Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Zweites Kapitel

Er kam zu spät.

Frau Chane war nun schon zwei Jahre tot; im Hause waltete eine junge Stiefmutter, ein halbjähriges Bübchen auf dem Arm.

Mendeles Vater, der alte Sender Glatteis, hatte sein Weib herzlich lieb gehabt und seine Trauer um ihren Verlust war eine aufrichtige und tiefe gewesen, gleichwohl hatte er nicht einmal das Trauerjahr abgewartet, um ihr eine Nachfolgerin zu geben. Denn so gebot es seine Anschauung von den Pflichten des Frommen und wie er hienieden für seine künftige Seligkeit vorzusorgen habe.

Nichts ist dem Herrn wohlgefälliger, als die Vermehrung seines Volkes. Nur einen Sohn und lauter Töchter zu haben ist ein Unglück, aber keinen »Kadisch« zu hinterlassen, eine Sünde. So heißt das Gebet, welches der Sohn alljährlich am Sterbetag seinen Eltern zu widmen hat; wie hoch diese Pflicht steht, wie sehr der Fromme ersehnt, daß sie an ihm geübt werde, erweist eben der Sprachgebrauch, der den Sohn kurzweg als »Kadisch« bezeichnet.

Der alte Sender hatte keinen mehr; Mendele war nach einem gottlosen Streich in die Welt gelaufen, hatte nie wieder von sich hören lassen; der Schmerz um ihn hatte seiner Mutter die letzten Jahre vergällt, die Sorge um ihn die letzten Stunden der Sterbenden verdüstert – Sender war es der Toten und sich selbst schuldig, einen anderen »Kadisch« zu zeugen.

Der Himmel war ihm gnädig gewesen; der Sechzigjährige erlebte noch die Geburt eines Sohnes. Nun mochte ihn der Herr rufen, wann ihm beliebte; seine Pflicht auf Erden hatte er erfüllt.

Mendele aber war für ihn tot. So tot, daß er den Heimgekehrten nicht einmal schmähte, geschweige denn schlug. Er legte ihm hundert Rubel hin, genüge ihm dieses Erbteil nicht, so möge er ihn bei der Gemeinde verklagen, und wies ihm die Tür.

Das Flehen des Reuigen blieb vergeblich; auch seine Beteuerung, daß er geschrieben und die Erlaubnis zur Heimkehr erbeten habe, verhallte ohne Wirkung.

»Vielleicht lügst du nicht«, war die Antwort. »Dann hat eben Gott nicht gewollt, daß deine Reue noch fruchte. Geh!«

Die junge Frau suchte zu vermitteln. Sie fürchtete sich vor dem bösen Leumund der Stiefmutter und daß die Gemeinde ihrem Einfluß die Verstoßung des Sohnes zuschreiben würde.

»Da irrst du«, war die Antwort. »In unserem Kowno herrscht Gottesfurcht. Kein Vater würde anders handeln. Was würde es auch nützen, wenn ich schwach sein wollte?! Nach einigen Wochen liefe er wieder davon. Ein ›Schnorrer‹ ist er und ein ›Schnorrer‹ wird er bleiben; ihm ist vorbestimmt, hinter der Hecke zu sterben.«

Und dann wieder zu Mendele: »Geh!«

Der Verstoßene ging.

Die Rubel ließ er liegen, auch verklagte er den Vater nicht auf Herausgabe eines größeren Erbteils. Ihn erfüllte nur ein Gedanke: »Der alte Mann soll nicht recht behalten! Er soll einst erkennen, wie hart und töricht seine Prophezeiung war, und unter Freudentränen soll er mich als seinen ›Kadisch‹ segnen!«

In Kowno war freilich seines Bleibens nicht. Aber wie ernst seine guten Vorsätze waren, bewies der einzige Besuch, den er machte, ehe er die Heimatstadt verließ. Er ging zu seinem einstigen Lehrer, bat ihn für seine Knabenstreiche um Vergebung und teilte ihm seinen Entschluß mit, auf der besten Jeschiwa in Rußland binnen wenigen Jahren die Würde eines »Rabbi« zu erwerben.

Der gutmütige Mann verzieh ihm gern und riet ihm, die Schule zu Berditschew aufzusuchen; ein Vater, dessen Sohn von dort die Würde eines Rabbi heimbringe, erfahre dadurch ein so großes Glück, eine so hohe Ehre, daß sie jeden früheren Fehler des Jünglings tilge.

»Gut, so komme ich denn als Berditschewer Rabbi wieder«, sagte Mendele und bat dann, ihm den Todestag seiner Mutter zu sagen. »Sei überzeugt«, schloß er, »und sagt es auch meinem Vater: solang' ich lebe, wird auch meine Mutter an diesem Tag ihren ›Kadisch‹ haben!«

Diese Zusage hat Mendele Glatteis getreulich eingehalten, aber als Berditschewer Rabbi ist er nicht heimgekehrt. Es mag auch daran gelegen haben, daß Berditschew gar so weit von Kowno liegt – Hunderte von Meilen, tief im Süden des Reiches – und daß es nicht in der Natur dieses Jünglings lag, seine Zunge zu hüten. Er erzählte auf dem Wege jedermann, wie sich sein Leben gefügt habe, und warum er nun gerade die beste Schule aufsuchen müsse.

So erfuhr es auch sein alter Gönner, Rabbi Meyer von Wilna, und beeilte sich, den Rabbi von Berditschew vor der Aufnahme dieses Sünders zu warnen; vielleicht beschwor er ihn darum bei seinem Barte.

Gewiß ist, daß der Brief seine Wirkung tat. Als Mendele den großen Berditschewer aufsuchte, empfing ihn dieser nur, um ihm eine donnernde Strafpredigt zu halten und den Aufenthalt in seiner Stadt für immer zu verbieten.

Vernichtet setzte Mendele seinen Stecken weiter; noch flackerte zuweilen sein Ehrgeiz auf, und häufiger noch sein Trotz, aber einen ernsten Anlauf, seine Studien fortzusetzen, nahm er doch nicht mehr. Vielleicht unterlag er da nur eben seinem Temperament, vielleicht aber auch der ungeheuren Schätzung, die sein Volk einem Worte aus des Vaters Munde beizulegen pflegt. Sender Glatteis hatte prophezeit, daß Mendele als »Schnorrer« hinter der Hecke sterben werde; alle Welt wußte es und zweifelte nicht daran, daß sich das Furchtbare erfüllen müsse. Mendele freilich trug sein Haupt noch immer hoch, aber wie schwer das Wort innerlich in ihm wuchtete, wagte er sich wohl selbst nicht zu gestehen, bis ihn das unstete, elende und doch für Naturen seines Schlages reizvolle Leben völlig in seinen Bann gezogen hatte. Da freilich sprach er es auch aus: »Ein ›Schnorrer‹ bin ich und ein ›Schnorrer‹ will ich bleiben...«

Er sprach es mit lachendem Munde; zuweilen freilich mag ihm das Herz dabei sehr wehe getan haben. Aber manchmal lag auch ein gewisser Stolz darin und schließlich ein gewisses Selbstgefühl. Ähnlich mag es seiner berühmten Schicksalsgenossin zu Mute gewesen sein, als sie den Leipziger Spießbürgern die stolze Antwort gab: »Nur eine Komödiantin, ja, aber die Neuberin!«

Mendele Kowner war der König der »Schnorrer« seiner Zeit; man sah ihn überall herzlich gern, es war ein rechtes Fest für jede Gemeinde, wenn er wiederkam, und aus abgelegenen Ortschaften kamen oft Einladungsbriefe: sie seien doch auch Menschen und ehrliche Juden und hätten sich bisher nur mit ganz gewöhnlichen »Schnorrern« begnügen müssen, – ob er sie nicht auch einmal beehren wolle?!

Er aber kam nur, wenn es ihm beliebte, wenn ihm das Städtchen der Auszeichnung würdig erschien, einen so großen Schnorrer zu beherbergen; um Geld war er nicht zu haben, verteilte auch in jenen Städtchen, wo er oft einkehrte, die Gunst seines Besuches nur nach der Würdigkeit, nicht nach dem Besitz. Was er forderte, konnte ihm selbst ein armer Mann gewähren: Nachtlager und Nahrung, wenn es sein konnte, ein Gläschen Wein und zum Abschied einige Kupfermünzen, so viel als nötig war, in den nächsten Ort zu gelangen.

Mehr aber nahm er auch vom Reichsten nicht. Der echte »Schnorrer« ist ja auch sonst nicht habgierig; aber keiner verachtete das Geld so, wie der »Kowner«. Schon dies mußte ihm unter den Söhnen seines Volkes, dem Erwerb so hoch steht, weil das Geld seit zwei Jahrtausenden seine einzige Waffe im Kampf mit seinen Bedrängern gewesen, eine unerhörte Stellung sichern. Und nun waren ja zudem all die Gaben und Gnaden, die den »Schnorrer« machen, in ihm verkörpert.

Ein Mann dieses Handwerks – oder nein, es ist ja eine Kunst – muß weit umhergekommen sein, denn die Leute lassen sich zwar gern Lügen von ihm gefallen, ja sie fordern sie zu ihrer Unterhaltung, aber nachdem er ihnen versichert, daß er in Italien immer nur Eier gegessen, die er in der Sonne gargekocht, nachdem er ihnen das »goldene Haus« des Kaisers zu Wien und die diamantenen Fenster im Zarenpalais an der Newa geschildert, verlangen sie, die an der Scholle haften und doch von Wißbegier und Sehnsucht nach der Fremde erfüllt sind, wie wenig andere Menschen, ernsthaften Bericht über Land und Leute. Lügt er sie dann noch an, so ist es mit seinem Ruhm vorbei.

Der Kowner hatte das nicht nötig.

Er war sehr weit herumgekommen, fast durch ganz Europa, soweit Juden wohnten, bis Petersburg und Konstantinopel, bis Berlin, Straßburg, Wien und Venedig. So war er an Scherz und Ernst ein Krösus, der immer aus dem Vollen spendete, ohne sich doch je zu erschöpfen. Wo er wirksamer war, wußten sie kaum zu entscheiden. Wenn er erzählte, wie wenig Ruhe der arme, große Rothschild in Frankfurt am Main habe, weil er, um der Welt seinen Reichtum zu beweisen, alle Viertelstunde ein frisches Hemd anziehen müsse, oder das Glück der Italiener pries, die so billiges Fleisch hätten, weil sie keines Fleischhauers bedurften – wolle man dort einen Ochsen schlagen, so schicke man ihn ohne Sonnenschirm auf die Weide, und er komme als fertiger Braten heim –; oder die Petersburger beklagte, weil dort zur Winterszeit die Straßen auch bei hellstem Sonnenschein künstlich erleuchtet werden müßten, da der Atem der Menschen wie eine undurchdringliche Wolke über ihnen lagere; oder über die Kaufleute klagte, die alles verteuerten, sogar die Tinte, die doch nur aus dem Schwarzen Meer geschöpft zu werden brauche, dann lachten alle, daß ihnen die Tränen über die Backen liefen. Aber dann lauschten sie angehaltenen Atems, wenn er das märchenhafte Venedig vor ihren Augen aus dem Meere emporsteigen ließ, oder schilderte, wie er von Padua nach Konstanz gewandert, auf der Straße, wo ewiger Schnee liege, während drunten die blauen Seen lachten und das Anland im Schmuck des Frühlings; wenn er ihnen eine Anschauung davon gab, wie groß Wien oder Berlin sei, und wie die Leute dort lebten, namentlich die Juden.

Niemand wußte so viel Schnurren und von niemand konnte man so viel lernen, denn der Kowner wußte ja alles. Nachdem er ihnen seinen vertrauten Verkehr mit Napoleon geschildert, daß sie sich vor Heiterkeit nicht zu fassen wußten, machte er ihnen begreiflich, wie der Mann in Wahrheit gewesen, was er angestrebt und wie er geendet, und da sie in dem Kaiser der Franzosen den Mann verehrten, der den Juden seines Landes vor allen anderen Fürsten die vollen Menschenrechte verliehen, so lauschten sie bewegt, wenn ihnen der Kowner von seinem Tode auf St. Helena erzählte, und wie nun sein armer Sohn in Wien dahinsieche.

War aber ihrer Wißbegier in weltlichen Dingen genug getan, so begann er ihrer frommen Gelehrsamkeit auf den Zahn zu fühlen; er stellte Fragen, die der Weiseste nicht beantworten konnte, und erledigte sie dann durch einen Witz, eine Spitzfindigkeit, daß die ganze Zuhörerschaft vor Bewunderung stumm blieb, oder aufjubelte, oder gar, als höchstes Zeichen des Beifalls, mit der Zunge schnalzte; er war nicht umsonst »Jeschiwa-Bocher« gewesen.

Schon in all dem und der Art, wie er zu erzählen wußte, hatte er keinen Nebenbuhler, und nun gar erst in seinen künstlerischen Gaben!

»Israel hat das Singen verlernt«, klagt eine Wormser Aufzeichnung aus dem dreizehnten Jahrhundert. Man hört selten im Ghetto eine weltliche Melodie, und die Volkslieder fehlen zwar nicht ganz, werden aber nicht oft gesungen. Wo der »Kowner« geweilt hatte, änderte sich dies wenigstens auf Wochen; so lang er da war, lauschten sie ihm und wagten kaum, im Chorus einzufallen, denn er hatte »eine Stimm' wie eine Flöt«'. Dann aber sang ihm Alt und Jung nach, bis die Lieder verklangen und sich wieder das traurige Schweigen über das Ghetto senkte. Aber nicht bloß singen konnte er, sondern auch »Spiele« machen, das heißt komische Szenen aus dem Stegreif vorführen: das Examen eines unwissenden Bochers vor einem gestrengen Rabbi, oder den Streit einer geizigen Schwiegermutter mit ihrem leichtlebigen Schwiegersohn, oder wie ein furchtsamer Jüngling vor die Rekrutierungskommission tritt. Da konnte niemand ernst bleiben, nicht einmal jene, die er aufs Korn nahm, indem er ihre Sprechweise nachäffte und Anspielungen auf ihre Verhältnisse einflocht.

»Lachen ist Gottesdienst«, sagt ein Spruch dieses armen, verdüsterten Volkes und: »Gesegnet sei, von dem Heiterkeit ausgeht!« Dann war noch selten ein Mensch so gesegnet, wie dieser arme landfahrende Bettelmann, und selten einer den Herzen so teuer. Andere »Schnorrer« werden nur bewundert oder gefürchtet, vom Kowner aber ging jener Zauber aus, der die Herzen zwingt, jene seltenste aller Gaben, die für unsere Sprache nur ein viel mißbrauchtes und darum verbrauchtes Wort hat: die Liebenswürdigkeit.

Nur eines nahmen ihm selbst seine wärmsten Bewunderer übel, daß er unvermählt bleibe. Das war unerhört und nach ihrer Anschauung ein ruchloser Frevel, den Gott unmöglich verzeihen konnte. Freilich ziehen auch die anderen »Schnorrer« einsam umher, aber der frommen Satzung haben sie vorher wenigstens äußerlich genügt. Die einen haben ein Weib genommen und ihm nach wenigen Tagen dann den Scheidungsbrief geschickt, die anderen bleiben verehelicht, aber ihre Familie fällt, während sie die halbe Erde durchwandern, daheim der Gemeinde zur Last. Ländlich – sittlich – das scheint dem Juden des Ostens zwar nicht hübsch, aber weit löblicher als das Junggesellentum.

Dem Kowner aber konnten sie es umsoweniger verzeihen, als ihm mehr als einmal die Gelegenheit winkte, durch eine Heirat sein Glück zu machen. Oder was sie so nannten... Einmal hätte sich sogar eine wohlhabende Witwe, die freilich doppelt so alt war als er, durch das Bewußtsein, einen so gefeierten Gatten zu haben, über den Schmerz hinweggesetzt, ihn zuweilen entbehren zu müssen. Sie hatte ihm vorschlagen lassen, ein halbes Jahr an ihrer Seite zu verleben, die übrige Zeit seine Bewunderer zu erfreuen. »Davon habe ich nichts«, war seine mehr deutliche als höfliche Antwort gewesen, »denn der Winter neben der Alten macht mich so traurig, daß im Sommer niemand mehr den lustigen Kowner wiedererkennt.« Und ähnlicher Bescheid war auch anderen geworden, die ihm mit weit günstigeren Anerbietungen gekommen.

Den wahren Grund hatte er nur einem Menschen anvertraut, seinem wärmsten Verehrer, einem Weinhändler in Oberungarn, der ihm seine hübsche und wohlhabende Schwester zum Weibe geben wollte.

»Laß mich zufrieden!« rief der »Schnorrer« lachend. »Ich spüre eine heftige Liebe, die mich immer wieder herzieht, aber nur für deinen Keller!«

Als jedoch der Freund nicht abließ, sagte er ernst: »Ein Mensch, der hinter der Hecke sterben wird, heiratet nicht! Nun weißt du die Wahrheit!«

»Mendele!« rief der Mann. »Für andere bist du so klug und für dich so dumm! Glaubst du, daß dein Vater Gottes Willen bestimmen kann?!«

»Ich weiß, was ich weiß«, war die Antwort. »Und so ein Mensch hat allein zu bleiben!«

Er blieb eine Weile stumm, dann stimmte er überlaut ein keckes Trinklied an.

Dieses Vorgefühl sollte den armen Menschen nicht trügen: er starb hinter der Hecke, – es war im Unglücksjahr 1831 und auf der Heerstraße zwischen Tarnopol und Barnow – aber in den Armen seines Weibes.

Er hatte die Gefährtin, wie alles sonstige Glück und Unglück seines Lebens, auf der Straße gefunden, nahe seinem Heimatort, hoch oben in Litauen. Als die Cholera ausbrach, war er nach Kowno gewandert. »Ich versuch's, in einer Stadt zu sterben«, sagte er lächelnd, »jetzt, wo es so vielen Tausenden gelingt, bring' ich's vielleicht auch zu stande!«

Der wahre Grund war, daß er noch einmal eine Versöhnung mit seinem Vater versuchen wollte.

Es sollte ihm nicht gelingen.

Der uralte Mann war als eines der ersten Opfer der Seuche gefallen. Erbarmungslose Nachbarn wußten Mendele mitzuteilen, daß er noch vor dem Tode jenen Fluch wiederholt habe.

»Da geb' ich's auf«, sagte Mendele. »Es bleibt also bei der Hecke!«

Und er wanderte wieder nach Süden.

Als er eines Abends eine elende Dorfschenke betrat, ein Nachtlager zu erbitten, bot sich ihm ein grauenvolles Bild. Der Wirt und sein Weib lagen tot. Zwischen ihnen kauerte ihre junge Tochter, wie gelähmt vor Schmerz und Entsetzen. Er hob sie sanft empor und wollte sie hinwegführen. Sie litt es nicht und stieß ihn hinweg.

»Auf«, sagte er und faßte ihre Hand. »Wir müssen ins nächste Städtchen, wo Juden wohnen, damit sie deine Eltern holen und auf ihrem Friedhof begraben.«

Er mußte die Worte oft wiederholen, bis sie ihn verstand. Dann folgte sie ihm willenlos.

Er verließ sie auch am nächsten Tag nicht und begleitete sie auf den Friedhof, zu dem armseligen Begräbnis. Es war bald vorüber, die Leichenträger entfernten sich, das Mädchen warf sich verzweiflungsvoll über den frischen Grabhügel. Er stand still daneben und ließ sie ihren Schmerz ausweinen. Dann aber trat er auf sie zu und mahnte: »Nun ist's genug! Komm!«

»Wohin?« rief sie wild. »ich will hier bleiben, bis ich auch tot bin!«

»Auf den Tod wartet man nicht«, sagte er sanft. »Du bist ein frommes Kind und wirst dich nicht versündigen wollen!«

Er blickte um sich, und ihn schauderte vor den vielen frischen Gräbern, auf denen Schlamm und welkes Laub lag, vor der entsetzlichen Öde des kleinen Friedhofs, auf den der kalte Herbstregen niederrieselte. Ihm war's, als müßte er sie retten, als würde sie sonst im nächsten Augenblick hinsinken und sterben.

»Komm! »wiederholte er angstvoll. »Du wirst doch Verwandte haben?«

Sie schüttelte stöhnend den Kopf und sank wieder auf den schlammigen Hügel zurück.

»Nicht Schwester, noch Bruder? Niemand?«

»Niemand!« ächzte sie.

»Dann will ich dein Bruder sein«, erwiderte er. Er faßte ihre Hand, und der Zauber, der ihm so Vieler Herzen zugewendet hatte, bewährte sich auch an diesem armen, geknickten Geschöpf. Sie sah ihn an und folgte ihm.

Er führte sie zur Stadt, zu den Ältesten der Gemeinde und fragte sie, wo das Mädchen bleiben könne.

»Sie ist eine Fremde«, erwiderten sie, »bringt sie zu ihren Verwandten!«

»Sie hat keine! Alles tot!«

»Dann wissen wir keinen Rat!«

»Und ihr wollt Juden sein?!« fuhr er sie an. »Wißt ihr nicht, was geschrieben steht: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst?!‹ Seid Ihr Heiden?«

»Aber in solcher Zeit...«

»Gerade in solcher Zeit!« rief er. »Wißt ihr, wer ich bin? Mendele Kowner! Nur ein ›Schnorrer‹! Aber Leuten, die so handeln, einen Ruf in ganz Israel zu machen, daß sie niemand mehr als Menschen ansehen wird, dazu bin ich der Mann!«

Sie kannten den Namen und erschraken; gewiß, das war keine leere Drohung.

»Aber was sollen wir tun?!« fragten sie.

»Zunächst für ein Plätzchen sorgen, wo die Waise ihre ›Schiwa‹ halten kann«, befahl er. So heißt die achttägige Trauerfrist, die der Leidtragende in tiefster Abgeschiedenheit verbringen muß, in einer verdunkelten Kammer, auf der Erde hockend, den Blick nach dem Schein des Totenlichtes, gewendet, das Tag und Nacht brennen muß.

Das durften sie nicht weigern. Während die Waise bei den Leuten, wohin sie die Gemeinde in Pflege gegeben, ihrer frommen Pflicht genügte, blieb Mendele im Orte. Acht Tage – so lange hatte der unstete Mann seit Jahren nirgendwo verweilt; die Leute wunderten sich sehr darüber.

Sie sollten bald noch mehr Grund zum Staunen haben.

Am achten Tage trat er vor die junge Waise.

»Höre«, sagte er, »hier kannst du nicht bleiben. Und als meine Schwester kann ich dich nicht mit mir nehmen. Ein lediger Mann und ein jung Mädele – es wäre unerhört und würde dir einen bösen Namen machen. Willst du – willst du – mein Weib werden?!«

In ihr verhärmtes Antlitz schlugen die Flammen, und sie barg es in den Händen.

»Mein Gott!« stammelte sie, »warum wollt Ihr es tun? Wie verdien' ich das?«

»Recht hast du!« sagte er. »Ein so groß Glück, einen alten ›Schnorrer‹ zum Mann zu bekommen, verdient keine Prinzessin! Aber du hast ja nichts Besseres! Ich kann freilich nur das mit dir teilen, was ich selbst hab': die weite Welt, so weit Juden wohnen. Aber wenigstens wirst du so weder verhungern noch in Schande kommen. Also – wie heißt du, Mädele?«

»Miriam...«

»Also, Miriam, willst du mein Weib sein?«

»Wie gut Ihr seid!« rief sie und stürzte zu seinen Füßen nieder.

»Ein wahrer Engel!« erwiderte er und hob sie auf. »Armes Kind, du wirst es schon merken! Komm zu den Ältesten!«

Am selben Tage wurden sie getraut und traten vereint ihre Wanderung an. Wohin immer sie kamen, waren die Leute fassungslos vor Staunen, den Kowner nun doch vermählt zu sehen, und begriffen nicht, warum er es getan. Denn seine Sinne konnte das unhübsche, vergrämte Geschöpf nicht gereizt haben, und wollte er endlich der frommen Satzung genügen, so hätte er sich dadurch zugleich ein gemächliches Leben sichern können. Er aber hatte es vielleicht bloß aus Erbarmen getan, vielleicht auch dachte er daran, daß nur eines mächtiger sei, als des Vaters Fluch: die eigene Guttat als Fürsprech vor dem Throne des Allgerechten. Vielleicht wollte er sich eine andere, bessere Sterbestunde sichern...

Gewiß ist, daß er nun wieder tapfer und fröhlich wurde wie zuvor. Er betreute das junge Weib, das den Mühen eines solchen Lebens nicht gewachsen war, mit rührender Liebe, blieb überall länger, als er gewohnt war, und obwohl er auch nun nie bettelte, wies er doch jetzt um ihretwillen keine Gabe zurück, auch wenn sie ihm mit hochmütigen Worten gereicht wurde.

So zogen die Neuvermählten langsam gegen Süden, eine traurige, traurige Wanderung, da sie am Wege wenig anderes sahen als Tod und Todesangst, oder wüste Entfesselung aller Leidenschaft, diese Angst zu überwinden. Der »Kowner« aber blickte der Seuche gefaßten Muts ins fürchterliche Antlitz, er kramte keine tollen Schwänke mehr aus, aber wohin er kam, ward er den Leuten in seiner tapferen, milden Art ein rechter Tröster. Er mahnte zu Gottvertrauen und Menschlichkeit, wie der Rabbi, aber in ganz anderen Worten, die den angstgequälten, verzweifelten Menschen viel tiefer ins Herz griffen. So konnte nur Einer sprechen, der selbst keine Furcht mehr kannte und von der Gnade des Himmels felsenfest überzeugt war. Namentlich seit jener Stunde, wo er wußte, daß Gott seines Weibes Schoß gesegnet, schien er ein anderer, höherer, besserer Mensch geworden.

»Gott ist gerecht«, sagte er, »auch mir schenkt er einen ›Kadisch‹ – sein Name sei gelobt!«

Nun änderte er auch sein Reiseziel. Er hatte vorgehabt, sich bis ans Schwarze Meer durchzuschlagen, weil dort die Cholera ihr Wüten bereits eingestellt zu haben schien; nun wandte er sich nach Westen. Er wollte über Galizien nach Oberungarn zu jenem Freunde, dem Weinhändler, dort sollte sein Weib ihrer schweren Stunde entgegenharren. Daß er durch Landschaften kam, wo die Seuche eben am stärksten wütete, schreckte ihn nicht. Noch in Tluste, wo er zuletzt mit seinem Weibe den Sabbat hielt, war er tapfer wie je, und da es an Leuten fehlte, die Toten zu begraben, blieb er den Sonntag über und half die fromme Pflicht erfüllen.

Am nächsten Tage – einem kalten, aber sonnigen Dezembertage – zogen sie weiter. Inmitten des Weges trat ihn die Entsetzliche an, der er getrotzt, und warf ihn nieder.

Er wußte sofort, daß er sterben werde. Das verzweifelte Weib warf sich vor einem Fuhrmann, der vorbeikam, in die Kniee und flehte ihn an, den Kranken nach dem nächsten Städtchen zu bringen.

Der Kowner aber schüttelte das Haupt.

»Nein«, sagte er, »hier!«

Er schleppte sich an eine Pappel am Wege – es war zufällig dicht neben einer Kapelle –, bettete sein Haupt auf dem Wurzelwerk der Pappel und wartete sein Ende ab.

»Gott ist gerecht! »tröstete er sein Weib. »Er ist es mir gewesen, aber du bist schuldlos, er wird es auch dir sein! Weine nicht, verzweifle nicht – es könnte dem Kind schaden! Meinem ›Kadisch‹! Denn ich weiß, es wird ein Knabe sein – Gott ist auch mir nicht bloß gerecht, auch barmherzig. Nenn' ihn Sender nach meinem Vater, erzieh ihn zu einem braven Menschen. Er soll werden, was er will... nur kein ›Schnorrer‹... hörst du?!«

Und dann noch einmal schon im Todeskampf: »Nur kein ›Schnorrer‹ – Gottes Segen über ihn!«

Sein Weib wäre ihm wohl gern, sehr gern nachgestorben, aber sie durfte ja nicht! Sie fühlte das Regen des jungen Lebens unter ihrem Herzen und schleppte sich vorwärts, dem nächsten Judenstädtchen zu. Das war Barnow, und gleich im ersten Hause an der Straße ward ihr, was sie bedurfte: ein Lager und eine barmherzige Pflegerin.

Aber sie fiel nicht allzulange zur Last. Sie starb im nächsten Mai, nachdem sie vorzeitig ein schwächliches Knäbchen geboren hatte.


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