der Mönch milde. »Von mir kommt dir nichts Schlimmes!«

Er ließ sich auf den Sessel des Ämilius nieder.

»Warum suchst du die Bücher hier?« fragte er.

»Wo könnt' ich sie sonst finden?« erwiderte Sender. »Aber ich will nichts, als sie lesen – bei Gott im Himmel!«

Wieder lächelte der Greis – es war ein gütiges, mildes Lächeln in dem feinen, bleichen, durchfurchten Antlitz. »Das glaub' ich dir! Diebe lassen sich nicht vom Pförtner einschließen, um den Monolog des Faust lesen zu können. Aber ich meine, du könntest dies Buch und ähnliche auch anderswo finden. Beim Stadtarzt zum Beispiel, der ebenfalls ein Jude ist.«

»Gewiß«, erwiderte Sender. »Der hat viele Bücher und ist ein guter Mann, er würde sie mir vielleicht leihen und es auch niemand sagen. Aber ein Zufall kann es doch enthüllen, ich hab' gedacht: ich bin nirgendwo so sicher wie hier.«

»Aber warum diese Heimlichkeit?«

»Unser Rabbi ist streng und die anderen auch. Man darf höchstens die notwendigsten deutschen Bücher lesen, aber keine solchen. Das ist Sünde, glauben sie.«

»Das glauben auch manche andere Leute«, sagte der Mönch. Und wie im Selbstgespräch fügte er leiser hinzu, indem er die Hand auf die Schriften des Ämilius legte: »Der da hat recht gehabt, es ist überall dieselbe Geschichte, nur die Tracht ist verschieden...«

Dann fragte er: »Warum tust du, was der Rabbi verbietet?«

»Weil ich nicht anders kann!«

Der Greis nickte, als hätte er diese Antwort erwartet.

»Wieder einer, den der große Durst quält, nicht wahr?«

Sender schwieg; er verstand nicht, was der Mönch meinte.

»Die großen Rätsel haben dich angefaßt und du möchtest die Antwort finden, dich den Klauen der Sphinx entreißen?«

Sender schüttelte langsam und zaghaft den Kopf.

Der Greis blickte ihn schärfer an. »Du verstehst mich nicht?« fragte er.

»Wegen Rätseln bin ich nicht gekommen«, sagte Sender schüchtern.

»Was suchst du in den Büchern?«

»Wissen«, sagte Sender. »Die Bildung.«

Der Greis nickte. »Warum suchst du sie?«

»Herr – Herr –« Sender suchte nach der richtigen Titulatur. »Herr Prior, das ist eine lange Geschichte –«

»Sag' nur: Pater Marian oder auch Pater Poczobut, dies ist mein Name, ich bin nicht Prior. Und wie heißt du?«

»Sender – Alexander Kurländer...«

»Also, Alexander, erzähle mir die Geschichte.« Und als er den jungen Juden zaudern sah, setzte er hinzu: »Du kannst mir vertrauen, gewiß!«

»Ja«, sagte Sender, »das weiß ich.« Der Mann vor ihm trug eine Tracht, die ihm seit seiner Kindheit Furcht, ja Grauen eingeflößt, aber das war das Antlitz, die Stimme, der Blick eines guten Menschen. Und dann – »ertappt bin ich nun einmal«, dachte er, »vielleicht überzeugt er sich wenigstens, daß auch ich kein schlechter Mensch bin.« Und er erzählte alles, seine Schicksale, seinen Lebenszweck – und viel ausführlicher, als er vorhatte, weil Pater Marian durch Zwischenfragen, durch den Ausdruck seiner Züge bewies, daß ihn die Erzählung lebhaft interessierte.

»Merkwürdig«, sagte er, nachdem Sender geschlossen. »Sehr merkwürdig. Ich hätte derlei kaum für möglich gehalten. Und doch«, fuhr er in jenem langgezogenen, halblauten Tone fort, in dem er laut zu denken pflegte, »was ist da zu verwundern?!... Wo immer so ein Funke entglimmt, oft mitten im tiefsten Dunkel, und zur Leuchte wird, ist auch etwas Rätselhaftes dabei – den letzten Grund kennen wir nicht. Wir glauben, daß diese Funken sehr selten sind auf dieser dunklen Erde – das mag nicht richtig sein, sie sind häufig genug, nur daß wir von den meisten nie erfahren, weil sie das Dunkel wieder verschlingt... Und wie wird es diesem da ergehen?«

Er heftete seine Augen gedankenvoll auf das kluge, bleiche, scharfgeschnittene Antlitz des jungen Mannes, mit den feurigen, rasch blickenden Augen.

»An Ausdauer wenigstens scheint es dir nicht zu fehlen«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie viel dir deine Studien im Winter genützt haben, aber jedenfalls hast du einen hohen Preis dafür gezahlt. Denn deine Erkältung hast du dir offenbar hier geholt.«

»Vielleicht«, erwiderte Sender. »Ich hab' nicht darüber nachgedacht. Aber was liegt daran? Jetzt bin ich gesund.«

»Was liegt daran?« wiederholte der Greis. »Der Funke scheint echt. Und warum sollte sich nicht Ähnliches zum zweiten Mal begeben? Du hast doch zweifellos«, wandte er sich wieder an Sender, »von deinem berühmten Schicksalsgenossen gehört? Er war auch nur ein armer, unwissender Judenknabe, ein ›Pojaz‹ wie du, und ist ein großer deutscher Schauspieler geworden.«

»Natürlich hab' ich von ihm gehört!« rief Sender freudig. »Er ist sogar mein Beschützer, Adolf Nadler. Wissen Sie vielleicht, wo er jetzt ist?«

»Nadler? Den kenn' ich nicht. Ich habe Bogumil Dawison gemeint. Ich habe ihn vor zwei Jahren einmal in Breslau gesehen, als Shylock, und werde den Eindruck nie vergessen.«

»Den spielt auch der Herr Nadler sehr gut«, sagte Sender. »Und auch ich werde ihn gut spielen – das weiß ich.«

Der Greis mußte lächeln. »Wie alt bist du?«

»Bald einundzwanzig.«

»Wenn es nur nicht schon –« begann er, »zu spät ist«, hatte er sagen wollen. Aber wozu den armen Menschen entmutigen? – Im September wollte er ohnehin nach Lemberg.

»Du gefällst mir«, sagte er. »Kann ich dir in den zwei Monaten noch etwas nützen, soll es gern geschehen.«

»Ich dank' Ihnen!« rief Sender freudig und tat einen Schritt vorwärts. Er wollte die Hand des Greises fassen, aber er traute sich nicht. Als sie ihm der Pater jedoch reichte, beugte er sich ehrfurchtsvoll auf diese zitternde, runzlige Hand nieder und hätte sie geküßt, wenn sie sich ihm nicht rasch entzogen hätte.

»Wenn das dein Rabbi gesehen hätte!« sagte Poczobut. »Übrigens – wer weiß, ob ich dir nützen kann. Du willst Stücke lesen, sagst du? Aber dann doch nicht als erstes den ›Faust‹ – den kannst du ja jetzt unmöglich verstehen. Lieber ein Stück von Schiller –«

»Ich hab' keins finden können«, entschuldigte sich Sender. »Übrigens, mein erstes wär's nicht. Von Lessing hab' ich schon vieles gelesen. Den Nathan und –«

»So? Nathan den Weisen? Aber hast du ihn auch richtig verstanden? Hältst du nun alle drei Ringe für gleich echt?«

Sender zuckte verlegen die Achseln. »Ich weiß nicht. Aber mein Ring ist jedenfalls echt. Denn er ist ja der älteste, kann also gar nicht einem anderen nachgemacht sein!«

Der Mönch mußte lachen, so pfiffig war dabei das Gesicht des ›Pojaz‹.

»Nach dieser Probe zu schließen«, sagte er dann ernst, .«würde es dir vielleicht nicht schaden, den ›Nathan‹ noch einmal zu lesen... Aber nicht mit mir«, fuhr er fort. »Wir wollen alles vermeiden, was dich verwirren oder gar dein Mißtrauen gegen mich wecken könnte. Ich will dich nicht zur Taufe bereden, Alexander, wahrhaftig nicht!«

»Ich glaub's Ihnen«, erwiderte der Jude. »Aber sagen Sie Sender – ›Alexander‹, damit fang' ich erst in Lemberg an. Also Sie wollen so gut sein und ein Stück von Schiller mit mir lesen? Aber sind die Bücher hier?«

Der Mönch wies nach der Stelle; freudig brachte Sender die Bände herbei. »Aber wenn Fedko erfährt, daß ein Mönch darum weiß –«

»Ich werde schweigen! Und es soll mir lieb sein, wenn du es auch tust. Denn auch ich habe einen Gestrengen über mir, wie du den Rabbi... Übrigens können wir ruhig sein, die anderen kommen nie hierher...«

»Sie sind wohl oft hier? Aber wie kommt's, daß Fedko nichts davon weiß?«

»Weil ich durch das Pförtchen da hereinkomme.« Er wies auf eine Seitenwand. »Ich wohne in der anstoßenden Zelle.«

»In einer Nonnenzelle?« rief Sender.

»Ja, so nennen sie's. Seit zwei Monaten.«

»Und was –« Sender stockte. »Und was haben Sie angestellt?« hatte er fragen wollen.

Der Greis erriet es. »Ja, ich bin zur Strafe hier«, sagte er ruhig, ohne eine Spur von Bitterkeit. »Ich habe ein Buch geschrieben, das meinen Oberen in Schlesien nicht gefiel. Und darum bin ich hierher geschickt worden, bis – nun, bis ich mich bessere.«

»Sie haben es hier gewiß recht schlecht?« fragte Sender teilnahmsvoll. Er dachte an die Geißeln, aber davon wagte er doch nicht zu sprechen.

»Nicht gut!« erwiderte der Mönch. »Aber was liegt daran? Ich bin an siebzig Jahre alt, krank und gebrochen. Ich habe keine Hoffnungen, keine Pläne mehr. Mein Buch aber ist in der Welt und lebt, und keine Gewalttat kann es vernichten, es wird leben, bis ein Größerer und Besserer kommt und es überflüssig macht. Möge er bald kommen!«

Sender blickte ihn bewegt, voll innigsten Mitleids an. Aber gleichzeitig dachte er: »In meiner Weltgeschichte steht, wie sie den Mönch in Rom verbrannt haben. Mir scheint gar, auch ein Dominikaner. Ich hab' mir immer gedacht: Das wär' ein feines Trauerspiel. Nun weiß ich auch, wie ich den Mönch machen möcht'.«

Pater Marian fuhr sich über die Stirne. »Und nun wollen wir ein Stück für dich aussuchen.« Aber während er noch in den Bänden blätterte, schlug es Zwei und gleichzeitig wurde der schwere Schritt Fedkos auf dem Korridor hörbar. »Auf Wiedersehen«, flüsterte der Greis, und verschwand in seiner Zelle.

Freudigen Herzens ging Sender heim. »Gott ist mit mir«, dachte er. »Gott will, daß ich mein Ziel erreiche. Was hätte ich mir für die Zeit, wo ich noch hier bleibe, besseres wünschen können?«


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