Karl Emil Franzos
Der Pojaz / Vorwort
Karl Emil Franzos

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Drittes Kapitel

Dies waren die Eltern des »Pojaz« gewesen, und auch seine Pflegemutter war kein gewöhnliches Weib. Jenes erste Haus von Barnow war das Mauthaus, wo die Pächterin des Straßenzolls wohnte, die Rosel Kurländer, eine junge, starke, aber überaus häßliche Frau, der ein hartes Geschick zugefallen war.

Ein sehr hartes, das gaben die Leute von Barnow zu, aber ein warmes Mitgefühl für sie empfand niemand. Im Gegenteil, sie fanden dies Geschick gerecht; so ging es eben, wenn man sich gegen Sitte und Ordnung versündigte.

Die Sitte gebot, daß die Braut den Bräutigam bei der Verlobung kennenlerne, nicht früher; ihr den Freier zu wählen, war das Recht der Eltern; ihr eigener Wille hatte dabei nicht mitzusprechen. Schon daß man das Mädchen vorher befrage, galt als unschicklich und kam in Familien, die etwas auf sich hielten, nicht vor; eine Weigerung vollends war unerhört.

Die Rosel war nun seit Menschengedenken die erste und einzige, die ihren Eltern von vornherein erklärte, sie heirate nur jenen Mann, den sie sich selbst erwähle, und dann diesen Frevel durchsetzte.

Es gelang ihr, weil sie das einzige Kind ihrer Eltern war, weil ihr Wesen von je herb und entschieden gewesen, vor allem aber, weil die Mutter den Wunsch des Mädchens nicht so unvernünftig fand. Die Rosel war ja fast ebenso reich wie häßlich; das Mutterherz fühlte nach, wie sich ihr Kind dagegen sträubte, bloß um des Geldes willen genommen zu werden. Aber auch sie war tief erschreckt, als ihr das Mädchen sagte: »Froim der Schreiber hat mir gesagt, daß er mich will, und ich nehm' ihn!«, denn der Froim Kurländer war ein hübscher, starker, lustiger, aber sehr armer Bursche, der sich durch das Abschreiben von Thorarollen notdürftig ernährte, und dies umso schwerer, als er sein bißchen Verdienst immer rasch unter die Leute brachte. »Eben darum nehm' ich ihn«, meinte die Rosel. »Er verachtet das Geld. Wenn er mich will, so ist's um meinetwillen.«

Da irrte sie. Froim ließ sich nur eben durch die reiche Mitgift über das Unglück trösten, die häßlichste Frau im Kreise zu haben.

Es ward eine jämmerliche Ehe. Der Mann war ein Säufer und Spieler und kam nur dazu manchmal heim, um neues Geld zu holen oder sein Weib zu prügeln, wenn sie ihm keines gab. Vergeblich rieten der Rosel die Verwandten, sich von dem wüsten Menschen scheiden zu lassen. Die düstere Frau schüttelte den Kopf: ihr geschehe nur, was sie verdient habe, und sie wolle die Suppe, welche sie sich selbst eingebrockt, bis auf den letzten Löffel schlucken. Das erfüllte sie denn auch ganz und gar. Erst nachdem sie dem Trunkenbold nichts mehr zu geben hatte, prügelte sie ihn einmal so unmenschlich durch, und schwor mit so entsetzlichen Eiden, ihn zu morden, wenn er sich je wieder blicken lasse, daß der Lump verschwand, als hätte ihn die Erde verschlungen.

Nun pachtete die Rosel den Schranken und begann in dem einsamen Hause ein neues, mühseliges Leben. Sie hielt keine Dienerin, keinen Knecht und verrichtete selbst den harten Dienst, rastlos, Tag und Nacht, mit einziger Ausnahme des Sabbats, und auch das nur, weil das Gesetz es gebot. Und wenn die Leute sie vor den Gefahren solcher Einsamkeit warnten, erwiderte sie kurz: jedes Kind im Kreise kenne ihre Geschichte und wisse, daß sie jetzt bettelarm sei, und vor sonstigen Anfechtungen wahre sie ihr Gesicht hinlänglich. Übrigens ward jeder dieser Rater in einer Art empfangen, daß er nicht wiederkam. So galt sie bald den einen als verrückt, den anderen als menschenfeindlich und ward von allen gemieden. Aber wie edel und klar sie war, bewies sie an der unglücklichen Witwe des Mendele. Sie pflegte sie bis zur letzten Stunde wie eine Schwester, und zog dann das Knäblein durch künstliche Ernährung mit unsäglicher Mühe auf.

Das Schicksal des »Pojaz« ist dadurch bestimmt worden, daß er dieser Eltern Sohn gewesen und von dieser Frau auferzogen worden ist; er selbst hat im Grunde wenig dazu getan, wie denn überhaupt das Wort, daß jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, wohl die größte Lüge ist, welche so durch all die Zeiten von Mund zu Mund geht.

Übrigens erfuhr er seine Herkunft erst spät, er hielt sich für der Rosel Sohn, und die Leute taten ihr den Willen, ihn nicht aufzuklären; sie hatte so flehentlich darum gebeten, daß selbst der Roheste nicht entgegenhandeln wollte.

Auch hielt ihn die Frau wie ihr eigenes Fleisch und Blut; alle Liebeskraft des einsamen, verbitterten Herzens hatte sie dem Knaben zugewendet. Wer an der Maut vorüberfuhr und das schön geputzte Kind neben dem ärmlichen Weibe auf dem Steinbänkchen sitzen sah, mußte glauben, daß da eine Magd das Söhnchen ihrer Herrin bewache.

Den Leuten von Barnow begegnete die Rosel so herb wie sonst, aber dem Knaben fast töricht weich. Vielleicht auch deshalb, weil er trotz aller Pflege schwächlich blieb; ein mageres, hastiges Bübchen mit dunklen, unruhigen Augen, das fortwährend umherschoß und fragte und sich zu tun schaffte. Zutraulich lief es den Vorüberziehenden zu, begleitete sie lange Strecken Weges und hatte auch bald unter den Fuhrknechten, welche da regelmäßig vorbeikamen, eine große Anzahl Freunde, von denen es eifrig lernte, was sie eben lehren konnten: mit den Pferden umzugehen und allerlei russische und polnische Lieder und Sprüche, gerade nicht immer des saubersten Inhalts.

Es war eigen, wie rasch sich das Bürschchen mit den rohen Gesellen vertraut zu machen wußte. Und doch ermunterten sie es anfangs wahrlich nicht oder hielten sich gar den »jungen Judenhund« mit der Peitsche vom Leibe. Aber er gewann sie durch seine hastige, possierliche Art, und dann, weil er ihre Sprache so fertig und ohne Akzent erlernte, wie sie es aus jüdischem Munde kaum gehört, noch für glaublich gehalten hatten. Besonders ein schweigsamer, ältlicher, ruthenischer Knecht, namens Fedko Hayduck, der wöchentlich zweimal mit dem Gemüsewagen der Dominikaner aus dem Meierhofe vorüberkam, ward ganz bezaubert vom »Senderko«, freute sich auf die Maut, wie sehr er sie sonst auch verwünschte, weil dann der Bube eine halbe Stunde mit ihm fuhr, und meinte immer: »Der Teufel mag alle Heiligen loben, wenn das ein Judenblut ist. Den haben die Juden einmal zu Ostern auf einen Braten gestohlen, aber es war ihnen zu wenig Fleisch und Blut daran! Denn wann hat man gehört, daß ein Jud' so sprechen kann oder gar singen! Eher glaub' ich wahrhaftig noch die Geschichte vom fleißigen Edelmann!«

Minder erbaut waren die Leute im Städtchen von diesem Treiben, doch ließen sie der seltsamen Erziehung ihren Lauf. Auch holte sich niemand gern ohne Grund die wuchtigen Höflichkeiten ab, die Frau Rosel für jeden Besucher bereit hielt. Aber als der Knabe endlich neunjährig geworden, ohne auch nur einen Buchstaben zu kennen, trieb die Leute ihr frommes Gewissen, sich ins Mittel zu legen. Denn Unterricht und Gottesdienst sind ja bei diesem Volke eins und Unwissenheit eine Todsünde; wer nicht lesen kann, ist auf Erden ein Verruchter, im Jenseits ein Verdammter.

So ordneten sie eine Gesandtschaft ins Mauthaus ab, welche wohl bitter empfangen wurde, aber doch ihren Zweck erreichte. Sie werde, erklärte die Frau, ihr liebes Kind keinem »Cheder« (Judenschule) anvertrauen, aber einen »Knaben-Bocher«, einen Hofmeister, wolle sie gern bezahlen. Nur die Schwächlichkeit des Knaben habe sie bisher abgehalten, dies selbst zu veranlassen. Doch müsse sie bitten, ihr einen sanften und geduldigen Menschen zu schicken.

Der Beisatz war fast überflüssig, denn ungeduldige »Knaben-Bachorim« gibt es nicht, wenigstens nicht im podolischen Ghetto. Das sind Leute anderen Schlages, als die »Jeschiwa-Bachorim«, die Hörer an den Rabbinerschulen. Es ist ein Gegensatz wie etwa zwischen dem dürftigen Schulmeister und dem übermütigen, selbstbewußten Sohn der »Alma mater«. Es kommt ja auch vor, daß aus einem flotten Studenten, der nicht ans Ziel gelangt, ein zahmer Hofmeister oder gar ein gedrückter Volksschullehrer wird, aber dann ändert er eben sein Wesen. Die Knaben-Bachorim sind arme, scheue, demütige Menschen, die sich im Schweiße des Angesichts ihr kümmerliches Brot verdienen und alle Launen der Zöglinge und ihrer Eltern mit so unbewegtem Gesichte hinnehmen, als wäre das im Gegenteil gerade die Butter auf dies harte Brot.

Da aber mit der Frau da draußen nicht zu spaßen war, so schickte man ihr ein wahres Lamm. Es war dies der Bocher Naphtali, der wohl mit seinem Familiennamen Ritterstolz hieß, aber ein halbverhungertes Männchen von kleiner, dürftiger Gestalt war, mit einem Gesicht wie aus schlechtem Fließpapier geschnitten.

Der Unterricht begann und anfangs ging alles gut, der Knabe saß still und ließ sich in die Geheimnisse des Alphabets einführen, weil ihn die Neuheit der Sache interessierte und weil sich das bärtige Männchen im Erklären so komisch hin und her wiegte, wie ein Perpendikel, und jedes Wort schön durch die Nase sang. Nur wenn der Fedko vorbeikam, lief Sender davon. Aber bald lief er auch davon, wenn ein anderer Wagen vorbeikam, und schließlich ohne jede Veranlassung.

Auch Mosche Rindsbraten, Schlome Rosenthal, Chaim Fragezeichen, Selig Diamant und wie sonst die Pädagogen von Barnow hießen, hatten kein besseres Ergebnis zu verzeichnen. Da sich jeder von ihnen sonderbar hin und her bewegte und durch die Nase sang und jeder in anderer Art, so hielt der Knabe in den ersten Stunden immer still, aber da keiner gelernt hatte, Variationen in seinen Vortrag oder Vorsang anzubringen, so ward das Ende immer dasselbe.

Die Frau nahm sich das nicht zu Herzen. »Das Kind hat ja Zeit«, meinte sie. Und so hatte das blasse, hastige, vorwitzige Büblein wieder selige Tage, fast ein Jahr lang.

Aber sie sollten ein jähes Ende nehmen, auf immer. Zwei Ereignisse führten dies herbei, ein Spaziergang und eine Kunstproduktion.

Da fuhr nämlich einmal Sender auf dem Gemüsewagen des Fedko davon und kam nicht wieder; erst am dritten Tage brachte ihn ein Barnower Dorfgeher der angstgequälten Pflegemutter zurück. Er habe nach Lemberg gewollt, erklärte Sender unbefangen, weil man ihm erzählt habe, daß dies die schönste und größte Stadt der Welt sei. Und als ihn die Frau fragte, ob er denn nicht Heimweh oder Bangen verspürt habe, schüttelte der Zehnjährige den Kopf; er kannte die Empfindung offenbar gar nicht.

Das machte die Mutter denn doch nachdenklich. Aber noch fand sie nicht den Schlüssel für die sonderbare Natur des Kindes.

Erst ein Fremder sollte es ihr mit dürren Worten sagen, der alte, reiche Moses Freudenthal, als er einmal während eines jähen Regens Schutz in ihrem Häuschen suchte.

Der Greis fragte den Knaben, warum er nicht lernen wolle, und erhielt darauf die keckste und possierlichste Antwort. Da setzte sich das Bürschlein an den Tisch und kopierte jeden seiner unglücklichen Erzieher so schrecklich getreu mit allen Arten und Unarten, daß der alte Mann vor ungemeinem Staunen gar nicht zum Lachen kam. Es war kein bloßes Nachäffen, wie man es von ungezogenen Kindern häufig genug sieht, sondern dem Manne war's, als sähe er da wirklich bald den Chaim Fragezeichen, bald den Naphtali Ritterstolz, bald den Schlome Rosenthal leibhaftig vor sich sitzen. Und als nun der Knabe, durch die Mutter aufgemuntert, auch seine Freunde, die Fuhrknechte vorzuführen begann, alle mit fast unheimlicher Naturtreue in Stimme und Ausdruck, da blieb der alte Mann wohl eine Stunde über den Regen sitzen und sagte der Frau, als er schied: »Es ist ein ›Pojaz‹, wie ich noch keinen gesehen habe. Er hat's von seinem Vater, aber er trifft's schon jetzt besser als der Kowner! Denkt an mich: in drei Jahren läuft er davon und läßt nie wieder von sich hören. Eines ›Schnorrers‹ Sohn ist er und ein ›Schnorrer‹ wird er werden!«

Die Frau erschrak tödlich; wie Schuppen fiel es ihr von den Augen, nun konnte sie sich auch diesen seltsamen Wandertrieb erklären. Eine quälende Angst erfüllte ihr Herz; nicht dazu hatte sie das fremde Kind mit so unsäglicher Mühe aufgezogen, daß es, kaum flügge geworden, sie allein lasse und fortziehe ins fremde Elend hinein! Und dann – was hatte sie der sterbenden Mutter gelobt?! »Seid ruhig, Miriam, und sagt es auch Eurem armen Mann, wenn Ihr ihn drüben wiederseht: aus Eurem Sender wird kein ›Schnorrer‹, solang die Rosel die Augen offen hat. So wahr mir Gott barmherzig sein möge in meiner letzten Stunde – ich will ihn davor hüten!« Die Miriam hatte ihr nur noch mit einem Blick danken können, aber der sprach: »Ich glaube dir – du bist auch die Frau, die ihren Schwur halten kann!« Und sie hatte ja auch dem Knaben aus dem doppelten Grund, ihn an sich zu fesseln und ihn vor jedem Gedanken an jenes unselige Leben zu bewahren, seine Herkunft so ängstlich verschwiegen, hatte es durchgesetzt, daß der Rabbi es jedem eingeschärft:«Der Sender ist der Rosel Sohn – wer es ihm anders sagt, begeht eine Sünde!«

Und nun?!

Aber neben dem Schmerz bäumte sich auch ein wilder Groll in ihr auf. Sie zürnte dem Knaben für das, was wahrlich nicht seine Schuld war: sein Blut und seine Erziehung. Denn wie sehr die Freiheit, die sie ihm in ihrer Zärtlichkeit gegönnt hatte, den angeborenen Trieb habe mehren müssen, sah sie nicht ein; sie hatte nur die Empfindung, daß er diese Zärtlichkeit mißbraucht habe.

Frau Rosel verbrachte eine schlaflose Nacht. Am nächsten Morgen raffte sie die Habseligkeiten des Knaben zusammen und ging mit ihm ins Städtchen. Sie wolle ihren Sohn in ein »Cheder« tun, erklärte sie, und wünsche, daß man ihr einen recht strengen »Rebbe« bezeichne.

Auch diesmal war der Beisatz fast überflüssig, denn der Leiter eines »Cheders« ist niemals sanft, wenigstens nicht im podolischen Ghetto. Wenn ein »Knaben-Bocher« sich zum »Rebbe« aufschwingt, zum Besitzer einer eigenen Lehrstube, in welcher er zwanzig, dreißig und mehr Kinder gleichzeitig unterrichtet, so wird er auch innerlich ein anderer Mensch oder kehrt sein Inneres ungescheut hervor, da er ja nun keine ängstlichen Rücksichten mehr zu nehmen braucht. Gewöhnlich wird aus dem sanftesten »Bocher« der grausamste »Rebbe«, der nun auch unerbittlich alle jene Hiebe austeilt, welche er durch manches Jahr seinen Herren Zöglingen nur in der Phantasie widmen durfte. Auch sitzen ja da meist die Kinder ärmerer Leute, welche kaum ein Lehrgeld von zwei Kreuzern täglich bezahlen. So ist der »Rebbe« vor Beschwerden ziemlich sicher; ein armer Mann ist froh, wenn er sein Kind in der Schule weiß, und übrigens bewahrt ja sein eigenes Hinterteil lebhafte Erinnerungen aus der Jugendzeit – warum sollte es die junge Generation besser haben?!

Totgeschlagen ist im »Cheder« noch niemand worden, trösten sich die Leute, und das mag wahr sein, sofern man einen schlichten, klaren, durch den Galgen zu bestrafenden Mord meint. Aber langsam ist da sicherlich manches junge Leben erdrosselt worden: durch die abscheulichen Mißhandlungen roher Fanatiker. Es ist sicherlich ein schöner und kluger Grundzug des jüdischen Volkstums, das Lernen zur religiösen Pflicht, die Gelehrsamkeit zum Verdienst vor Gott, den Adel der Gelehrsamkeit zum einzigen im Judentum gültigen Adel zu machen, und es wäre nur wünschenswert, daß die altgläubige Judenschaft dies auch von anderem Wissen gelten ließe, nicht bloß vom Hebräisch-Lesen und dem Pentateuch, dem Talmud und der Kaballa. Aber dieser schöne und kluge Grundzug hat zur abscheulichen Einrichtung der »Cheder« (zu deutsch »Stuben«) geführt, einem Schandfleck des orthodoxen Judentums, an welchem die Edlen und Einsichtigen dieses Glaubens eifrig aber vergebens herumscheuern. Denn sie bringen den Schandfleck trotz aller Mühe nicht weg, vielleicht, weil ihnen nur das Öl vernünftiger Überredung zu Gebote steht und nicht das zuweilen sehr heilsame Vitriol der Gewalt. So wuchern diese Marterhöhlen für Körper und Geist noch immer fort...

Auch in Barnow gab und gibt es deren viele, und das Weib aus dem Mauthause hatte stattliche Auswahl. Sie entschied sich für die Anstalt des Reb Elias Wohlgeruch, weil man ihr sagte, daß dieser Mann es verstehe, auch den wildesten Trotz zu brechen.

Elias Wohlgeruch hauste in einem der schmutzigsten, dumpfigsten Gäßchen von Barnow. Weder das Haus, noch der Mann machten dem Familiennamen große Ehre. Modrig und baufällig war die Spelunke, die wackeligen Mauern halb in die Erde gesunken, und das Innere bestand aus einem einzigen leidlich großen, wüsten und feuchten Raum, der alles in einem war: Küche, Empfangszimmer und Schlafsaal der Familie, Lehrsaal der Anstalt und Studierzimmer des Hausherrn. Da hockten in einem Knäuel an die vierzig Kinder, die größeren auf Schemeln, die kleineren auf dem nackten, schlüpfrigen Lehmboden, unter ihnen Reb Elias. Was sie trieben, hörte man durch das ganze Gäßchen: ein eintöniges Summen und Surren, in welches sich zuweilen ein durchdringendes Jammergeheul mischte.

Gerade als die Frau mit dem Knaben vor dem Häuschen hielt, ging drinnen eine solche Exekution vor sich. Frau Rosel erbleichte, faßte die Hand des Kindes fester und zauderte einen Augenblick. Dann schüttelte sie finster den Kopf und trat über die Schwelle. Freilich wich sie im selben Augenblicke unwillkürlich zurück; sie war draußen in ihrem reinlichen Feldhäuschen solcher Düfte nicht gewohnt, wie sie diesen düsteren Raum erfüllten. Denn zu der Ausdünstung der vielen Menschen kam der Dunst des Herdes, an welchem Frau Chane Wohlgeruch das Mittagessen bereitete, und überhaupt genau so waltete, wie Schiller singt, nur daß sie nicht bloß den Knaben, sondern auch den Mädchen wehrte und bald dem, bald jenem ihrer Kinder eine ungeheure Maulschelle gab. In ähnlichen Bewegungen bestand auch die Haupttätigkeit ihres Gatten; nur daß er bei der großen Anzahl der Schüler die eigene Hand, so knochig und fest sie war, nicht für ausreichend hielt und darum immer ein scharfkantiges, messingbeschlagenes Lineal schwang, auf welchem mancher dunkle Fleck saß, nicht Tinte, sondern Blut.

Das war übrigens nur das Werkzeug für den ersten Torturgrad. Der zweite wurde neben der Tür vollzogen, wo auf einem Schemel ein anscheinend harmloser, aber in guten Essig getauchter Birkenzweig ruhte – er ruhte aber selten –. Der dritte Grad endlich wurde in einem dunklen Winkel geübt; dort war ein Haufe scharfkantiger Steine geschichtet, auf die man den armen kleinen Sünder gebunden hinwarf.

Als die Rosel mit dem neuen Zögling eintrat, war gerade nur das Lineal in Tätigkeit, aber auch dies wirkte, wenn man aus dem Geheul des eben bearbeiteten Jungen schließen durfte, sehr energisch. Auch der Lehrer war offenbar erregt, und wenn der hagere, furchtbar verwahrloste Mann mit der ungeheuren Geiernase im verkniffenen Gesichte auch sonst keinen gemütlichen Eindruck machte, so mußte er nun in seiner Raserei geradezu unheimlich erscheinen.

Der kleine »Pojaz« schrie denn auch, als sollte er an den Spieß gesteckt werden. Frau Rosel zauderte abermals. Aber dann gab sie dem Bübchen einen festen Ruck und brachte ihren Antrag vor.

Reb Elias war natürlich einverstanden, hier doppelt, weil sich die Frau bei der Feststellung des Kost- und Lehrgeldes nicht knickrig zeigte. Er hoffe den besten Erfolg, versicherte er, seiner Erziehungsmethode habe auch der wildeste Range nicht widerstanden. Und dann erklärte er dem Ankömmling in einladendster Weise die Bedeutung des Lineals, des Schemels und der Steine.

Der armen Frau gab es einen Stich durchs Herz, aber sie blieb fest, und als der Rebbe, wahrlich nicht aus Menschenliebe, fragte, ob sie nicht den Knaben mindestens jeden Sabbat über bei sich zu haben wünsche, erwiderte sie: »Nein! nicht eher, als bis er mindestens gut lesen kann.«

Aber Sender kam schon viel früher heim: am Abend desselben Tages. Das Bübchen hatte sich mühsam bis zum Mauthaus geschleppt und wenn es auch vor blutigem Weinen nicht zum Reden kam, so erzählte doch der arme, zarte Leib, daß der Erzieher neben der alten Betschul bereits im Laufe des einzigen Tages Zeit gefunden, alle drei Mittel in Anwendung zu bringen.

Die düstere Frau wusch und kühlte schweigend den Körper ihres Lieblings und bettete ihn an gewohnter Stelle. Dann verbrachte sie schlaflos die Nacht an seinem Lager und weinte vor sich hin, weinte zum ersten Male seit langen Jahren. Aber als Sender wieder wohl war, zerrte sie ihn doch zurück zum Cheder. In dieser Frau war eine unheimlich starke Kraft des Willens, stärker als in den meisten Männern ihres Stammes.

Man soll nicht überflüssig Düsteres berichten, und nichts auf Erden ist düsterer als grausames Leid, das sich über hilfloser Kindheit entlädt. Darum kein Wort über die Art, wie Reb Elias die Wiederkehr des Flüchtlings feierte, und über die Methode, durch die er ihm schließlich doch das Lesen beibrachte.

Das geschah freilich erst nach zwei Monaten. Aber dann sah sich Reb Elias benötigt, einen Besuch im Mauthause zu machen.

»Ich habe ihn wirklich weit gebracht«, erklärte er, »wir könnten jetzt sogar schon mit dem Übersetzen anfangen, aber der Bub ist so trotzig. Aus Trotz hat er sich jetzt in eine Ecke gelegt und will nichts mehr essen.«

Die Frau ging zu dem Kinde. Und als sie an seinem Lager niederkniete, da wurde sie inne, daß Sender in seinem Trotze noch viel weiter ging: das Bübchen atmete kaum noch und sein linker Arm war gebrochen. Frau Rosel blickte den Rebbe mit einem langen Blicke an, daß er entsetzt in eine Ecke zurückwich. Dann hob sie den Knaben in ihre Arme und trug ihn heim.

Der Arzt machte anfangs ein bedenkliches Gesicht, weil der Bruch so lange vernachlässigt geblieben. Aber in dem schwächlichen Knaben war doch etwas von der eisernen Natur des Vaters.

Nach vier Wochen war jede Gefahr vorüber.

An dem Tage, wo ihr der Arzt dies erklärte, wich Rosel zuerst vom Lager des Kranken.

Sie ging in ihr Gärtchen und schnitt dort eine lange, starke und doch biegsame Staude ab. Und so gerüstet machte sie dem Rebbe Elias Wohlgeruch einen Besuch. Von den Gesprächen, welche sie in stiller Kammer mit ihm gepflogen, wurden auf die Straße hinaus freilich nur unartikulierte Laute hörbar, aber ihr Inhalt blieb im allgemeinen doch nicht unbekannt.

So endete dieser Abschnitt in den Lehr- und Lernjahren des »Pojaz« mit einer stark dramatischen Szene.


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