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X. Kapitel.
Der Tod des Patriarchen.

Motto:

Jerusalem! du hochgebaute Stadt!
Wollt' Gott, ich wär in dir!
Mein sehnlich Herz so groß Verlangen hat
Und ist nicht mehr bei mir.
Weit über Berg und Thale,
Weit über blaches Feld
Schwingt es sich über alle
Und eilt aus dieser Welt.

Meyfarth.

Die Winterstürme meldeten sich schon mannigfach an, und Ruben und Rahel hatten wiederholt davon gesagt, daß sie nun schon viel zu lange geblieben. Aber die Freunde im Parkhaus sowohl als in der Stadt suchten sie immer wieder zu bewegen, noch länger zu bleiben, und am letzten Sonntag, am heiligen Fest, hatten sie sich glücklich geschätzt, noch einmal in dem schönen Kirchlein der Dorfgemeinde an der gemeinsamen Andacht teilnehmen zu können.

Drei Tage nach dem Festtag, am Mittwoch gegen Abend, sprach man wieder vom nahen Abschied und zugleich vom Wiedersehen in Jerusalem, wohin die beiden morgenländischen Freunde aufs innigste und herzlichste einluden, bis sie denn auch ein bestimmtes Versprechen erhalten hatten. Es war wieder ein auffallend milder Tag gewesen, sogar die Fenster waren geöffnet. Auf einmal schlugen unten im Thal die Glocken an; war das von der Stadt her oder vom Dorf? Jetzt wurde es deutlich, es kam vom Dorf, – was war es wohl? Offenbar ein besonderes Glockenzeichen, fünf, zehn, fünfzehn Schläge, dann wieder eine Pause, darauf einige leise Schläge, ganz langsam und unterbrochen, dann lauter und heller, wieder fünf, zehn, fünfzehn, und schließlich ein Läuten aller Glocken, wie an einem Sonntag, dann war alles stille.

»Ich weiß wohl, was das zu bedeuten hat,« sagte jetzt Gertrud, »gewiß ist der alte Matthi gestorben, der noch am letzten Sonntag so beweglich geredet hat. Vorgestern hieß es, seine Kraft verfalle zusehends, und gestern hörte ich dasselbe wieder. Gott schenke ihm ein seliges Erwachen!«

»Er ist der ältesten einer aus der alten Zeit, ein treuer Mann, ein bewährter Mann,« sagte Otto.

»Gott schenke ihm den ewigen Frieden, – wer so stirbt, der stirbt wohl!« sprach leise Rahel mit Thränen in den Augen; »ich habe ihn nie gekannt, aber was und wie er am Sonntag den Kindern von ihrem Hosianna sprach, das ist mir tief zu Herzen gegangen. Nun wird er auch sein Hosianna singen.«

»Müde war er schon lange, schon seit Jahresfrist alt und lebenssatt,« antwortete Otto, »hundert und sechs Jahre sind ja auch eine schöne Zeit; seine Gattin ist auch schon einundneunzig Jahre alt; die beiden haben etwas miteinander erlebt! Gott segne die nun einsame Witwe.«

»Eigentlich einsam ist sie gottlob! nicht. Ihre Enkel werden ihr eine starke Stütze sein und ihr gewiß ein friedliches Alter bereiten. Aber es wird ein tiefer Riß in ihrem Leben sein, der heutige Tag!« sagte Gertrud. –

Ja, es war ein tiefer Riß! Der alte Matthi war schon sechsundsiebenzig Jahre alt gewesen, als das zwanzigste Jahrhundert zu Ende ging, schon dazumal ein alter Mann, wiewohl noch rüstig. Und er hatte etwas erlebt!

Jetzt lebte ja nur noch eine Tochter, nun selbst schon eine Frau von sechzig Jahren; drei Söhne und zwei Töchter hatte er gehabt, aber die ernste Sichtung jener aufgeregten Zeit um das Jahr 2000 hatte auch seine eigene Familie betroffen. Die scharfe Scheidung war mitten durch sie hindurchgegangen. Er selbst war jederzeit ein braver, fleißiger Mann gewesen, seine Frau in derselben Gesinnung mit ihm verbunden. Freilich den gewichtigen Entscheidungsfragen jener antichristlichen Zeit waren sie doch beide aus dem Wege geblieben; jedes glaubte in einem arbeitsamen, berufstreuen Leben das Rechte getroffen zu haben. Einer der drei Söhne dagegen, der jüngste, wurde aufs tiefste ergriffen von den gewaltigen Bewegungen und Erschütterungen jener Zeit. Der Vater sah es nicht gerne, daß er ›Partei nehme‹ und auch noch gar selber sich denen anschließe, welche der allgemeinen Anschauung damaliger Zeit stille trotzten und den aufgeregten Strömungen der öffentlichen Meinung in weltflüchtiger Art den Rücken kehrten, indem sie andere, freilich ganz andere Überzeugungen im Herzen trugen und unter den Menschen bekannten, als die große Menge jener Zeit es wollte.

Da gab es viel Feindschaft von außen und in der Familie viel Verdruß. Die zwei älteren Söhne, von der damaligen Zeitströmung ganz hingenommen und den bei der Majorität beliebten Windrichtungen blindlings folgend, erbitterten sich immer mehr gegen den Bruder, den stillen Sonderling, den eigensinnigen Frömmler, wie sie ihn nannten. Es gab manches harte Wort; Bruderkrieg ist noch immer der bitterste Krieg gewesen. Der arme, vielverspottete und in seiner Glaubensüberzeugung schließlich auch bedrängte und fast geächtete Bruder teilte das Los mit andern; er wußte sich getrieben durch das Wort dessen, der gesagt hat: »Wer Vater und Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert!« Er zog, wie aus der eigenen Familie verstoßen, von dannen, obdachlos, und – ward nicht mehr gesehen.

Den Eltern aber, gerechten Leuten, welches freilich die besonderen Wege dieses Sohnes damals nicht recht verstehen konnten, war sein Abschied doch tief schmerzlich, umsomehr als sie die gewaltthätige und rauhe Weise seiner zwei Brüder nicht billigen konnten. Diese selbst riß das allgemeine Verderben immer mehr abwärts; was sie beide schließlich für ein jähes Ende fanden, das hat dann die Mutter grau und den Vater lange Zeit zu einem einsamen, tieftrauernden Mann gemacht. Das bitterste Leid aber bereitete ihnen hierbei eigentlich die durchaus eitle Natur der älteren Tochter, welche, oberflächlichen Sinnes und ohne tieferes Gemüt, den Spott der beiden Brüder womöglich noch überbot; mit ihren spitzen Reden und ihrer herzlosen Unfreundlichkeit trug sie nicht zum wenigsten die eigentliche Schuld daran, daß es den ernsten, frommen Bruder schließlich aus dem Hause trieb. »Des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein,« hieß es für ihn. Als sie dann, kurz verheiratet, eines schnellen Todes starb, da hatten die einst mit ihren fünf kleinen Kindern so glücklichen Eltern ein vertrübtes Leben und nur noch die einzige, jüngere Tochter bei sich. Diese, ganz in der Art der Eltern aufgewachsen, liebte ein arbeitsames Ordnungsleben und ging auch so mitten durch. Allen, dreien aber war es weh ums Herz, seit der fromme Bruder, fast verstoßen, jedenfalls verdrängt, von ihnen geschieden war.

Doch seitdem standen sie selber allerdings fast besser zur guten Sache, wenn man so sagen darf, als vorher. Wo nämlich jetzt einer von den bedrängten Christen der damaligen Zeit vorüberging und an ihre Thüre klopfte, erwiesen sie ihm Barmherzigkeit um des eigenen Sohnes, um des eigenen Bruders willen, und es war wohl zu spüren, daß sie, obwohl selbst noch ohne bestimmtere Stellungnahme, doch nicht mehr ferne waren vom Reiche Gottes. Und so waren sie denn leidgebeugt und unter dem Druck des eigenen Familienkummers, aber voll Barmherzigkeit gegen alle bedrängten Christen, schließlich auch mit unter den »Gesegneten des Herrn«, welche an jenem großen Tag gewürdigt wurden, am Leben zu bleiben und zu ererben das Friedensreich, welches der Allmächtige schon durch Jahrhunderte hindurch vorbereitet hatte für diese letzten Tage der Menschheit.

Und nun war er, der hochbetagte, 106 Jahre alte Greis, heute zu seiner Ruhe eingegangen. Er war in der ganzen Gegend bekannt als einer der Patriarchen aus der schrecklichen Zeit – schon um deswillen hochgeehrt, aber auch ausgereift in der Schule des Lebens und ausgerüstet mit einem reichen Maß von innerer Erfahrung. Die Führung der Geschäfte der Gemeinde hatte er von Anfang an bescheiden abgelehnt, seine Begabung lag auf einer andern Seite, sein Ansehen aber war unbestritten. Mit Recht galt er besonders als einer der Träger göttlicher und menschlicher Auktorität, sein Rat galt immer viel, nicht zum wenigsten bei der Jugend des neuen Geschlechts. Die Alten überhaupt zu ehren, besonders aber die Patriarchen der alten Weltzeit hochzuhalten, war ja ohnedem die Ehre und der Segen dieser Zeit geworden, und bei ihm spürte man in der That eine abgeklärte Lebensreife und eine Gemütsfrische, zugleich eine geweihte Menschenliebe im Bunde mit einer Gottinnigkeit, welche gleichsehr anziehen, wie Ehrfurcht gebieten mußte. Wie mancher junge Mann saß ihm oft wie ein Kind zu Füßen, wenn innere Kämpfe ihn in die Stille führten. Niemand wußte so ruhig und so siegesstark die edelsten Ideale, zu denen er sich selbst durchgerungen, in die Seele anderer überzutragen, als er gerade. Es geschah das eigentlich weniger durch Worte, als durch das Gewicht seiner eigenen schlichten und doch so geistesmächtigen Persönlichkeit.

So war es denn kein Wunder, daß jedermann jetzt von seinem Ende sprach und alle sich rüsteten, diesem Mann zu seiner letzten Ruhe das Geleit zu geben.

Er war so friedlich gestorben! Die Nacht zuvor hatte er sich noch fast gesund zur Ruhe gelegt. Am Morgen sagte er beim Erwachen zu seiner Gattin: »Mir hat ganz wundersam geträumt. Ich stand auf einem hohen Berge; hinter mir lag ein weiter Weg, der bergauf, bergab geführt hatte, vor mir aber das Meer, und ich schaute darauf hin. Da erhob sich ein starker Wind und dunkle Wolken türmten sich übereinander; bald heulte der Sturm und ungestüm erhoben sich die Wellen. Da hörte ich hinter mir eine mächtige Stimme, welche alles Getöse bei weitem übertönte: ›Geh' hinüber, geh' hinüber!‹ Vorher sah ich alles an wie ein schönes Schauspiel, das mich selber weiter nichts angehe; jetzt aber ergriff mich Angst und Bangen und ich rief: ›Ach, wie kann ich!‹ Da antwortete die Stimme: ›Gehe hinüber, nur mutig vorwärts!‹ Und es trieb mich an, – ich weiß nicht was. Mit müden Knieen und schweren Beinen machte ich mich auf, da – gerade wie ich an den Rand des Ufers kam, war auf einmal eine schöne, lichte Brücke gebaut, in hellen Regenbogenfarben strahlend. Ich schritt darauf zu und siehe da! vor mir her, immer winkend, als wollte er mir die Hand reichen, ging eine hohe, herrliche Gestalt, – wer meinst Du wohl, daß das war? Unser lieber Matthi wars, unser eigener, lieber Sohn! Aber jetzt nicht mehr der arme, gedrückte, verfolgte, sondern groß und vornehm, ganz herrlich anzusehen, wie ein Sieger immer vorwärts dringend, dabei so freundlich und so selig dreinschauend. Und immer rief er: ›Komm! Vater, komm! Nur weiter, nur vorwärts!‹ Da auf einmal, auf der Mitte der Brücke angekommen, schaute ich in eine glänzend helle Landschaft hinein, welche jetzt weit offen vor mir dalag, – o wie schön, wie schön! Alles lauter Lieblichkeit und lauter Herrlichkeit! ›Sieh, lieber Vater, da gehen wir hin,‹ sagte jetzt mein Führer, unser lieber Sohn, ›bald bist Du drüben, bald bist Du drüben!‹ Da mit einemmale war das Traumbild weg, und ich – erwachte.« So hatte sein letzter Morgen begonnen, und heute war er nun den ganzen Tag gar sehr müde und lag zu Bette; die beiden Gatten kamen beide nicht los von dem Bilde der Nacht, sie sprachen auch ganz offen miteinander darüber, sie hatten ja schon oft vom baldigen Abschied miteinander geredet, und jetzt sah es wirklich so aus, als wollte es dazu kommen. Denn die Kraft des Alten verfiel heute zusehends; nicht daß etwas besonderes an ihn gekommen wäre, aber er wurde schwächer und schwächer. Einmal rief er nach langem Schweigen: ›Herr, ich warte auf Dein Heil!‹ Seine Gattin hielt stille seine Hand in der ihrigen.

»Soll ich nicht die Enkel holen?« frug nachmittags gegen drei Uhr seine Tochter.

»Ja, hole sie nur,« antwortete er, seines Zustandes sich klar bewußt, »ich will sie sehen!« und dann nach einer Pause: »ich will sie alle segnen!«

Nach einer halben Stunde kamen sie alle herein, voran der erste, ein junger Mann von achtundzwanzig Jahren, dann dessen zwei Schwestern und noch ein jüngerer Bruder von zwanzig Jahren. Sie sahen dem Alten auf seinem Lager die Veränderung wohl an; ehrfürchtig ihn anschauend blickten sie stille auf ihn hin, nachdem sie ihn kurz um sein Befinden befragt hatten. Dann erhob er sich ein wenig, legte die rechte Hand auf den Erstgeborenen, der ihm zunächst saß, und segnete ihn feierlich. Vom Stuhle weg ließ sich der Enkelsohn alsbald auf die Kniee nieder und neigte tiefergriffen und betend sein Haupt; alle knieten jetzt an dem Bette des Greises nieder und so segnete er auch die zwei Schwestern, dann den jüngsten Enkelsohn. Darauf trat die verwitwete Mutter der Enkelkinder, seine einzige noch lebende Tochter, an das Bett und bat auch um seinen Segen. Und wie er sie nun segnete! Mit zärtlicher Liebe grüßte er sie, die treue Schwester seines unvergeßlichen Matthi. Im Hintergrund aber stand die eigene Gattin, die hochbetagte Frau.

»Gieb mir auch Deinen Segen, Matthi!« sprach sie weinend.

»Jawohl segne ich Dich,« sprach er. »Du hast meinen Segen und Du wirst ihn behalten. Der Herr segne Dich und behüte Dich, bis wir wieder beisammen sind. Ich gehe nur ein wenig voraus, weiter ist's nichts. Trage kein Leid, liebes Weib!«

Es flossen aber reichliche, stille Thränen. Doch seine Augen, sie füllten sich nicht, sondern sie leuchteten helle auf, als er das greise Haupt erhob und in eine höhere Welt zu schauen schien. »Ich bin auf der Brücke,« rief er jetzt, »nur weiter, nur vorwärts, Matthi! bald bin ich drüben, bald bin ich drüben!« Dann sank er in die Kissen und – war über die Brücke des Todes gegangen, über das stürmische Meer, in die Gefilde der Seligen. –

War das ein Frieden, als die schöne Patriarchengestalt zur Ruhe gebettet war! Das stille Totenstüblein wurde kaum mehr leer. Ganz leise betrat man das liebe Haus, die Familie selbst mochte niemand stören, aber den alten Patriarchen wollten alle noch einmal sehen.

Als der Tag der Beerdigung kam, da wurde das Dorf von allen Seiten her überströmt und ganz überfüllt. Es gab ein großes, stilles, heiliges Fest. Gesprochen wurde nicht viel von der Menge, die hier zusammenströmte, in stiller Feierlichkeit begegnete und begrüßte man einander. In jedem Haus aber waren die Fremden mit Dank empfangene Gäste.

Nachmittags rüstete man sich zum Zug; zehn Jungfrauen mit Palmzweigen in der Hand gingen dem Zug weit voran, den Sarg trugen Jünglinge im Schmuck ihrer Kraft.

Ein Kreuz aus grünen Zweigen des Lebensbaumes, mit weißen Rosen besteckt, schmückte den Patriarchensarg. So wallte der lange Zug zu Kirche und Kirchhof im Frieden empor. Und wieder schallten die dreieinigen Glockentöne vom Turm, und wieder erfüllte ihr voller ernster Klang die Schlucht und erscholl in reinerem, vollerem Wiederhall hernieder zu dem stillen Pilgerzug; die Kinder aber sangen ihm ein süßes, schönes Lied, ein Lied voll seligen Hosiannas. Das Lied lautete folgendermaßen:

I. Wechselchor.

Hosianna unsrem König gut!
Er läßt in treuer Hut
Uns fröhlich wallen,
Läßt in den Schoß uns fallen
Der Erde Glück!

II. Wechselchor.

Dennoch scheiden wir von hinnen gern
Und gehen heim zum Herrn!
Dort wird mit Kronen
Der König Treue lohnen.
Hosianna!

I. Wechselchor.

Neigt sich unser Pilgerpfad einmal
Hinab zum Todesthal,
Wer wird uns decken
Vor finstern Todesschrecken
Mit starker Hand?

II. Wechselchor.

Wahrlich, nimmer schreckt uns Tod und Grab:
Des guten Hirten Stab
Wird uns beschirmen,
Wenn Schatten hoch sich türmen.
Hosianna!

I. Wechselchor.

Selig, die ihr aus dem Todesthal
Zum, ew'gen Sonnenstrahl
Euch aufgeschwungen,
Und nun mit neuen Zungen
Dem Herrn lobsingt!

II. Wechselchor.

Sel'ge Überwinder gehn voran,
Wir Wallenden, wohlan!
Auf gleichen Wegen
Zieh'n wir dem Herrn entgegen.
Hosianna!

So geleiteten die Kinder den Zug mit ihrem Gesang, so trug man seine Leiche in die Kirche und vor den Altar.

Als aber der Text verlesen werden sollte, da waren es die Worte: »Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesum Christum.« Über den Entschlafenen selbst ward kaum mehr als der Name gesprochen, mit welchem er getauft worden war und mit dem er einst gerufen werden wird. Man beugte sich viel zu sehr unter die Majestät des Todes oder vielmehr unter die Herrlichkeit des Todesüberwinders, als daß man Menschenkraft und Menschenehre hätte rühmen mögen. Wohl ward auch manches kräftige Wort gesprochen über das Patriarchenalter und über die große Verheißung und ihre immer hoffnungsreichere Erfüllung, welche Gott allem Volk gegeben hat in diesen Tagen der Weltverjüngung; zugleich ward Gott darüber gelobt, daß sein Sterben nicht ein Sterben im Gericht sei, sondern im großen Frieden Gottes. Aber nicht der Mensch von Staub, sondern der Lebensfürst, der dem Tod die Macht genommen hat, ward über diesem Grabe gepriesen. Es ging eine tiefe Bewegung durch die Versammlung, ein Geist bußfertiger Demütigung über der allgemeinen Sündhaftigkeit und über der Wahrheit des Worts, das seine Geltung immer noch nicht ganz verloren habe: »der Tod ist der Sünde Sold,« und doch war es zugleich wie ein heiliges Trotzen gegen Tod und Todesmacht. Der Lobpreis der großen Erlösung durchsiegte die Trauer und vertrieb den Schmerz. Lebensbaum und Palmzweige wurden das Symbol des über allen Tod siegenden Lebens, der über alles Leid triumphierenden Christenfreude.

Als die Leiche aus der Kirche getragen und zum Grab gebracht ward, da empfing den Zug ein Posaunenchor, und nachdem die Leiche ins Grab eingesegnet war, da erklang es wie ein Hymnus, als mit lauter Stimme jenes uralte Glaubensbekenntnis gesprochen wurde, welches mit den Worten schließt: »Ich glaube eine Vergebung der Sünden, Auferstehung des Leibes und ein ewiges Leben.« Die Gemeinde aber hatte ihr Leid und ihren Trost, ihren Glauben und ihr Gebet an diesem Tage in den Gesang eines schönen Liedes zusammengefaßt, welches also lautete:

[Grablied der Gemeinde.]

Christe, großer Überwinder!
Du Erstling selger Gotteskinder!
Du Friedefürst und Lebensborn!
Da dein Geist am Kreuz geschieden
Ward in des Grabes stillen Frieden
Dein Leib gesenkt als Weizenkorn.
Nach kurzer Grabesruh'
Glorreich erstandest du!
Hosianna!
Trägst nun zum Lohn
Die Ehrenkron'
Und waltest auf des Reiches Thron!

Dir nach wirst du all die Deinen
Um deinen heilgen Thron vereinen,
Und Wonne wird ihr Erbteil sein.
Selig, die da gläubig starben!
Du sammelst sie, die edlen Garben,
In deine ew'gen Scheunen ein.
Groß ist ihr Glück schon hier, –
Vollkomm'ner noch bei dir!
Hosianna!
Dich schaut voll Wonn',
O Gottes Sohn,
Der hoffnungsfrohe Simeon!

Still im Kämmerlein verborgen
Schläft bis zum großen Ostermorgen
Der müde Leib in Grabesruh:
Bald in stetigen Gotteswettern
Des jüngsten Tags Posaunen schmettern,
Da rufen ihm die Enget zu:
Wach auf zur Herrlichkeit!
Die Hochzeit ist bereit!
Hallelujah!
Dem Bräutigam
Dem Gotteslamm,
Dem König, der vom Himmel kam!

Bei dem Klang der Jubellieder
Zum lichten Himmel schwebst du wieder,
Dir folgt empor der Sel'gen Schar!
Unser keines bleibt dahinten;
Wir alle, alle werden finden,
Was unsres Herzens Wünschen war:
Verschwunden Angst und Not,
Verschlungen Höll' und Tod!
Hallelujah!
Wohlan, wohlan!
Bald ists gethan!
Bald führst du alle himmelan!

Stille, mit großem Ernst, doch nicht gedrückt, sondern zu Gott erhoben ging die große Versammlung auseinander. Als man den Kirchweg wieder herabkam, da standen die Trompeter der jungen Mannschaft seitwärts vom Kirchhof unten am Hohlweg und wandten sich noch einmal um. Sie setzten kräftig an und bliesen zum Friedhof und zum frischen Grab empor, wie von einer besonderen Bewegung getrieben, das sieghafte Auferstehungslied, welches aus deutschen Landen entstammt und jetzt zu fast allen Völkern über die ganze Erde hin gekommen ist und in deutscher Sprache heißt: »Jesus, meine Zuversicht und mein Heiland, ist im Leben.« –

So begrub man den hundertundsechsjährigen Patriarchen Matthi, dessen Leben zwei Weltzeiten angehörte, dessen Geschichte weit zurückreichte in die vergangenen Tage, der schon damals fast ein Greis gewesen war, als seine beiden ältesten Söhne starben und verdarben in den Zeiten der antichristlichen großen, allgemeinen Versuchung, und man von seinem einigen lieben Sohn, welcher seinen Namen und auch sein Bild trug, nur noch zu sagen wußte: »er ward nicht mehr gesehen.«

Doch es ist Zeit, daß wir zurückgehen auf jene merkwürdigste Epoche der Menschheitsgeschichte um das Jahr 2000.


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