Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Am Schranken waltete die christliche Magd. Die Mutter war, wie in letzter Zeit so oft, nach dem Städtchen gegangen. In der Wohnstube sah Sender ihren Strickbeutel liegen; als er mit der Hand darüber hinfuhr, fühlte er ein eckiges Täfelchen. Neugierig zog er es hervor. »Wer ist das?« murmelte er verblüfft. »Ist die hübsch!«

Es war eine kolorierte Daguerrotypie, wie sie vor vierzig Jahren üblich waren, und stellte ein junges, auffallend schönes Mädchen dar. Goldbraunes Haar umwogte in leichten Wellen ein längliches, schmales, edel geschnittenes Antlitz, in dem große blaue Augen standen. Die feinen Lippen waren etwas abwärts gezogen, dies und der ernste, sinnende Blick gab den Zügen den Ausdruck des Strengen, fast Leidenden. Sich porträtieren zu lassen, ist noch heute in der Sekte der Chassidim nicht Brauch, geschweige denn damals, und der Marschallik machte sich oft genug über seine Kollegen, die Heiratsvermittler in den großen Städten, lustig, die mit einem ganzen Paket solcher Bilder hausieren gingen. Hatte er sich nun dennoch zu der neuen Mode bequemt? Es war unwahrscheinlich. Auch Frau Rosel war solchen »gottlosen« Neuerungen schwerlich geneigt – und dennoch, was konnte das Bild anderes zu bedeuten haben? »Mir kann's jedenfalls gleichgültig sein«, murmelte Sender, und ließ das Bild ins Beutelchen zurückgleiten.

Aber dann holte er es doch wieder hervor. Er hatte sich bisher nicht viel um Frauenschönheit gekümmert, ein hübsches Gesicht war ihm lieber als ein häßliches und wie jedem Juden des Ostens ein wohlgenährtes lieber als ein mageres, aber was er bisher von der Macht und dem Zauber der Schönheit gelesen, war ihm nie recht verständlich gewesen. Nun kam ihm eine Ahnung davon. »So ein Gesicht hab' ich noch nicht gesehen«, dachte er. »Sie ist mager, die Arme, und doch sieht man sie gern an, auch klug muß sie sein. Aber warum ist sie so traurig? Ein so junges Kind!«

Er hatte sein »Lesebuch« herbeigeholt und den Aufsatz »Schillers Leben« aufgeschlagen, um sich für morgen vorzubereiten. Sonst war in dem Augenblick, wo er zu lesen begann, alles andere für ihn versunken. Diesmal aber mußte er immer wieder nach dem Strickbeutel hinschielen und widerstand der Versuchung nicht länger, das Bild zum dritten Male hervorzuziehen.

Wer war das Mädchen? Wie kam seine Mutter zu dem Bilde? Es konnte ja gar nicht anders sein, der Marschallik hatte es ihr gebracht. Aber war das überhaupt ein jüdisches Mädchen? Er konnte nicht recht daran glauben. Wenigstens vermochte er nichts von dem Typus in den Zügen zu entdecken. »Wenn sie aber eine Jüdin ist«, dachte er, »dann eine ganz feine, und für die werden ihre Eltern einen anderen suchen, als Sender, den Pojaz. Sie hat etwas im Gesicht – etwas Besonderes – ich weiß nicht recht was.« Es war der geistige Ausdruck.

Erst als er draußen die Stimme der Mutter hörte, steckte er das Bild hastig ins Beutelchen. Er wollte sie keinesfalls danach fragen; sollte ihn das Mädchen etwas angehen, so mußte ja sie davon zu reden beginnen.

Frau Rosel trat ein, ihre Lider waren gerötet, sie war offenbar in schmerzlicher Erregung. Als sein Auge dem ihren begegnete, blickte sie unsicher zu Boden.

»Mutter«, fragte er besorgt, »was ist geschehen? Du hast geweint?« Sie wandte sich ab. »Es ist nichts«, murmelte sie. Und als er in sie drang, wiederholte sie: »Wirklich nichts. Eine Kleinigkeit, nicht der Rede wert.« Sie strich die Tischdecke glatt, er wußte, nun fruchtete kein Wort mehr.

So schwieg er denn, war aber auch nicht sonderlich beunruhigt. Sie selbst konnte kaum etwas erlebt haben, was ihr um ihretwillen schmerzlich war. Wahrscheinlich war die neue »Partie«, die sie mit Dovidl und dem Marschallik für ihn geschmiedet, gescheitert. Daraus wäre ja ohnehin nichts geworden, selbst wenn es sich um die Schöne, Traurige gehandelt hätte...

Am nächsten Tage begann er unter Pater Marians Leitung die Lektüre der »Räuber«. Nach reiflicher Überlegung hatte der Greis dieses Drama als erstes gewählt. »Das verstehst du am leichtesten«, sagte er ihm, »und da kann ich auch am raschesten erkennen, ob wirklich, wie du glaubst, ein Schauspieler in dir steckt.« »Und was für einen unreifen Menschen Gefährliches darin ist«, fügte er in Gedanken hinzu, »läßt sich durch vernünftige Erläuterung unschädlich machen.« Dann ließ er ihn ohne jede weitere Einleitung beginnen, sogar das Verzeichnis der »Spieler«, auf das Sender neugierig hinschielte, sollte er zunächst überschlagen.

Senders Herz klopfte freudig, als er zu lesen begann; ihm war zu Mut wie einem, der bisher taumelnd auf glatter Bahn dahingegangen und nun plötzlich einen kräftigen Arm fühlt, auf den er sich stützen kann. Freilich, etwas langsam ging es nun, gleich bei dem ersten Wort »Franken« verweilten sie eine Stunde. Sender war der Meinung, daß dies Frankreich bedeute, der Pater belehrte ihn eines Besseren, erzählte ihm eingehend von dem alten und neuen Franken und holte dann einen Atlas herbei, in welchem er ihm die deutschen Landschaften zeigte. Auch Leipzig wurde auf der Karte gezeigt und des breiteren geschildert, »wahrscheinlich ist's notwendig«, dachte Sender, »aber so erfahr' ich in den zwei Monaten nicht, was eigentlich in dem Brief aus Leipzig steht.« Eine freudige Genugtuung jedoch brachte ihm schon dieser erste Tag. Als er die Worte Franzens las: – »wir alle würden noch heute die Haare ausraufen über Eurem Sarge«, fügte er bei: »O du schlechter Kerl!«

»Woraus schließt du das?« fragte Poczobut.

»Er regt ja den armen Alten nur immer mehr auf«, war die Antwort. Worauf der Pater meinte: »Du hast Verstand, Bursche.«

Ähnliche Freuden, freilich auch ähnliche Leiden brachten ihm die nächsten Tage. Die Erläuterungen wollten gar kein Ende nehmen, und so notwendig sie sein mochten, kurzweilig waren sie nicht. Darüber freilich kam Sender leicht hinweg, – drückender empfand er eine andere Gefahr, die er im Selbstgespräch in die Worte kleidete: »Jetzt weiß ich, wer ›Alexander Magnus‹ war, aber warum ärgert es diesen schlechten Kerl, daß sein Bruder so gern von diesem Helden gelesen hat?« – er befürchtete, vor lauter Bäumen den Wald nicht zu sehen. Aber wenngleich der greise Dominikaner nun zum ersten Mal dramatischer Lehrer war, so wußte er doch, worauf es auch hier ankam: er vergaß die Hauptsache nicht, und als sie nun die erste Szene nochmals durchnahmen, glänzten Senders Augen vor Freude. »Nun versteh' ich alles«, rief er, »als ob das eine Geschichte wär', wie ich sie sonst am Sabbat nachmittag zwischen ›Minche‹ und ›Marew‹ (Nachmittags- und Abendgebet) meinen Freunden vor der Schul' erzählt hab'. Auf Ehre, so versteh' ich's.«

Pater Marian lächelte, diese Ausdrucksweise hatte für ihn allmählich nichts Befremdendes mehr. »Warum sagst du«, fragte er, »nicht lieber gleich: als ob du selbst die Szene geschrieben hättest und nicht Schiller?«

»Könnt' ich auch sagen«, erwiderte Sender eifrig. »Aber wenn ich's geschrieben hätt' –« Er stockte. »Verzeihen Sie – es ist ja lächerlich, so was zu sagen –«

»Nun?«

»Dann ließ' ich den Franz ein bissele weniger reden und nicht gar so giftig. Denn wenn der Alte jetzt nicht merkt, daß das ein Hund ist, so ist er schon ganz schwach im Kopf... Und dann noch etwas: mir scheint, der Franz ist ein gar zu schlechter Mensch. Hat denn schon je so einer gelebt?«

Der Pater lachte laut auf. »Du bist ein scharfer Kritiker!« Dann suchte er Sender klar zu machen, unter welchen Bedingungen das Werk entstanden sei und wie das jugendliche Genie immer starke Farben wähle.

»Ich sag' auch nicht, daß es schlecht ist«, entschuldigte sich Sender; »ich sag' nur, ich hätt's anders gemacht.« Er war ein wenig gekränkt, daß auch dies die Heiterkeit des Mönchs weckte. Dann aber dachte er: »Wenn es ihm Spaß macht – er darf mich sogar auslachen. So den ganzen Tag allein sein, der arme Mann!«

Fröhlich, wie in dieser Zeit immer, ging er heim. Wieder einmal wie vor acht Tagen war die Mutter zur Stadt gegangen; auch ihr Strickbeutel lag da. Aber jenes Mädchenbild war nicht mehr darin. Das enttäuschte ihn nicht mehr, es war schon am nächsten Tag daraus verschwunden gewesen. »Schade«, dachte er, »ich hätt' mir das Gesicht gern noch einmal angesehen. So was trifft man nicht alle Tage.«

Diesmal währte es lange, bis die Mutter heimkam, und als sie eintrat, sah er, daß sie abermals Kränkung erfahren und schlimmere als vor einer Woche. Aber ehe er fragen konnte, begann sie: »Hast du einmal mit dem bösen Menschen, dem Wolczynski, einen Streit gehabt?«

»Einen Streit kann man's eigentlich nicht nennen«, erwiderte er betroffen. »Auch hätte ich nicht gedacht, daß er's jemand erzählen würde. Ich habe geschwiegen, freilich nicht aus Schonung, sondern weil ich's vergessen habe.« Und er erzählte ihr von jener Zumutung des Edelmanns. »Jetzt erst fällt's mir auf«, schloß er, »daß er sich seither in der Kollektur nicht mehr hat blicken lassen.«

»Der Schurke«, sagte sie. »Natürlich hast du recht gehabt, es abzulehnen. Aber den Witz mit deinem Anteil an seinem Gewinn hättest du nicht machen sollen. Nun will er sich rächen.«

»Wie kann er das?« fragte er. »Der Regimentsarzt hat ja gesagt, daß ich vor keiner Rekrutierung mehr zu fürchten habe.« »Und wer weiß«, fügte er in Gedanken hinzu, »wo ich bei der nächsten Rekrutierung bin.«

»Er hat auch in anderen Dingen seine Hand«, erwiderte sie, »du weißt doch, wie ich vor acht Tagen so bestürzt heimgekommen bin. Damals hab' ich's zuerst erfahren.« Sie war nun seit nahezu einem Vierteljahrhundert Pächterin der Straßenmaut, die Pacht war ihr, da sie den Zins pünktlich entrichtete, auch sonst nie Grund zur Unzufriedenheit gegeben, stets nach Ablauf auf weitere fünf Jahre verliehen worden. Darum hatte sie, da ihr Vertrag im März des nächsten Jahres ablief, auch diesmal im Juni das Gesuch um Verlängerung beim Bezirksamt eingereicht. Ein Bescheid war ihr nicht geworden, wohl aber hatte Jossef Grün, der Vorsteher der Gemeinde, sie vor acht Tagen holen lassen und ihr gesagt: »Der Wolczynski hat mich gefragt, ob ich niemand für Eure Pachtung weiß. Euer Vertrag, sagt er, wird nicht erneuert werden. Er hat das Bezirksamt im Sack, redet mit ihm.« Sie war diesem Rate gefolgt, hatte Wolczynski zweimal zu sprechen versucht, war aber erst heute von ihm empfangen worden. »Es ist richtig«, hatte er ihr gesagt, »ich habe die Herren vom Bezirksamt darauf aufmerksam gemacht, daß der Staat die doppelte Pacht davon haben kann. Warum ich's getan habe? Erstens als guter Staatsbürger und zweitens, weil Ihr Sohn ein frecher Tölpel ist. Die Pachtung wird am 1. November ausgeschrieben.«

»Weißt du, was das bedeutet?« schloß sie händeringend. »Daß wir ihn entweder irgendwie begütigen müssen oder im März unser Brot verlieren. Du kannst dir denken, wie viel diesen Schurken der Staat kümmert; auch weiß er, daß bei einer Ausschreibung niemand eine höhere Pacht bieten wird, als ich zahle, wahrscheinlich weniger. Denn jeder weiß ja, daß der Adjunkt Strus, ein Pole, ein Freund des Wolczynski, die Sache zu entscheiden hat, da kommt es nicht darauf an, was einer dem Staate, sondern was er diesen beiden bietet, denn dann drehen sie es schon so: ›Der Mann hat zwar am wenigsten geboten, ist aber am verläßlichsten.‹ Das war einst, wo lauter deutsche Beamte waren, anders – grobe Klötze, aber ehrliche Leute. Ich habe den Zuschlag bekommen, weil ich das meiste geboten habe... Aber jetzt!«

»Er will Geld«, tröstete Sender. »In Gottes Namen. Ich will ihm was geben.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nein! Ich weiß ja, wie man mit ihm spricht, und habe ihm gesagt: ›Was ist Ihr Preis?‹ Aber er: ›Mit der Mutter dieses Sender mache ich keine Geschäfte.‹ Darauf ich: ›Wenn mein Sohn Sie beleidigt hat, so soll er Sie um Verzeihung bitten.‹ – ›Nein, ich ließe ihn mit Hunden von meiner Schwelle hetzen, wenn er käme!...‹ Es ist zum Verzweifeln. Auch Dovidl weiß keinen Rat und sagt, so was ist ihm beim Wolczynski noch nicht vorgekommen. Und mit dem Strus, sagt er, läßt sich direkt auch nichts machen. Er ist ein Heuchler, ein Betbruder, sagt er, und nimmt nur durch den Wolczynski.«

Darauf wußte auch Sender nichts mehr zu sagen. »Kommt Zeit, kommt Rat!« sagte er endlich zaghaft. »Bis zum November sind's fast noch drei Monate.«

Sie schüttelte finster den Kopf. »So sprichst du in deinem Leichtsinn«, erwiderte sie. »Mir preßt die Sorge das Herz zusammen. Und wenn das wenigstens meine größte wäre!«

»Du hast noch eine größere?« fragte er bestürzt. »Was ist es denn?«

Sie preßte die Lippen zusammen und wandte sich ab.

»So sag' es mir doch!« drängte er. »Bin ich nicht dein Sohn? Hab' ich nicht ein Recht darauf, mitzutragen?«

Die selbstverständlichen Worte preßten ihr die Tränen aus den Augen. Das war's ja eben, daß er nicht ihr Sohn war! Was Luiser Wonnenblum einst dem Marschallik in Aussicht gestellt: »Gebt Ihr's dem Dovidl, so macht er den Froim nicht tot, sondern lebendig!« schien sich zu erfüllen, freilich war's nicht Dovidls, sondern Luisers Schuld. Um den Konkurrenten zu ärgern und sich für den entgangenen Auftrag zu rächen, hauptsächlich aber, weil ja bei Frau Rosel nun, da Sender den Gewinn gemacht, etwas zu holen war, hatte sich Luiser, als »Kurator« Froims, nicht mit den Edikten in den Amtsblättern begnügt, sondern die Hilfe der Rabbiner angerufen: es handelte sich ja um ein frommes Werk, dem Abwesenden durfte nicht unrecht geschehen. Was Dovidl in der Verhandlung, lediglich um den Preis zu steigern, vorgeschützt, daß »an alle Gemeinden« geschrieben werden müsse, hatte Luiser nun bei einigen tatsächlich durchgeführt. Einen Erfolg hatte er nun erreicht: der Rabbi von Wadowice in Westgalizien hatte ihm mitgeteilt, daß Froim Kurländer dort längere Zeit von den Wohltaten der Leute gelebt und vor drei Jahren nach Oberungarn gegangen. Lebte er noch, so fand ihn Luiser sicherlich.

Während Sender noch vergeblich in sie drang, trat der Marschallik ein. Er war offenbar besonders gut gelaunt und wurde nun sehr bestürzt, als er die Frau weinend fand.

Er trat an sie heran. »Frau Rosel«, flüsterte er vorwurfsvoll, »habt Ihr gegen meinen Rat –« Er deutete mit den Augen auf Sender.

»Nein«, erwiderte sie hastig. »Es ist etwas anderes.« Und sie folgte ihm auf den Flur, wo die beiden lange berieten. Als sie wiederkam, schien sie etwas ruhiger.

Am nächsten Tage erzählte Sender dem Pater von dem neuen Kummer, der ihn drückte. »Ich weiß«, sagte er, »Sie können mir nicht helfen, aber ist das nicht schlimm? Wie kann ich fort, eh' das geordnet ist? O, ich hab' dem Schiller unrecht getan, der Wolczynski ist noch schlechter als der Franz.«

Der Greis hörte ihn teilnahmsvoll an.

»Das wäre was für den da gewesen«, sagte er und wies auf die Hefte des Ämilius. »Er hat ein Buch darüber geschrieben, daß der Mensch gegen den Menschen wie ein Wolf ist. Aber er hat doch unrecht gehabt, sein edles Herz so zu verbittern. Denke, es gibt auch gute Menschen, und von Natur ist keiner schlecht. Wie viel Mühe gibt sich Schiller, um zu begründen, warum Franz ein Ungeheuer geworden ist.«

»Natürlich!« rief Sender. »Wie häßlich ist er! Wenn ich ihn einmal mache, werden die Leut' erschrecken. So!« Er schnitt eine entsetzliche Grimasse. »Aber ich freu' mich schon, wie es weiter geht.«

Damit war es jedoch für heute nichts. »Nun muß ich dir auch an jenem Abschnitt, den du beinahe auswendig kannst, eine bessere Aussprache beibringen«, sagte der Pater. Er selbst sprach das Deutsche freilich auch mit deutlichem oberschlesischen Akzent, aber doch ungleich reiner als Wild, dessen Tirolisch so seltsam in Senders Aussprache nachklang. »Lies!«

Sender begann seufzend. Es war hart, aber es mußte sein. Die beiden übten, daß sich ihre Gesichter rot und röter färbten und die Stimme des alten Mannes ganz heiser klang. Er stand vor Sender und schrie ihm die Worte vor, so laut er konnte. Der aber wiederholte sie in seinem Eifer mit brüllender Stimme.

Darüber hörten sie den Schlag der zweiten Stunde nicht und vergaßen, daß Fedko nun eintreten mußte.

»Noch einmal«, rief der Pater. »Nicht ›O, Karl! Karl! wüschtest tu‹, sondern ›O, Karl! Karl! wüßtest du.‹«

»O, Karl, wüschtest –« brüllte Sender, da blieb ihm der Ton in der Kehle haften, seine Augen wurden starr.

In der Tür stand Fedko, aber auch er stierte die beiden mit offenem Munde entsetzt, keiner Bewegung fähig, an.

Pater Poczobut war gleichfalls bleich geworden, doch faßte er sich zuerst.

»Komm' doch näher«, sagte er zu dem Pförtner. »Beruhige dich, hier geschieht nichts Böses.«

Der Alte schlug ein Kreuz ums andere, seine Lippen bewegten sich, aber er rührte sich nicht vom Platze.

»Hast du mich nicht verstanden?« fragte der Pater und trat auf ihn zu. Er sprach das »Wasserpolakisch« des Oberschlesiers, und Fedko war ein Ruthene, aber sie hatten sich doch bisher verständigen können.

Der Pförtner wich zurück. »Wohl habe ich verstanden«, murmelte er endlich und schlug abermals ein Kreuz. »Nur zu gut habe ich verstanden, was hier getrieben wird!... Saget die Wahrheit«, fuhr er fort und trat einen Schritt vor, »wer ist dieser Karl, den ihr verflucht habt?«

Die beiden mußten trotz ihrer Angst laut lachen. »Wir haben niemand verflucht«, beteuerten sie einstimmig.

»Mir macht man nichts vor«, sagte Fedko finster. »Der Herr Prior ist krank, habt ihr vielleicht den gemeint? Aber er heißt ja nicht Karl, sondern Chrysostomus!«

Nun legte sich Sender ins Mittel.

»So sei doch vernünftig«, bat er, »daß vom Prior keine Rede war, hast du selbst gehört. Und was ich hier treibe, hab' ich dir schon einmal gesagt: ich lerne eine ›Kommedia‹ und der Herr Pater hilft mir dabei.«

Aber Fedko schüttelte den struppigen Kopf. »Gesagt hast du es mir, aber jetzt sehe ich, daß du gelogen hast. Denn warum? Die christliche ›Kommedia‹ ist vor und nach Weihnachten, wo die Burschen mit der Krippe umherziehen, die geht dich nichts an, denn du bist ein Jude. Die jüdische ›Kommedia‹ ist an eurem Fastnachtstag, da kann dir der Hochwürdige nicht helfen, denn er versteht nichts davon. Also...«

»Aber so laß es dir doch erklären«, rief der Pater eifrig, »es gibt noch eine andere ›Kommedia‹, die für alle ist, Christen und Juden. Nämlich –«

Aber Sender wußte eine probatere Erklärung. »Ich sehe dir an, daß du Durst hast«, sagte er und griff in die Tasche.

Diesmal jedoch verfing auch dies Mittel nicht.

»Durst habe ich«, sagte Fedko. »Ich bin ja gottlob nicht krank. Ein gesunder Mensch hat immer Durst. Aber ich bin ein Christ, ein Klosterdiener. Ich will nicht von einer Sache, die vielleicht gegen das Christentum geht, Vorteil haben, selbst wenn es Slibowitz ist.«

»Aber ich schwöre dir –« rief Sender.

»Deinen Schwüren glaub' ich nicht. Denn warum? Du weißt, daß du als Jude ohnehin in die Hölle mußt, ob ein bißchen tiefer oder nicht, kann dir schon keinen Unterschied machen. Aber wenn der Hochwürdige schwören wollte.« Er schielte zaghaft nach dem Greise hin. »Zwar ein Sünder, aber er hat doch die heiligen Weihen.«

»Gut, ich schwöre«, sagte Pater Marian. Aber Fedko war nicht eher beruhigt, bis der Greis die Schwurfinger emporreckte.

Da erst atmete er erleichtert auf, blieb aber auch nun noch stehen, blickte vom einen zum anderen, dann auf die Bücher und schüttelte den Kopf.

»Merkwürdig«, sagte er, »sehr merkwürdig.... Diese Bücher – wer liest sie? Sünder, wie der selige Ämilian und dieser Hochwürdige da und ein Jude. Den frommen Patres fällt es gar nicht ein. Also können sie doch weder gut noch heilig sein. Aber warum duldet man sie dann im Kloster? Und wenn sie gut sind, warum lesen sie die frommen Patres nicht?... Merkwürdig! Aber wie Gott will.... Komm', Senderko.«

Von da ab konnten die beiden ungestört arbeiten. Nur hielt Fedko streng darauf, daß kein Wort mehr gesprochen wurde, wenn er eintrat.

»Anhören will ich es nicht«, sagte er. Auch machte es ihn ängstlich, daß der Prior von Tag zu Tag kränker wurde. »Ich weiß ja«, sagte er, »daß der hochwürdige Chrysostomus nun sterben muß – Altersschwäche, dagegen ist kein Kraut gewachsen. Aber vielleicht schaden ihm diese Sachen doch.«


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