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III. Buch:
Sturm und Gewitter.

Motto:

Nun schau! Die nahe Erntezeit
Verkünden Sturm und Blitz und Wetter!
Und das bedrängte Häuflein schreit:
›Wo ist mein Gott? mein Hort? mein Retter?!‹ –
Geduld! Die Rettung ist nicht weit,
Doch alles Ding hat seine Zeit.

I. Kapitel.
Zwischen Thür und Angel.

Motto:

Geheimnisvolles Leben! –
Gar zarte Fäden schweben
Und weben ein starkes Band,
Zu binden mit fester Hand
Der Seelen geheimstes Leben, –
Zu binden und zu lösen
Die Guten und die Bösen.

Rahel hatte Besuch zu machen bei ihrer Nachbarin und Freundin, Fräulein Beatrice Vilette, der einzigen Tochter einer fast immer kranken Frau. Schon seit Jahren war die Mutter leidend und lag viel zu Bett. Eine einfache Beamtenwitwe ohne viel Gehalt lebte sie mit ihrer Tochter ein stilles, scheinbar einsames Leben. Aber herzliche Harmonie verband Mutter und Tochter. Die Mutter, eine zarte, feine Frau, war von Leiden nicht nur gebeugt, sondern auch gesegnet; ein feines Verständnis für alle höheren Fragen gab ihr etwas Regsames in der Unterhaltung. Sie hatte ja Zeit, benützte sie aber auch, eine aufgeworfene Frage wie ein wichtiges Problem, ohne Grübelei, aber sinnig, in ihrer Seele durchzuarbeiten. Sie wollte nicht naschen an Neuigkeiten und landläufigen Schwätzereien, sondern essen und trinken, d. h. erquicken und stärken wollte sie sich an geistigen Realitäten, seien sie nun klein oder groß. So war es wohl ein sehr eingezogenes Leben, das Mutter und Tochter miteinander führten; aber wenn das Leben ihnen wenig bot, so hatten sie dafür vollen Ersatz nicht nur an der schönen Harmonie, welche sie beide verband, sondern auch an dem Reichtum, welchen Zufriedenheit und Genügsamkeit auch aus den einfachsten Verhältnissen herauszuzaubern imstande sind. Da war kein mürrisches Wesen, welches den Tag trübe machte, sondern ein fast froher Ton, der das Krankenstüblein schmückte, eine feine Herzlichkeit, welche Mutter und Tochter miteinander beglückte. Mit der erfinderischen Kunst der Liebe, der Freundlichkeit und Fröhlichkeit, wußten sie beide aus allem immer etwas zu machen zur Freude der andern, – gerade wie es Frauen giebt, die aus dem letzten Stückchen, aus dem kleinsten Restchen Zeug immer noch etwas Nettes zusammenzusetzen wissen; reicht es nicht mehr für ein Erwachsenes, so reicht es doch noch für ein Kind; und wenn es nur noch für eine Puppe reicht, so macht es den Kleinen um so größere Freude und dadurch auch wieder den Alten.

Was hatte aber in diesem Haus Rahel, die Jüdin, zu thun? – Das war eine von den schönsten Freundschaften, welche bestehen können! Sonst verkehrte auch Rahel nicht viel mit Christen, und die Nachbarschaft allein hätte es ja nicht zustande gebracht, daß die beiden jungen Mädchen so viel mit einander zusammenkamen. Was sie verband, war auch nicht etwa alte Schulfreundschaft, sondern die große Liebe und Teilnahme, welche Mutter und Tochter in herzlichem Mitleid der armen, halb blinden Mirjam bezeugten, schon als diese nach schwerer Krankheit vor Jahren nicht mehr recht gesund werden wollte, und besonders, als sie, äußerlich wieder erstarkend, halb blind zu werden begann. Merkwürdig! sie schienen etwas zu besitzen, was sie im eigenen Leid besser tröstete, als Mirjam je sich zu trösten vermocht hätte. Man hatte ein paarmal Kathi in Teilnahme gefragt, wie es wohl Mirjam gehe. Dann hatte man einigemal durchs Fenster gegrüßt und teilnehmende Worte gewechselt. Einmal hatte man der Amme Ruth ein Mittelchen gesagt, das freilich wenig oder nichts half, aber doch ein Beweis von wirklich herzlichem Mitleid war; – und so hatte sich eine Freundschaft entsponnen, welche Mirjam ihrerseits ernstlicher fortsetzte, nachdem sie einmal herübergekommen war und sich bedankt hatte. Zwar klagte und weinte sie damals auch, dann wurde sie aber auch so herzlich getröstet und so liebreich verabschiedet, daß das liebe Mädchen in ihren einsamen Stunden immer wieder gerne herüberkam, um sich bald mit Beatrice zu unterhalten, bald ans Bett der kranken Mutter zu setzen und ihr zuzuhören.

Wie es nun aber bei kräftigen Naturen zu gehen pflegt, – bald hatte Rahel den Löwenanteil an der schönen Freundschaft zwischen Jüdin und Christin. Fräulein Beatrice Vilette hatte ihre herzliche Freude daran, als Rahel dankend herüber kam, – und ihre Mutter desgleichen, deren Geist sich ohnedem mit Fragen beschäftigte, welche das Volk Israel selber noch viel mehr wichtig nehmen sollte. Bald war es soweit, daß Mirjam mehr zu den Füßen der kranken Frau Vilette saß und Rahel mit Beatrice sich ganz besonders herzlich befreundete. –

So kam denn Rahel auch in den ersten Wochen nach ihrer Heimkunft, nachdem sie schon am zweiten Tag dort kurzen Besuch gemacht hatte, einmal auf einige Stunden herüber zu Beatrice und Frau Vilette, und erzählte in ihrer Art viel, viel, – es war eigentlich alles bunt durcheinander, und doch war alles ein großes, reiches Bild, welches diesmal besonders Frau Vilette höchlich interessierte, aber auch Beatrice sehr erfreute. Nicht zum wenigsten aber war sie herübergekommen, um ihnen beiden heute nochmals besonders innig zu danken für die viele reiche Liebe und Herzlichkeit, welche sie beide während Rahels langer Abwesenheit der sich so oft einsam fühlenden Mirjam hatten zu teil werden lassen.

Rahel hatte nun fast schon zu lange verweilt, da klopfte es und herein kam – Herr Arthur, mit höfisch ergebenem Gesicht, ›um seine Schwester abzuholen.‹ Sobald er aber im Zimmer war, da wechselte mit einemmal der hochmütige Weltmannsstolz so unangenehm mit dem anfänglichen Bemühen, artig zu sein, – die Eitelkeit, recht gewandt Artigkeiten zu sagen, trat so unangenehm in Gegensatz zu der Pflicht der Zurückhaltung eines in diesen Räumen völlig Fremden, daß es nicht nur Beatrice verwunderlich, sondern auch Rahel höchst peinlich war. Hier war für ihn doch gar nie Verkehr gewesen! Die Freundschaft der Mädchen war etwas Besonderes in jeder Beziehung, aber nach dieser Seite hin deshalb auch ganz besonders zu respektieren. Nie hatte Rahel einen peinlicheren Eindruck von ihres Bruders Benehmen gehabt, als in diesem Moment; sie brach denn bald auf, um mit ihrem Bruder zu gehen, aber sie blieb unter der Thüre noch einmal stehen, wie um noch einiges Herzliche zu sagen, etwa um sich zu vergewissern, daß es nicht allzu unangenehm berührt habe. Schon schien sie von Beatrice diesen Eindruck hinnehmen zu dürfen, da klopfte es wieder und herein trat – Herr Kuno Brünné, der häufiger gesehene Freund des Hauses.

Eine gegenseitige Vorstellung unter der Thüre, wenn sie aus irgend einem Grund sein muß oder aus einer Art Verlegenheit jedenfalls nun einmal in Szene gesetzt wird, während doch einer der beiden Teile Eile hat, – eine solche Vorstellung zwischen Thüre und Angel ist für alle Beteiligten so fatal als nur möglich, weil noch einmal stehen bleiben unangenehm, schnell gehen aber mißverständlich ist. Beatrice, welcher es in feiner Sitte sonst nie fehlte, wurde wieder etwas verwirrt und machte es ein wenig ungeschickt.

Herr Kuno Brünné lächelte nachher ein wenig und machte einen Spaß, und das hätte ja nichts ausgemacht; aber Beatrice war nun einmal in Verlegenheit und das machte die Sache noch sonderbarer. Arthur empfand auch etwas beim Weggehen, als er rücklings bücklings durch die Thüre schlüpfte, und schoß einen unguten Blick auf Herrn Kuno Brünné ab, welchen dieser auch auffing und parierte.

Weiter war es nichts, – gar nichts. Aber es blieb etwas sitzen und Beatrice war ein wenig aus dem Konzept. Wir wollen jetzt gewiß keine Liebesgeschichte anfangen, sondern nur gleich sagen, daß eine solche oder vielmehr ihr Anfang schon etwas weiter zurück lag. Es war zwar auch jetzt noch nicht offen ausgesprochen vor der Welt, aber Herr Kuno Brünné hatte Zutritt im Haus und war schon damals der stille Bräutigam von Fräulein Beatrice.

Heute war er nach längerer Abwesenheit gekommen. Er hatte, was ihm selten vorkam, für sein Geschäft kurz nach jenen Ereignissen, die sich für uns jüngst mit seinem Namen verknüpften, eine mehrwöchentliche Reise machen müssen; es paßte zwar nicht recht zu seiner Aufseher- und Mentorrolle, die ihm der allweise Herr Pilsen über seinen Bruder Leon und durch diesen über Matthi angewiesen hatte, – aber als damals alles wieder still im gewohnten Geleise ging, da machte sich Herr Pilsen, weil es gerade im Geschäft paßte, nichts daraus, ein wenig inkonsequent zu sein und Herrn Kuno Brünné einen kleinen Reiseauftrag mit wichtigeren Angelegenheiten zu geben. Nun war es sein erster Tag, da er zurückgekommen war, und welcher Bräutigam ist in solchem Fall, wenn alles so mißverständlich wie möglich sich zusammenschiebt, nicht imstande, auf ein paar Minuten in eine kleine Schwachheit zu verfallen und so etwas wie eifersüchtige Verwunderung zu verspüren!

Weiter war es gar nichts; aber als Beatrice das merkte oder vielmehr spürte, da stieg die Verlegenheit über die vorhin erzählte Szene, so unbefangen sie auch aufzufassen war, für sie zu einem solchen Grad von Verwirrung, daß es jetzt wirklich mißverständlich war.

Kuno hatte von der Freundschaft Beatricens mit Rahel bisher nie viel Notiz genommen. Er hatte ja das Herz, er die Abendstunden, – da war es nicht so wichtig, wer den Tag über aus- und einging. Doch je und je war sie ihm schon verwunderlich vorgekommen, diese Freundschaft. Jetzt aber gar mit dem Herrn Bruder der Fräulein Rahel, diesem reichen und vornehm sein wollenden Herrn Arthur Levi, Bankiers Sohn und selbst Bankier, – das war doch ein wenig sonderbar! Und dann diese offenbare Verlegenheitsempfindung, welche Fräulein Beatrice selbst zeigte, – das war höchst sonderbar! Es wurde – vielleicht gerade deswegen, – jetzt Weiteres nicht viel gesprochen, es störte auch den Abend nicht weiter, aber solche Stimmungen und Empfindungen wirken ganz eigentümlich, – sie wirken nach, – ähnlich wie wenn man sich selber z. B. unter dem Tisch recht ungeschickt und schmerzhaft an den Fuß stößt, – über einem herausragenden Globen etwa, – und man will das nun nicht sagen, um nicht andere zur Entschuldigung darüber zu nötigen, daß sie den Übelstand nicht vorher weggeräumt haben; man kämpft deshalb den Schmerz wohl hinunter, aber eine recht heftige Erschütterung hat man doch erlitten. –

Von dem Tage an begegneten sich Arthur und Kuno öfters in den Straßen, auf regelmäßigen Wegen zwischen 12 und ½1 Uhr. So oft sie sich begegneten, trafen sich auch ihre Blicke, und zwar weniger unbefangen, als unbefangen sein wollend. Anfangs nämlich war es bei beiden ein Bemühen, gleichgiltig zu erscheinen; jene Vorstellung zwischen Thüre und Angel wurde beiderseits wie gar nicht geschehen behandelt, indem man sich gar nicht grüßte. Bald aber waren ihre Augen bei jeder Begegnung in einer Art Kriegsbereitschaft gegen einander; Arthur blickte absichtlich kühl, Kuno beflissen geringschätzig, schließlich jener herausfordernd, dieser mißächtlich. Mehr war es bei beiden für jetzt nicht; aber es ist ganz erstaunlich, wie viel bei uns Menschen erste Eindrücke und Grundstimmungen für die Beurteilung anderer oft ausmachen. So hatte auch das, nach einer anderen Richtung hin, seine ganz bestimmten Folgen.

Während sie beide zu einander ja keinerlei Beziehungen hatten, interessierte sich doch Rahel von jetzt an unwillkürlich mehr für Beatricens Bräutigam als bisher, desgleichen Kuno mehr für diese merkwürdige Freundin seiner Beatrice; das Verhältnis oder vielmehr stumme Mißverhältnis zwischen Herrn Arthur und Herrn Kuno brachte so ganz unwillkürlich ein eher entgegengesetztes Verhältnis zwischen Fräulein Rahel und Herrn Kuno zustande. Das Schönste und Beste von allem aber war, daß die Freundschaft zwischen Beatrice und Rahel bald nur um so herzlicher und inniger wurde. Während Fräulein Beatrice Herrn Arthur wohl durchschaute, stieg bei ihr Rahel nur um so mehr im Wert, ja sie fühlte die Pflicht, diese das recht spüren zu lassen, und Rahel wiederum brachte Fräulein Beatrice den Dank dafür in doppelt warmer Freundschaft dar, – ihnen beiden zum Gewinn. –

An jenem Abend seines ersten Besuchs im Haus der Frau Vilette nun erzählte Herr Kuno seiner Braut nicht allein von seiner Reise, denn das war ja der Hauptsache nach eine rein geschäftliche Reise gewesen, sondern es drängte ihn, ihr auch etwas über seinen Bruder Leon zu sagen. Er hatte öfters schon mit ihr davon geredet, wie sehr er bedaure, seinen lieben Bruder Leon in einer Richtung zu wissen, welche viel Mißliches für ihn bringen könne. Heute, sagte er nun, halte er es für seine Pflicht, da dies vor seiner Abreise nicht mehr möglich gewesen sei, ihr zu sagen, daß er seinem Bruder jüngst denn doch tiefer ins Herz gesehen habe als bisher, und ihn, wenn er auch seine Anschauungen nicht teilen könne, doch im innersten Herzen liebe und bedaure über den schweren Weg, den er habe, und über der Mißkennung, welcher er und ›seine Partei,‹ diese ›Christen,‹ überall begegnen.

Beatrice in ihrem feinen Sinn und weichen, guten Herzen war sehr empfänglich für einen solchen Gedankengang. Fremd waren ihr ›diese Christen‹ damals eigentlich selber auch, aber mitleidig war sie ja immer und ein religiöses Gemüt hatte sie von jeher. Wenn sie nun gar über den eigenen Bruder ihres Kuno hören mußte, wie er sich bedrängt fühle, so gönnte sie ihm ihr vollstes Mitleid. Näher kannte sie ihn ja nicht. Da es sich noch um keine öffentliche Verlobung handelte und er ein einfacher Arbeiter war, während Herr Kuno eine gute Buchhalterstelle hatte und damit in gleicher sozialer Stellung mit ihr war, so hatte sie ihm bis jetzt noch nicht näher treten können. Aber von dem an frug sie öfter nach ihm als bisher, und unwillkürlich kamen die beiden, Beatrice und Kuno, mit einander auch auf die Christenfrage zu sprechen, die bald ganz neu in aller Mund kommen sollte. Denn vorderhand war auch das alles noch sozusagen ›zwischen Thür und Angel.‹


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