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V.

An jenem Abend zog Dan in ein Zimmer im ersten Geschoß von Mr. Lawrences Haus. Es war ein etwas altertümlich gebautes, palaisartiges Gebäude, das einen halben Häuserblock einnahm. Es stand an der Fifth Avenue, und. die Fenster gingen auf den Park hinaus. Die Tochter, Miß Lawrence, bewohnte ein Haus von gleichem Grundriß, das daneben lag. Dan wurde dem Butler, dem Hausmeister und zwei älteren Dienstboten als »mein persönlicher Sekretär, Mr. Woburn« vorgestellt.

Dan überzeugte sich davon, daß Mr. Lawrence ziemlich sicher war, solange er sich in seinem eigenen Haus aufhielt. Der Millionär besaß große Kunstsammlungen aus allen Teilen der Welt, und sein Haus glich mehr einem Museum als einer Wohnung. Und so nachlässig und sorglos er auch in bezug auf seine eigene Person sein mochte, er hatte nichts unterlassen, um seine Sammlungen zu schützen. Das Haus war mit modernen Alarmglocken ausgestattet, und außerdem war eine Anzahl von Wachtleuten Tag und Nacht auf dem Posten, um die Kunstschätze zu behüten.

Nach dem Abendessen begab sich Dan zu Inspektor Scofields Wohnung in Bronx und vergewisserte sich unterwegs, daß man ihm nicht folge. Er übergab seinem Vorgesetzten den Drohbrief, den Miß Lawrence erhalten hatte, und er berichtete, was sich am Nachmittag ereignet hatte.

»Eine undankbare Aufgabe für die Polizei. Wenn wir tatsächlich sein Leben retten, dann muß es so sein, und kein Mensch dankt uns groß dafür. Aber wenn sie ihn erwischen, mag uns der Himmel gnädig sein!«

Er erklärte dann, daß er seine eigenen Maßnahmen treffen würde, um Lawrence zu beschützen, aber Dan sollte unabhängig davon auf eigene Faust handeln. »Das ist die größte Aufgabe, die jemals ein junger Mann in Ihren Jahren bekommen hat«, sagte er. »Hoffentlich rechtfertigen Sie das Vertrauen, das man in Sie setzt. Kommen Sie aber nicht wieder in mein Haus. Wenn die Verbrecherbande erfahren sollte, daß Sie zur Polizei gehören, sind Sie nutzlos und können nichts mehr erreichen.«

»Es ist bereits in der Umgebung von Lawrence bekannt.«

»Das war aber sehr unvorsichtig von ihm.«

»Er scheint wirklich harmlos wie ein neugeborenes Kind zu sein!«

»Also, wenn Sie sich mit mir in Verbindung setzen wollen, sprechen Sie von einer öffentlichen Telephonzelle aus. Sollten Sie etwas zu schicken haben, so lassen Sie es durch einen Boten besorgen.«

Dan erhielt von seinem Vorgesetzten die Genehmigung, seinen Freund Reed Garvan zur Unterstützung heranzuziehen. Er erklärte, daß Garvan zur selben Zeit wie er einen Kursus in Stenographie und Schreibmaschine genommen hätte. Auch sein Freund verstand sich zu kleiden und zu benehmen, so daß man ihn ruhig für einen Sekretär aus der Wall Street halten konnte.

Garvan hatte zu der Zeit ein Revier in einer vornehmen Gegend von Brooklyn, wo es nicht viel Aufregendes gab, und er hatte nicht die geringste Hoffnung, vorwärtszukommen. Als Dan das Haus des Inspektors verlassen hatte, ging er sofort nach Brooklyn, um seinem Freund die freudige Nachricht zu bringen, daß er von diesem eintönigen Leben erlöst war. Es war etwas nach Mitternacht, als er ins Haus des Millionärs zurückkehrte. Im Erdgeschoß hörte er aus dem Speisesaal die Stimmen von Lawrence und Miß Lauderdale. Er ging sofort zu Bett.

Kurz vor zehn begleitete er am nächsten Morgen Lawrence ins Büro. Sie fuhren in einer großen, schwarzen Luxus-Limousine. Lawrence hatte die böse Angewohnheit, stets einen Zylinder zu tragen, worüber Dan sich ärgerte. Auf der Fahrt schien der Millionär keine Unterhaltung zu wünschen, und Dan war klug genug, den Mund zu halten.

Der Wagen hielt vor dem Privateingang des Bankgebäudes, und Dan sah scharf nach rechts und nach links die Straße entlang. Die Hand hatte er immer am Revolver, das war ja seine Aufgabe. Aber niemand schenkte ihnen irgendwelche Aufmerksamkeit. Ein Portier in Uniform öffnete ihnen, und sie traten in eine kleine Halle, von der aus ein Lift zum zweiten Stock führte. Lawrence allein hatte den Schlüssel für die Fahrstuhlkabine.

»Benutzt sonst jemand diesen Eingang?« fragte Dan, als sie hinauffuhren.

»Nein. Er ist für mich allein reserviert. Das ist eine unumstößliche Regel.«

»Benutzen Sie diesen Eingang schon seit vielen Jahren?«

»Selbstverständlich. Seit 1900, dem Jahr, in dem das Gebäude errichtet wurde.«

»Dann muß es bekannt sein. Es wäre entschieden sicherer für Sie, durch den Haupteingang zu gehen.«

»Ach, verdammt! Ich komme und gehe durch meinen Privateingang, um den Leuten auszuweichen, die vorn im Büro warten.«

Der Fahrstuhl endete in einem leeren Raum, der neben dem Privatbüro des Millionärs lag, und dieses befand sich dem allgemeinen Büro gegenüber. Abgesehen von dem Zugang zum Privatkontor hatte dieser Vorraum noch eine andere Tür, die von innen verschlossen und verriegelt war.

»Wohin führt die Tür?« fragte Dan.

»Auf den allgemeinen Korridor.«

»Können wir den Ausgang benutzen, wenn es nötig sein sollte?«

»Selbstverständlich. Der Schlüssel liegt in meinem Schreibtisch.«

»Wird dieser Raum für irgendwelche Zwecke benutzt?«

»Nein, er ist nur als Zimmer für mein Privatbüro bestimmt.«

Lawrence hing seinen Zylinder an einen Garderobenhaken im Vorzimmer, und Dan tat das gleiche mit seinem weichen Filzhut. Als sie in das Privatbüro eintraten, wandte sich Lawrence grimmig an seinen Begleiter.

»Was wollen Sie denn nun den ganzen Tag anfangen! Sich in eine Ecke setzen und Daumen drehen?«

»Ich kann ziemlich gut stenographieren. Wollen Sie einmal einen Versuch mit mir machen?«

»Gut«, erwiderte Lawrence ironisch. »Setzen Sie sich hin und nehmen Sie den Block.«

Er begann schnell zu diktieren, ohne die geringste Pause zu machen, dabei ging er dauernd in seinem Zimmer auf und ab wie ein Löwe in seinem Käfig. Dan schwitzte Blut und Wasser, aber es gelang ihm, mit dem schnellen Tempo Schritt zu halten. Ja, er konnte sogar sein Stenogramm entziffern. Als Lawrence endlich eine Pause machte, benutzte Dan die Gelegenheit.

»Ich möchte Ihnen einen Vorschlag unterbreiten, wenn Sie einen Augenblick Zeit haben. Ich sprach gestern abend mit Inspektor Scofield darüber, und er war einverstanden.«

»Worum handelt es sich denn?« brummte der Millionär.

»Sie hätten dadurch größere persönliche Bewegungsfreiheit«, bemerkte Dan schlau. »Sie könnten gehen und kommen, wie Sie wollten.«

»Das tue ich auch sowieso.«

»Mein Vorschlag gründet sich auf die Tatsache, daß Sie niemals die Einwilligung gaben, Ihr Bild zu veröffentlichen.«

»Ja, das stimmt«, sagte Lawrence, und seine Augen leuchteten auf. »Sollten Sie jemals einen Kerl sehen, der einen Apparat hebt, um mich zu knipsen, so schlagen Sie ihm das Ding ruhig aus der Hand. Ich komme für jeden Schaden auf.«

Dan grinste. »Selbstverständlich. Ich nehme an, daß Sie hier in der Gegend eine mehr oder weniger bekannte Persönlichkeit sind, aber der breiteren Öffentlichkeit ist Ihr Bild bis jetzt unbekannt.«

»Wollen Sie jetzt endlich zur Sache kommen?«

»Ich schlage vor, daß Sie jemand anstellen, der Ihre Rolle spielt. Lassen Sie ihn in dem großen, schwarzen Wagen vorausfahren, während Sie und ich in einem kleinen, unansehnlichen Taxi folgen.«

Der Vorschlag gefiel dem Alten sehr gut, aber er wollte es nicht zugeben.

»Das ist ja gar nicht auszudenken«, entgegnete er verächtlich. »Und wo wollten Sie denn einen Mann finden, der genau so aussieht wie ich?«

»Nun, das ist meine Sache. Ich dachte an einen Schauspieler, der sie genau studiert. Wenn wir einen geeigneten Mann entdecken, lassen wir die Öffentlichkeit unter der Hand wissen, daß Sie sich jetzt photographieren lassen. Wenn nun die Leute ihn aufnehmen, wird er allgemein als Millionär Lawrence gelten. Dann ist die allgemeine Aufmerksamkeit von Ihnen abgelenkt, und Sie können sich unbelästigt bewegen.«

»Nun ja – aber zuerst müssen Sie doch einen Mann finden, der die Rolle spielt.«

»Ich erwarte um zehn Uhr dreißig einen Kameraden. Er heißt Garvan. Den lasse ich hier bei Ihnen, während ich mich auf die Suche mache.«

»Um Himmels willen, noch ein zweiter Wachthund!« sagte Lawrence enttäuscht. Trotzdem gab er telephonisch durch, daß Mr. Garvan in sein Büro gebracht werden sollte, sobald er auftauchte.

Garvan war groß, hatte eine sehnige Gestalt und verstand den Stabhochsprung vorzüglich. Er hatte ein längliches Gesicht und kluge Augen und trug den eleganten Anzug, als ob er immer so aufgetreten wäre. Der kleine, alte Diener brachte ihn herein und sah dann scharf von Reed zu Dan und wieder zurück. Er hieß Mr. Colfax, und Dan hatte bereits Inspektor Scofield ersucht, diesen Mann außerhalb des Büros beobachten zu lassen.

»Zum Donnerwetter, was soll ich denn mit diesem langbeinigen Storch anfangen?! Der sieht ja aus wie ein Theologiekandidat!« begann Lawrence in seiner charakteristischen Weise.

Reed, der von Dan schon über das Wesen des Millionärs aufgeklärt war, hörte ruhig zu, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Er weiß, was er zu tun hat«, erklärte Dan. »Er kann Ihre Diktate ebenso gut aufnehmen wie ich. Und ich kann Ihnen nur versichern, daß er auch ebenso schnell das Schießeisen ziehen kann.«

»Hm«, meinte Lawrence.

»Ich werde jetzt gehen«, fuhr Dan fort. »Wenn Sie gestatten, verlasse ich das Haus durch den Vorraum und die Tür zum Korridor. Sollte ich jemand finden, der sich als Double eignet, so bringe ich ihn auf demselben Weg ins Büro. Keiner Ihrer Angestellten darf etwas davon erfahren.«

Lawrence schob ihm den Schlüssel zu, ohne eine Bemerkung zu machen, und Dan ging davon und überließ Reed seinem Schicksal.


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