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XXIX.

Die »Charmian« setzte ihren Weg mit voller Geschwindigkeit fort. Außer dem leisen Summen der Schiffsschrauben hörten die beiden Gefangenen keine Geräusche an Bord. Dan ging mit dem Revolver in der Hand in der Kajüte auf und ab, sah zwischen den Vorhängen der Fenster hindurch und suchte nach einem Ziel. Aber die Leute an Bord nahmen sich in acht und ließen sich nicht sehen.

Von Zeit zu Zeit berichtete Dan den Kurs, den das Boot nahm. »Jetzt fahren wir unter der Manhattan-Brücke durch … Brooklyn-Brücke … Kanal zwischen Governor's Island und Brooklyn … Jetzt haben wir Richtung auf die Bucht … Jetzt sind wir im offenen Fahrwasser … Ich kann nichts mehr sehen.«

Es war draußen vollkommen dunkel geworden. Dan steckte sich eine Zigarette an, verdeckte sie mit der Hand und zog die Vorhänge zurück. »Nur für den Fall, daß sich ein paar Beine oder ein Kopf zeigen.« Dann ließ er sich in dem Sessel gegenüber dem Fenster nieder.

Mr. Lawrence war nur als ein großer Schatten auf der anderen Seite zu sehen.

»Ihnen scheint die Sache Spaß zu machen«, meinte er.

»Ich weiß es nicht, aber manchmal bekommt man Mut und Einfälle, wenn man am tiefsten in der Tinte sitzt.«

»Ja, bei manchen Menschen ist es so. Sie sind wirklich ein ganzer Kerl.«

Nachdem sie ungefähr eine Stunde unterwegs waren, fuhr der Motorkreuzer langsamer, und die Maschinen wurden abgestellt. Dann glitt das große Boot ruhig weiter, und die Schiffsschrauben drehten sich rückwärts.

»Nun, habt ihr sie gefangen?« fragte jemand aus nächster Nähe.

»Alles in Ordnung«, antwortete einer der Matrosen an Deck. »Der alte und der junge Hahn sind im Käfig.«

Drüben lachten verschiedene Stimmen laut auf.

Dan warf einen Blick durch die Vorhänge. »Wir nähern uns einem Schiff, es scheint ein großer Leichter zu sein. Ich sehe mindestens ein halbes Dutzend Leute an Bord.«

»Stecken Sie Ihren Revolver ein. Wir müssen nicht anfangen, zu schießen.«

Der Motorkreuzer legte längsseits des großen Schiffes an und wurde festgemacht.

Das Meer war glatt wie ein Spiegel, und die beiden Fahrzeuge lagen ruhig nebeneinander. Der Leichter hatte einen höheren Bordrand und sperrte dadurch die Aussicht aus den Fenstern. Weder Dan noch Lawrence konnten sehen, was draußen vorging. Sie hörten nur, daß die Leute umhergingen und sich leise miteinander unterhielten. Plötzlich wurden die Kabinentüren aufgerissen, ohne daß sie jemand sehen konnten, und eine spöttische Stimme rief:

»Werfen Sie Ihre Waffen durch die Tür aufs Deck hinaus und kommen Sie heraus. Wir tun Ihnen nichts, wenn Sie keine Waffen haben.«

»Wir behalten unsere Waffen«, erwiderte Dan, »und wir bleiben, wo wir sind.«

»Wie Sie wollen«, entgegnete der andere. »Ich hoffte, Sie würden mir beim Abendbrot Gesellschaft leisten.«

Ein längeres Schweigen folgte. Mr. Lawrences Zigarre glühte in regelmäßigen Zwischenräumen in der Ecke auf. Nach einiger Zeit begann er eine Unterhaltung, um die Spannung zu unterbrechen, die allmählich unerträglich wurde.

»Merkwürdig, wie man sich an gewisse Dinge erinnert. Als ich so alt war wie Sie, besuchte ich die Insel Dominica in Westindien. Ich kann alles noch deutlich vor mir sehen.«

Dan merkte plötzlich, daß seine Füße naß wurden, und faßte nach dem Boden der Kabine. Das Wasser stand bereits drei Zentimeter hoch. »Sie haben das Bodenventil aufgemacht und wollen uns ertränken, Mr. Lawrence.«

»Die Berge erhoben sich direkt aus dem Meer«, fuhr der Millionär unbekümmert fort. »Sie reichten bis zu den Wolken – es war ein herrlicher Anblick.«

Ein paar Minuten darauf stand das Wasser über ihren Knöcheln, und das Schiff war wie ein totes Gewicht unter ihnen. Vom Deck hörten sie keinen Laut.

»Wir müssen machen, daß wir hinauskommen«, sagte Lawrence schließlich. »Es ist mir lieber, daß man mich erschießt, als daß man mich wie eine Ratte ersäuft.«

»Sollen wir die Waffen aufs Deck hinauswerfen?«

»Nein, das nicht, aber schießen Sie auch nicht, bevor die anderen feuern.«

Lawrence stand dicht neben der Tür.

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte Dan. »Ich gehe voraus.«

»Nein, das gebe ich nicht zu. Ich habe Sie in diese traurige Lage gebracht!«

»Nein, das gibt es nicht«, erklärte Dan, packte J. M. bei den Schultern, als er sich vordrängen wollte, und drückte ihn in einen Sessel.

Dan eilte die Stufen mit der Waffe in der Hand hinauf. An Deck wurde er geräuschlos von mehreren Leuten gepackt und nach kurzem Kampf entwaffnet. Dasselbe Schicksal ereilte auch Lawrence. Nachdem sie ihnen die Revolver abgenommen hatten, traten die Angreifer zurück und ließen sie frei.

Ein großer, schlanker Mann stand an Deck des größeren Schiffs, und sie hörten eine spöttische Stimme. »Kommen Sie doch an Bord, meine Herren, Sie sind doch meine Gäste.«

Er streckte die Hand aus, um Mr. Lawrence zu helfen, aber der Millionär übersah sie, als er hinaufstieg. Bei dem Kampf hatte er die Zigarre nicht fallen lassen, und er rauchte auch jetzt noch.

»Schließen Sie die Türen des Steuerhauses«, befahl der Unbekannte, »damit der Tote nicht hinausgespült wird. Dann löst ihr die Taue, damit der Kasten sinken kann. So sind alle Spuren verwischt.«

Dan sah sich um.

Sie standen auf einem schweren Leichter, der anscheinend Frachten zum Hafen von New York transportierte. Aber durch eine offene Tür bemerkte er ein paar starke Motoren, die dem Fahrzeug große Geschwindigkeit geben konnten. Es mußte ein Alkoholschmuggelschiff gewesen sein. Vor dem Maschinenraum befand sich eine elegant möblierte Kajüte, davor mehrere Kabinen und ein großes Steuerhaus. Auf der Rückseite war eine starke drahtlose Station eingerichtet.

Lawrence und Dan wurden in keiner Weise belästigt, aber zehn Leute standen dicht um sie herum und beobachteten jede ihrer Bewegungen.

Der große Mann lud sie mit einer Handbewegung ein, in das hellerleuchtete Steuerhaus zu treten.

»Zunächst halte ich es für das beste«, begann er, »daß wir der Jacht ›Iroquois‹ eine drahtlose Nachricht zukommen lassen. Dann machen sich Ihre Freunde keine unnötige Sorge.«

Er nahm einen Bogen Papier vom Schreibtisch. »Wie gefällt Ihnen der Text? Ich werde ihn vorlesen: ›Bin plötzlich geschäftlich abberufen, Henry und Reed sollen in mein Haus zurückkehren und dort auf weitere Nachrichten von mir warten. Über meine Geschäftsreise soll tiefstes Schweigen bewahrt werden.‹«

»Sie sind ja gut informiert über die Namen meiner Angestellten«, erwiderte Lawrence trocken.

Der große Mann lächelte teuflisch.

»Seit einem Monat lasse ich Sie unausgesetzt beobachten, Mr. Lawrence.«

»Wer sind Sie denn?«

»Wir wollen alle Formalitäten beiseitelassen«, grinste der andere. »Nennen Sie mich Joe.«

»Warum wollen Sie denn diese drahtlose Nachricht senden?«

»Wenn Ihre Freunde ängstlich werden und Nachforschungen anstellen, wird bekannt, daß Sie verschwunden sind. Dann würde es eine große Aufregung geben, und ich könnte Sie nicht sicher an Land zurückbringen.«

»Jetzt verstehe ich – Sie wollen ein Lösegeld für mich haben?«

»Ja«, erwiderte Joe und grinste spöttisch.

»Sicher schätzen Sie mich sehr hoch ein?«

Mr. Lawrence wandte sich an Dan.

»Was sollen wir nun tun?«

»Die Nachricht muß unter allen Umständen abgeschickt werden«, entgegnete Dan schnell.

»Der junge Mann scheint ja sehr vernünftig zu sein«, meinte Joe.

»Mr. Lawrence, benutzen Sie ein besonderes Codewort, wenn Sie Ihren Angestellten eine Botschaft schicken?«

»Ja, unterzeichnen Sie das Telegramm mit Letchworth – dann wissen sie, daß es von mir kommt.«

Die Unterschrift wurde hinzugefügt, dann ließ Joe dem Funker den Text übergeben.

»Und nun wollen wir zum Essen gehen«, erklärte Joe dann. »Heute abend wollen wir nicht mehr über den geschäftlichen Teil reden. Es kann ja sowieso nichts unternommen werden, ehe morgen die Banken öffnen.«

Als sich die beiden Gefangenen umwandten, sahen sie zwei Männer in der Tür stehen, die offenbar Joes Assistenten waren.

Der eine sah düster drein und hatte einen dicken, runden Schädel, der andere war ein blonder junger Mann mit dunklen Augenbrauen, der selbstbewußt grinste.

»Sehen Sie einmal, Mr. Lawrence«, bemerkte Dan, »dort steht unser alter Freund Whitey Morgan.«

»Verdammt, Sie haben recht!« Der Millionär warf dem anderen einen kühlen Blick zu.

Joes Freunde traten aus dem Weg, damit die beiden vorbeigehen konnten.

Draußen spülte das Wasser über das Deck der »Charmian«, und sie blieben stehen, um ihren Untergang zu beobachten. Es gab eine gurgelndes Geräusch, als sie untertauchte.

»Da gehen zehntausend Dollar zum Teufel«, meinte Joe, »aber für Sie ist das ja nur eine Kleinigkeit.«

Lawrence sagte nichts.

Joe machte eine einladende Handbewegung, und der Millionär trat zuerst ein. Joe ging hinterher. Als Dan folgen wollte, schloß sich der Kreis der anderen plötzlich. Er wurde an Armen und Beinen festgehalten, und ein Arm legte sich über seinen Mund. Die Tür des Salons schloß sich, und der Schlüssel wurde umgedreht.

»Sie sollen nicht mit dem Boß und dem reichen Kerl zusammen essen!« erklärte einer der Leute.

Leise schleppten sie ihn nach dem breiten Vorderdeck vor dem Steuerhaus.

Ein anderer sagte: »Nein, der braucht heute abend nichts zu verzehren, den sollen die Fische fressen!«

Die anderen lachten.

Dan hatte nicht die geringste Möglichkeit, sich zu wehren oder zu rufen. Sie fesselten ihn mit einem Strick und steckten ein Taschentuch in den Mund.

Ein kleiner Anker wurde herbeigeschleppt, und einer der Leute sagte: »Den habe ich von der ›Charmian‹, und er ist schwer genug. Damit versenken wir ihn. Der hakt sich im Boden fest und treibt nicht fort …«

Das Ende des Taues, mit dem Dan gefesselt war, wurde an den Ring des Ankers geknotet. Dann stellten sie ihren Gefangenen auf die Füße. Der Knebel gab ihm ein unheimliches Aussehen, aber trotzdem stand Dan hochaufgerichtet und blickte auf das Meer hinaus. Seine Gedanken schienen in weiter Ferne zu weilen, als er Abschied von der Welt nahm.

»Also los, Jungens«, sagte Bull Fellows, »wir wollen ihn langsam ins Wasser lassen.«

Im selben Augenblick wurde die Tür des Salons aufgerissen, und Lawrence erschien im Eingang. Mit erstaunlicher Behendigkeit sprang er auf Dan zu, während Joe Penman dicht hinter ihm folgte.

Der Millionär stand nun an Dans Seite und rief mit erhobener Stimme: »Wenn er versenkt wird, springe ich ihm nach!«

»Ach, Unsinn, der Alte blufft nur!« rief Bull Fellows. »Schnell mit ihm über Bord!«

Einige der Leute versuchten, Lawrence von Dan wegzuziehen, aber der Millionär hatte seinen Arm so in das Tau gesteckt, daß sie ihn nicht fortziehen konnten, ohne ihm den Arm zu brechen.

»Halt!« schrie Joe.

Die Leute standen still.

»Aber Mr. Lawrence, wie kann man nur so sentimental sein«, sagte Joe spöttisch.

»Ich bin vollkommen nüchtern und klar.«

»Sie sehen doch, daß Sie uns nicht an der Ausführung unseres Plans hindern können«, entgegnete Joe düster. »Sie müssen sich eben mit dem Unvermeidlichen abfinden. Dieser Kerl ist zu scharf für uns; zweimal hat er uns schon das Spiel verdorben, und wir wollen nicht, daß das zum drittenmal geschieht. Ich habe meinen Leuten versprochen, daß er heute abend unschädlich gemacht wird.«

»Sie können tun, was Sie wollen, aber wenn er ins Wasser geht, gehe ich mit.«

»Sie sind zu alt, um den Helden spielen zu können, Mr. Lawrence«, höhnte Joe. »Das steht Ihnen nicht.«

»Es handelt sich hier nicht um Heldentaten, sondern um klare Überlegung. Nur durch diesen Mann habe ich Hoffnung, mein Leben zu retten. Wenn er also umkommt, kann ich auch ruhig ins Wasser springen.«

Diese ernsten und kühlen Worte machten großen Eindruck auf Joe. »Wie meinen Sie das?« fragte er nach einer Pause.

»Wenn Sie ein Lösegeld haben wollen, muß doch jemand nach New York fahren, um die Summe aufzubringen. Keiner von Ihnen ist dazu klug und witzig genug. Wenn Sie Dan ermorden, nehmen Sie sich selbst jede Möglichkeit.«

Joe grinste. »Glauben Sie denn, wir lassen den Kerl von Bord? Dann müssen wir tatsächlich den Verstand verloren haben!«

»Gut, werfen Sie uns doch beide über Bord, dann ist die Sache erledigt.«

»Sie können doch an Ihren ersten Sekretär einen Auftrag schicken, daß er das Geld auftreiben soll«, erwiderte Joe finster.

»Durch wen?«

»Durch einen meiner Leute.«

»Sobald der Mann in meinem Büro erscheint, würden die Leute argwöhnisch. In einer halben Stunde wäre die Geschichte heraus, und ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß es mein Todesurteil bedeutet.«

Joe zögerte; er war halb von den Worten des Millionärs überzeugt.

Mr. Lawrence machte seinen Arm frei und legte seine Hand auf Dans Schulter.

»Das ist der beste Mann, den ich zur Verfügung habe. In den letzten Wochen habe ich ihn genug erprobt. Er ist eingeweiht, daß ich ein Double habe, und er kann diesen Mann dazu benutzen, die Presse ruhig zu halten. Nur er besitzt genügend Verstand und Mut, um diese Sache durchzuführen.«

»Gut, laßt ihn an Bord«, sagte Joe zu den Leuten. »Kommen Sie mit nach hinten, Mr. Lawrence, wir wollen über die Sache weiterverhandeln.«

Joes Leute begannen zu murren.

»Der betrügt dich, Joe«, rief Bull Fellows empört. »Wenn du den Kerl am Leben läßt, geht alles schief!«

Joes Gesicht wurde dunkel vor Wut. »Halt die Klappe!« brüllte er. »Ich habe hier zu befehlen. Noch ein Wort, dann fliegst du selbst über Bord!«

Obwohl Bull außer sich war, gab er nach und biß die Zähne aufeinander.

»Binden Sie ihn sofort los«, sagte Mr. Lawrence. »Es hat keinen Zweck, ihn zu fesseln, er kann mich doch nicht allein von diesem Schiff befreien. Er weiß auch, daß seine Pflicht mir gegenüber darin besteht, das Lösegeld für mich zu beschaffen. Etwas anderes bleibt ihm doch gar nicht übrig.«

Joe schüttelte den Kopf.

»Verlangen Sie nicht zuviel von mir und meinen Leuten, Mr. Lawrence«, sagte er hart. »Das ist ein ganz gefährlicher Kerl, und wir müssen immer fürchten, daß er uns entwischt. Solange er hier an Bord ist, bleibt er gefesselt. Verstehen Sie?«

»Nehmen Sie ihm wenigstens den Knebel aus dem Mund. Wenn Sie ihn gefesselt lassen, sieht man morgen die Spuren, und ich kann ihn unmöglich in mein Büro schicken.«

»Nehmt ihm den Knebel ab«, befahl Joe. »Dann soll er zu Abend essen. Kommen Sie mit, Mr. Lawrence, wir beide werden schon einig werden.«

Aber Lawrence folgte der Aufforderung nicht, sondern wandte sich an Joes Leute: »Hören Sie auf mich! Jeder von euch kennt mich und weiß, daß ich meine, was ich sage. Sie haben mich gefangengenommen, und ich bin bereit, ein Lösegeld zu zahlen. Aber das ist viel schwerer, als Sie denken. Ich fürchte mich nicht vor Ihnen, und ich möchte Ihnen nur das eine sagen: Wenn Dan morgen früh vermißt wird, können Sie vergeblich auf das Lösegeld warten. Kommen Sie jetzt, Joe, ich bin hungrig.«

Die Leute grinsten sich an.

»Donnerwetter, das ist noch ein Kerl!« sagte einer.


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