Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII. Kapitel.
Die Armen und Elenden.

Motto:

Die Armen unter den Menschen werden fröhlich sein.

Jesaias 29, 19.

In die neue Weltzeit ragten viele Ruinen der alten Welt herein, – auch viele Menschenruinen. Nicht nur jene Gezeichneten und Verfehmten, welche dem Tod verfallen waren und hinsiechten, sondern wie viele Arme und Elende, wie viele an Leib und Seele kranke Menschen von den vergangenen Tagen her waren noch da, – Leute, welche mitten unter der antichristlichen Welt nicht eingewilligt hatten in ihren Rat und Handel, aber doch auch nicht jenen auserwählten Christen beizugesellen waren.

Dieses arme Volk! wer hatte früher seiner viel gedacht? Unter den hohlen, hochtönenden Phrasen von Völkerglück und Völkerfrieden, welche im Zeitalter des Antichrists in der Luft schwirrten, war ja doch Glück und Frieden für Hunderttausende in jedem Volk von der Erde genommen. Es war damals, was das äußere Leben und den Volkswohlstand betraf, durchaus keine besonders unglückliche Zeit, aber – es war wie immer! Wer kümmerte sich persönlich viel um das arme Volk? Persönlich eigentlich auch diejenigen Parteien nicht, welche sich um den Ruhm stritten, darin die ersten zu sein. Man half sich ja von jeher gar zu gern mit Worten, – die Parteigänger mit Schlagworten, die Weltverbesserer mit Losungsworten; jene waren so treffend und diese so schön und verheißungsvoll, aber alles so wohlfeil und wie wertlos! Was konnten die Armen und Darbenden mit ihnen machen? was die Bedrängten und Sorgenvollen damit anfangen? Die Parteigänger freilich hantierten mit ihren Schlagworten wie mit Schwert und Schild, die Weltverbesserer mit ihren Losungsworten wie mit Siegesfahnen und Triumphzeichen, für die armen und nicht beachteten Leute aber waren sie doch nur Stein statt Brot, Schlange statt Fisch, oder gar ›Skorpion für ein Ei‹. Dabei mußte die ›Verbitterung der Massen‹ bei den Glücklichen immer herhalten als ein Vorwurf gegen jene und als eine Entschuldigung für gleichgiltiges Nichtsthun. Aber es fehlte diesem Vorwurf vielfach alle Einsicht in die wirklichen Verhältnisse, jedenfalls das eigentliche Erbarmen für das Volk. Das arme Volk war ja leider verhetzt, aber auch viel gehetzt, es war übel verbittert, aber auch von vielen Übeln geplagt und oft in bitterster Not. Es waren viele Verirrte unter ihnen, aber sie waren auch ›wie die Schafe, die keinen Hirten haben‹. So sah es der an, welcher Erbarmer heißt und welchem es die Menschen von jeher gar zu gern überlassen haben, sich des Volks zu erbarmen. Er aber hielt jetzt sein Wort und erfüllte seine Verheißung: ›Ich will mich meiner Herde selbst annehmen!‹

Ja die Armen und Elenden! Jetzt waren sie in der That als die ersten an der Reihe, jetzt eigentlich sie die Beachtetsten und am meisten Berücksichtigten unter allen Menschen. Es hieß nun wieder einmal: ›Den Armen wird das Evangelium gepredigt‹, und jetzt erst recht: ›Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.‹ Wie in jenen alten Zeiten der christlichen Kirche jener Bischof, als er gierig nach den Schätzen der Kirche gefragt wurde, auf die Armen und Krüppel hinwies, – das seien die Schätze der Kirche, – so war jetzt ihre Zeit gekommen und der Neuaufbau der Gesellschaft fing mit ihnen an.

Da waren denn Leute wie Kuno Brünné und Otto Simon die rechten Männer dazu. Aber auch viele andere noch, – wer Einfluß hatte, wer irgend mithelfen konnte, bemühte sich nun darum, – und so war es überall ohne Ausnahme. Man dachte nicht mehr daran, den Staat nur stolz von oben nach unten zu erbauen, sondern man war ganz erfüllt von jenen uralten christlichen Idealen der Gleichheit und Brüderlichkeit, welche bis daher so vielfach nur Worte gewesen waren. Man begriff nach all den heillosen Verwirrungen der vergangenen Zeit sehr wohl, daß hierin nun die hauptsächlichste Arbeit bestehen müsse, daß die Not eines jeden im Volk mit herzlichem Erbarmen anzusehen und mit thatkräftiger Hilfe nun anzufassen sei.

Kuno's erste Arbeit hierin war ihm allerdings selber neu, und Otto Simon vollends meinte zunächst, er habe gar die Art nicht, so unmittelbar mit dem einfachen Volk umzugehen. Es begegnete ihm auch viel scheues und mißtrauisches Wesen, aber bald zeigte sich doch, daß dies mehr eine Art Beschämung über so manches unleugbar Beschämende sei, eine gewisse Befangenheit gegenüber diesen Dingen, diesen völlig neuen Verhältnissen und diesen völlig ungewohnten Annäherungsversuchen an das Volk. Übrigens hatte Kuno wirklich auch eine geschicktere Art als Otto, dessen Beruf ja, wie wir früher schon mehrfach zu erwähnen hatten, auf einer anderen Seite des öffentlichen Lebens lag, – während Kuno der Natur der Sache nach von jeher dem Volk näher stand. Unleugbar freilich waren Männer, welche verheiratet waren, noch geschickter dafür, diese Art von Arbeit unter dem Volk zu thun. Denn auf die Frauen und die Mädchen fiel bei weitem der größere Teil solcher Pflichten, und wir wollen es nur offen sagen: bei einzelnen Familien war es das Beste, daß man sie willig machte, ihre Kinder auf Zeit geradezu herzugeben für eine sorgsamere Erziehung. Doch war man hierin verständig und vorsichtig schon um der Eltern willen. Hatte es ja doch nie eine Zeit gegeben, wo der eigene engere Familienverband als die allererste und immer wichtigste Grundlage eines gesunden Volksbestands höher gewertet und heiliger geachtet war, als eben jetzt in der neu angebrochenen Weltzeit. Man hatte ohnedem genug zu thun mit den vielen Waisen aus den letzten Schreckenstagen, welche man doch alle nicht mehr wie früher etwa in ›Anstalten‹ zusammenbringen, sondern immer in Familien untergebracht wissen wollte, wo man sie einer wahrhaft väterlichen und mütterlichen Treue übergeben wußte. Aber die allgemeine Ergriffenheit half mächtig mit, die Zustände von Grund aus zu erneuern bei Alt und Jung, und es ging an vielen Orten auffallend schnell vorwärts.

Das gedrückte Volk fühlte sich förmlich glücklich, in die freundlich führende Freundschaft edler Familien aufgenommen zu sein und auch rings um sich zu sehen, wie hier eine Familie und dort eine Familie sozusagen ihre freigewählten und freigefundenen Patrone an irgend einer andern edlen Familie hatten, welche ihnen in wirklicher Freundschaft für alles sorgte, was für ihr und ihrer Kinder wahres Gedeihen und wirkliches Emporkommen nötig und nützlich war. Das Volk hatte das in einem Maße und in einer Weise zu genießen, welche man früher gar nicht für möglich gehalten hätte, und umgekehrt schuf diese Beschäftigung allen jenen hilfreichen Familien eine solche Fülle von Herzensfreude und von ganz neuen Idealen, daß sie sich selber überaus glücklich fühlten in einem solchen Leben und Wirken für andere und in den stetig wachsenden Hoffnungen für das ganze zukünftige Menschengeschlecht. Man lernte einfache Sitten und schlichte Lebensformen wieder viel höher achten, als allen Prunk des früheren eitlen, stolzen und innerlich oft so hohlen Wesens; auch erkannte man jetzt wieder besser den treuen und guten Kern des schlichten Volks, es überbrückten sich die thörichten Schranken der alten Standesunterschiede in überraschender Weise, während dagegen die Achtung vor geistiger Autorität jeder Art ganz naturgemäß nur um so größer wurde im Zusammenhang mit dem neu aufgebauten Ideal eines glücklichen Familienlebens. Natürlich auch! je heiliger und höher die Familiengemeinschaft geachtet ist, desto heiliger wird auch jede andere wirkliche Autorität außerhalb wie innerhalb der eigenen Familie wert gehalten.

Durchaus nicht verschweigen wollen wir, daß in der ersten Zeit gar manches zu schlichten war. Armut ist von jeher eine Haderkatze gewesen und der Kampf eines ärmlichen Lebens, überhaupt aber der Kampf ums Dasein, war zu allen Zeiten immer auch viel Kampf ums Mein und Dein, überhaupt viel Streit und Zank. Es wurde aber kein Gericht mehr angerufen, es gab nur noch freiwillige Schiedsgerichte. Niemand wollte mehr formal juristische Entscheidungen, und keinem Gewissen hätten sie mehr genügt. Schlichte Leute mit warmem, treuem Herzen und Männer des praktischen Lebens wurden angerufen. Nicht Satzungen und Gesetze sollten das Urteil bestimmen, sondern was recht und billig ist, sollte einzig nur gelten. Solche Schiedsgerichte waren das allgemeine Begehren und wurden die höchste Autorität. Anfangs vollauf beschäftigt, wuchsen sie an Erfahrung und Bewährung, wurden aber bald zugleich immer seltener mehr nötig und immer rarer begehrt. Es ging auf diesem Gebiet wie auf vielen anderen: der Beamtungen wurden immer weniger und doch gliederte sich das Leben nur immer ordnungsmäßiger trotz aller seiner Mannigfaltigkeit. Die Gerechtigkeit erhöht ein Volk und Wahrheit und Treue sind die sicherste Grundlage seiner Macht. Die Liebe aber, die Liebe allein ist das vollkommenste Band in der Gemeinschaft der Menschen und der Völker. Sie war die Kraft des Erlösers, sie ist das Wesen der Erlösung, – sie ist auch die stärkste Macht in der Welt und die beste Kraft unter den Menschen; das eigentlich Ewige in allem Lebenswechsel, das wahrhaft Göttliche in der Menschenwelt ist sie! –

Nur noch etwas einzelnes ist zu erwähnen, was mitwirkte, um bessere Zustände mächtig zu fördern. Als nämlich, – um hier ein wenig vorzugreifen, – auf Grund reicher Jahre bald eine rege Bauthätigkeit begann, welche das beste Zeichen des allgemeinen Aufschwungs war, da wurden oft die einfachsten Familien in die bisherigen Wohnungen ihrer Patrone eingelassen, welche bei den veränderten Lebensverhältnissen gern die neugebauten Parkwohnungen bezogen, wogegen nicht etwa ihre bisherigen Wohnungen, sondern natürlich die alten dürftigen Häuser der Armen zuallererst abgebrochen und geradezu dem Erdboden gleichgemacht wurden, um sie in glücklicheren Verhältnissen und an gesünderen Plätzen ganz neu aufzubauen, nicht mehr als ›Armenwohnungen‹, auch nicht als sogenannte ›Arbeiterwohnungen‹, sondern, bei aller Anbequemung an jeweilige Lebens- und Berufsverhältnisse, doch zugleich ebenbürtig mit den Wohnungen für jedermann im Volk von oben bis unten, – wenn man bei dem allgemeinen Fortschritt überhaupt sich noch so ausdrücken konnte. Oder haben wir nicht gesehen, wie die Leute in dem einfachen Dorf dort unten so glücklich leben? und wie die Städter so einig mit ihnen sind in einfachen Sitten und herzerquicklicher Freundschaft? So aber entwickelte sich das Leben bald überall, in Stadt und Land, und so wurde es bei allen Völkern auf Erden nur immer mehr.

Das war denn der Anfang der neuen Weltzeit, – eine ganz eigenartige Periode allgemeinster Volkserziehung, so allgemein, so eigenartig und so gründlich, wie es nie je gewesen war, auf der weiten Welt nirgends. Galt es doch einen vollständigen Neuaufbau der ganzen menschlichen Gesellschaft aus den Ruinen der alten Weltzeit heraus.

Wie man aber wohl sieht, war es jetzt nirgends mehr ein nur notdürftiges ›Barmherzigkeit üben‹ wie in alten Zeiten. Das schöne, früher vielgepriesene Wort Barmherzigkeit birgt ja doch eigentlich ebensoviel Schmach und Schande für die Menschheit in sich, als es andererseits in den vergangenen Jahrhunderten ja freilich heilige Pflicht und äußerste Notwendigkeit war, wenigstens solche ›Barmherzigkeit zu üben‹. Welch eine Schmach war es in der That, daß unter Menschen, auch in den besten Kulturverhältnissen, ja unter Christen und bei ›christlichen Völkern‹, eine solche Fülle und Überfülle von ›Barmherzigkeitsübungen‹ nötig war, und doch nur immer mehr Unzulänglichkeit und dazu noch oft ein vollständiger Mangel aller wirklichen Barmherzigkeit zu Tage trat, wie die vergangenen Jahrhunderte sattsam ausweisen! Nein! jetzt war es heilige Pflicht und erste Notwendigkeit, vor allem andern diesem menschenunwürdigen Dasein bei Hunderttausenden ein für allemal ein Ende zu machen, und zwar nun nicht mehr nur durch Gaben und Barmherzigkeitsspenden, durch Nothilfe und notdürftige Hilfe, durch Unterstützungen und Unterhaltungen, auch nicht mehr nur durch ›Arbeitgeben‹ oder durch allerlei Hilfsmittel zur Weiterbildung, sondern durch eine ganz allgemeine volksfreundschaftliche Erziehung im Sinn einer wirklichen Erhebung in bessere oder ganz anders geartete Lebensverhältnisse hinein! Der allerwärts wirkende neue Geist, von welchem die Volksseele in ihrer tiefsten Tiefe erfaßt war, und die allgemeine innere Ergriffenheit ließen die Früchte dieser Arbeit viel rascher reifen, als das je früher möglich gewesen wäre. Reinlichkeit und Sittigkeit, Wohlanständigkeit und erhöhtes Ehrgefühl traten sofort zu Tag. Lernbegier und fleißige Ausdauer, Geschicklichkeit und Tüchtigkeit schulten und übten die erwachten Kräfte auch bei früher versunkenen Naturen oder bei scheinbar verkommenen Leuten. So hob sich die ganze Generation in einem einzigen Jahrzehnt schon ganz erheblich und ließ wachsende Fortschritte hoffen für die kommenden Zeiten. Das war ein schönerer Erfolg als alle sonst gerühmten Kulturfortschritte. Den Schlüssel zum Herzen des Volkes gefunden und eine allgemeine sittlich-soziale Erhebung bewirkt zu haben, war ein größeres Glück für die Menschheit als alle Reichtümer der Welt; – in der That ein reicherer Gewinn für jedes einzelne Volk, als etwa das, alle reichste Ausbeute durch Industrie und Handel heimzubringen und daneben ganze Generationen in's Elend gebannt und im Schmutz der Verkommenheit mit sich zu schleppen durch Jahrhunderte hindurch, wie das früher gewesen war.


 << zurück weiter >>