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VII. Kapitel.
Ratlos, aber nicht trostlos.

Motto:

Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden.
Wenn unerträglich wird die Last, dann greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel.

Schiller, Tell.

Schon acht Tage nach diesem Ereignis war die Lage des Verwandten des Herrn Simon wesentlich verschlimmert. Er bat seinen Vetter Otto Simon inständig, sich für ihn bei einem Juristen Rats zu erholen.

»Willst Du es nicht selber thun?« frug Herr Simon. »Ich kann Dir einen Mann nennen, bei dem Du gewiß wohlwollend angehört und so gut als irgend möglich beraten wirst, vollends wenn ich Dich empfehle.«

»Ach, es geht uns übel, uns Leuten! Ich denke doch, daß der Mann offener sprechen wird, wenn Du für mich fragst, als wenn ich es selber thue. Ich wäre Dir von Herzen dankbar dafür.«

So ließ sich denn Herr Simon die Verhältnisse nochmals eingehend schildern, um nichts zu vergessen, was anzubringen wäre und erklärte sich bereit, sofort das Mögliche zu thun.

Zu jeder andern Zeit hätte er den Donnerstag Abend abgewartet, um Herrn Karl Francois lieber nur gelegentlich in der ›Harmonie‹ zu sprechen. Aber nach der letztmaligen etwas aufgeregten Unterhaltung dort erschien es ihm doch nicht passend, die Sache wieder nur so nebenbei vor andern und mehr nur als allgemeinen Stimmungsbericht abzumachen, wobei der einzelne Fall, um den es sich jetzt handeln sollte, gar zu leicht zu kurz kommen könnte. Er mußte sich sagen, daß in dieser Gesellschaft Herr Francois' Beamtenbewußtsein demselben möglicherweise eine Zurückhaltung auferlegen könnte, bei welcher er dann keinen irgendwie fördernden Bescheid von ihm erhalten würde. Auch wäre diese Donnerstagsgesellschaft in der nächsten Zeit keinesfalls der rechte Platz für eine erneute Besprechung solcher Art, nachdem gerade auch das Andenken des hingeschiedenen Herrn Ducrot jetzt so besonders eng mit jener Unterhaltung in der ›Harmonie‹ verknüpft war. So beschloß er denn privatim zu Herrn Francois zu gehen und ihm die Sache vorzustellen. Er hoffte damit seinem Verwandten um so sicherere Ergebnisse heimbringen zu können. Er that diesen Schritt noch an demselben Tag, an welchem der Verwandte ihn vormittags gebeten hatte.

»Herr Francois,« begann er dort, – »Sie nehmen es mir gewiß nicht übel, wenn ich in der Sache meines Vetters Sie um Ihren Rat bitte.«

»Wenn ich irgend dienen kann, geschieht es herzlich gern, Herr Simon.«

»Nun, er ist aufs neue bedrängt. Jetzt handelt es sich nicht nur um den Hauskauf, sondern es handelt sich nun auch um seine Stelle als Prokurist in seinem Geschäft.«

»Wie kommt aber das? was ist denn Besonderes geschehen?«

»Gar nichts Besonderes, – das ist es eben! Ein Fall stöbert den andern auf. Weil man im Geschäft weiß, was er jetzt für Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten hat, ist man auf etwas anderes bei ihm aufmerksam geworden.«

»Nun?«

»Es heißt jetzt, er könne die Prokuristenstelle nicht mehr recht versehen, jedenfalls nicht für alle Fälle. Wenn seine Unterschrift irgendwo nicht mehr als rechtsgiltig anerkannt würde, könne das dem Haus unnennbare Schwierigkeiten und Verlegenheiten, unter Umständen aber auch Verluste bereiten; das lasse sich nicht riskieren.«

»Dann soll es aber doch der Chef selber thun!«

»Das ist auch geschehen. Aber nun verreist der Chef und es scheint, das läßt sich nicht verschieben. Jedenfalls aber kann dies immer wieder vorkommen und wird gar nicht zu vermeiden sein. Nun heißt es: wer soll in der Zwischenzeit die rechtsgiltige Unterschrift abgeben?«

»Das ist aber doch nicht so wichtig!«

»Denken Sie sich in einem Bankhaus! – Denken Sie sich bei besonders wichtigen Fällen, wie z. B. großen Käufen oder Verkäufen, besonders wenn Erwerbungen geschehen oder Liegenschaften veräußert werden sollen.«

»Meine Ansicht ist aber,« gab Herr Francois zurück, »daß ein Prokurist, dem sonst alles übertragen ist, und der im Namen des Chefs unterschreibt, ohne Bedenken weiter unterschreiben kann. Er thut das ja nicht für sich, sondern für sein Geschäftshaus. Das ist doch etwas ganz anderes. Wenn er für sich selber ein Haus kauft, – ja, dann ist es schlimm; wenn er aber für sein Geschäftshaus die rechtsgiltige Unterschrift abgiebt, wie bisher jahraus jahrein und den Tag über oft zehn und zwanzig Mal, so ist das ja eine ganz andere Sache. Da kann er es ohne Bedenken ferner thun, meine ich.«

»Ja,« sagte Herr Simon, »wenn das nur jedermanns Anschauung wäre! Aber es heißt: anderswo werde von den Gerichten selber anders entschieden und darum könne man nichts riskieren.«

»Unerträglich – diese Verschiedenheit der gerichtlichen Entscheidung!« ärgerte sich Herr Francois.

»Freilich,« sagte Herr Simon, »das zerstört bei uns Laien ohnedem das sichere Bewußtsein, eines festen Rechtsbodens in ganz übler Weise, – das kann ich Sie versichern. Und es will mir oft vorkommen, das merke die Juristenwelt gar nicht, – sie ist zu hoch über dem Volk, sie lebt in ihren Theorien und das ist eine sehr, sehr leidige Sache!«

Herr Francois sagte: »Sie mögen Recht haben, es ist traurig.«

Herr Simon fuhr fort: »Aber nun vollends hier! nun kann jede Bosheit, jede Laune eines Feindes, sei es eines persönlichen Feindes, sei es eines Christenfeindes oder auch überhaupt eines Widerparts, der nun einmal auf diese Weise seinen eigenen Vorteil erhaschen zu können meint, auf diesen Punkt losgehen und dem Geschäft Schaden zu fügen.«

»Das ist freilich schlimm«

»So sagen Sie mir nur, was zu thun ist?« –

»Da ist schwer raten.«

»Herr Francois! das ist verzweifelt für diese Leute, ganz verzweifelt! Das hätte ich selbst noch vor vierzehn Tagen nicht gemeint! Diese armen Menschen sind ja einfach vogelfrei! Jetzt fehlt nur noch das, daß diese strengeren juristischen Entscheidungen zur Norm für alle Fälle gemacht werden, dann sind diese Christen überall regelrecht ruiniert!«

Herr Francois schwieg und zuckte die Achseln. Aber man sah es ihm, dem wohlwollenden, gerechten Mann gut an, daß es in ihm selber kämpfte. Der Jurist, der Beamte in ihm, schwieg, aber der Laie, der Mensch in ihm, empörte sich.

»Herr Simon,« sagte er dann, »Ihnen sage ich es ganz offen, mir gefallen diese Zustände auch nimmer. Wir Leute sind nächstens nur noch dazu da, Bedrängte anzuhören und uns für unsere Zustände zu schämen, oder aber sie abzuweisen, vielleicht vor der Thüre schon sie abweisen zu lassen und damit recht sehr hart und unbarmherzig zu erscheinen, – oder zu werden!« setzte er hinzu.

Herr Simon erwiderte: »Es thut mir ganz wohl, daß Sie sich selber so aussprechen. Ich kann Ihnen sagen: auf uns Leute macht es einen fürchterlichen Eindruck. Wo ist da noch Recht und Gerechtigkeit, wo sollen diese Leute hin? bei keinem Gericht ist mehr Hilfe für sie, es wird immer ärger; das ist ja eine wahre Verfolgung! Daß man diese Leute nicht mehr auf den Scheiterhaufen bringt oder auf die Folter wie in alten Zeiten, – das ist alles. Aber das ist ein Brennofen, ein solches Leben! das ist eine wahre Folter für einen Familienvater; das ist ein Gefängnis, so leben müssen, so rechtlos! Es ist eine Schande für die civilisierte Menschheit!«

»Und was es die Charaktere verderbt!« sagte jetzt Herr Francois selbst, – »unter Beamten und im Volk, – es ist abscheulich!«

Es that offenbar auch ihm wohl, unter vier Augen einmal ganz offen sein Herz reden lassen zu können. Die beiden Männer schieden in gegenseitiger Achtung von einander, Herr Simon mit der Äußerung herzlichsten Danks für das freundliche Gehör, das er gefunden habe, Herr Francois mit dem Ausdruck aufrichtigen Bedauerns, hier rein nicht helfen zu können und absolut keinen Rat zu wissen.

*

Herr Simon war auf dem Heimweg nur froh, daß in seinem, – in Herrn Pilsens Geschäft, er zu befehlen habe und solche Dinge bei ihnen nicht vorkommen dürften.

Kaum aber war er ins Geschäft geeilt, Herrn Pilsen gegenüber es unangenehm empfindend, daß er heute Nachmittag etwas zu spät komme, – so bat Herr Pilsen ihn zu sich herein.

»Hören Sie, ich bin von einem Geschäftsfreund darauf aufmerksam gemacht, daß es mißlich sei, diese Christen ferner bei sich im Geschäft zu haben. Überall hört man von Widerwärtigkeiten ...«

»Es sind aber ruhige Leute, Herr Pilsen. Denken Sie nur an unsere beiden Arbeiter Leon und Matthi. Es hat sich seither ganz gut gemacht, seit wir sie wieder behalten haben. Es kommt nicht das Geringste vor.«

»Mag sein, – aber wer weiß, was noch kommt-?«

»Da stehe ich dafür, Herr Pilsen!«

»Sie stecken auch nicht in diesen Leuten drin.«

»Nein, das allerdings nicht, Herr Pilsen, und ich möchte auch nicht in ihrer Haut stecken, – das ist ja schauderhaft, wie mit diesen Leuten umgesprungen wird!« Und er erzählte ihm den neuen Fall mit seinem Verwandten.

Herr Pilsen hörte es alles an, aber etwas ungeduldig, wie man eine Märe hört, die man schon zehnmal hat erzählen hören, und sagte dann: »Man kann den Leuten nicht helfen, sie sind alle selber schuld!«

»Alle – Herr Pilsen?«

»Wir wollen uns nicht wieder auf diese Erörterungen einlassen,« sagte jetzt Herr Pilsen etwas kurz. Ich muß treue Leute haben, mein lieber Herr Simon,« – und dabei sah er ihn scharf an, – »ich muß mich auf meine Leute unbedingt und durch alles hindurch verlassen können, sonst bekommen wir auch nur Widerwärtigkeiten!«

Herr Simon erschrack ein wenig und wollte eben fragen, was damit für ihn gemeint sei? Da deutete Herr Pilsen ärgerlich in das große Zimmer hinaus und sagte halblaut (wie sie überhaupt mit einander sprachen): »Da draußen haben wir auch so einen, – den dort, sehen Sie! der kann uns auch noch unangenehm werden! Ich bitte sehr, geben Sie acht auf ihn! ich werde es nicht dulden, Herr Simon, daß unter dem Schein von Mitleid und Barmherzigkeit uns Widerwärtigkeiten ins Haus kommen, mit denen ich ungeschoren bleiben möchte. Das möchte ich Ihnen hiermit mit aller Bestimmtheit ans Herz legen!«

Damit ging er in sein Zimmer.

Herr Simon war schmerzlich berührt von dieser Unterredung, wenn es überhaupt diesmal eine solche zu nennen war; denn noch nie hatte Herr Pilsen so wenig angenommen und so schroff das Wort geführt. – Also überall, überall dieselbe Hetze! Oberflächlichkeit und Haß, Geschäftsvorteil und Feigheit, Angeberei und Verleumdung, – alles, alles wirkte zusammen, die Lage dieser Christen unter dem Druck gesetzlich sein sollender Rechtlosigkeit, rechtlich eingeführter Gesetzlosigkeit, unerträglich, sie selber zu unglücklichen Geächteten zu machen. Und wo man hinhörte, überall dasselbe! wo man Hilfe suchte, überall nur Achselzucken mit und ohne Bedauern, wo nicht gar hartes Urteil und erbarmungsloses: ›da siehe du zu!‹ und er dachte mit innerster Bekümmernis an die Härte eines solchen Schicksals.

*

Am Abend desselben Tages saßen die beiden Brüder Leon und Kuno wieder beisammen wie gewöhnlich. Ihr Verkehr war seit jenem für beide denkwürdigen Abend nur noch herzlicher geworden als bisher. Nicht daß sie wieder viel von der Angelegenheit miteinander gesprochen hätten, aber beide suchten es einander zu zeigen, und jeder konnte es dem andern anspüren, daß sie treulich bemüht waren, das Ihre dazu zu thun, die freilich unausfüllbare Kluft, welche in Glaubenssachen noch immer sie trennte, so leicht und lieblich als möglich zu überbrücken.

Heute aber war etwas im Geschäft vorgekommen, was auch Kuno beschäftigte. Einer der Buchhalter wurde zu Herrn Pilsen gerufen, – und das war gerade eine halbe Stunde, ehe Herr Pilsen mit Herrn Simon darüber geredet hatte, ohne daß er nachher letzteren wissen ließ, daß er selber mit dem Betreffenden geredet habe, – und es ward ihm von Herrn Pilsen eröffnet, daß man sich ernstlich bedenke, ihn länger im Geschäft zu behalten; auf alle Fälle warne man ihn und rate ihm, sich aufs Äußerste in acht zu nehmen. Wenn sein Verhalten irgend welche geschäftliche Unannehmlichkeiten mit sich bringe, so werde er unnachsichtlich entlassen werden.

Was hatte er denn gethan, der brave, pflichttreue Mensch? War er denn ein Trinker oder ein Spieler? Hatte er denn einen Eingriff in die Kasse gemacht oder jemand dazu verleitet? Hatte er denn im Fleiß und in der Zuverlässigkeit nachgelassen? oder war er zu oft krank gewesen oder mit einem üblen Fehler behaftet? Bewahre Gott! Nichts von all dem! nicht das Geringste!! Es hatte sich auch kein Mensch über ihn beklagt, es hatte nur jedermann gesagt, das sei auch so einer! Es war das allerdings wahr, er war auch ein Christ, – das war aber das ganze Verbrechen, das ganze!

Leon wußte von diesem Vorgang nichts, aber Kuno wußte es. Er mochte mit Leon natürlich nicht davon reden, denn er fühlte sich ganz bedrückt, besonders jetzt, wo sein Bruder neben ihm saß und auch so traurig aussah. Es giebt einen Druck auf dem Gemüt, der ist wie der Druck bösen Gewissens, – es ist der Kummer tiefen, tiefen Mitleids. Das kann den Menschen dermaßen belasten, daß man das Gefühl hat, den Druck eines bösen Gewissens fast noch leichter tragen zu können. Denn man weiß, das könnte man mit seinem Gott abmachen, denn Gott läßt Gnade vor Recht ergehen, wenn man ihn angeht. Aber dieses Gefühl, nein! dieses Kummergefühl eines tiefen Mitleids über erbarmungslosem Elend, dem man, gerade weil es fremdes Elend ist, so völlig machtlos gegenübersteht, – das drückt einen edel gesinnten Menschen oft ganz besonders schmerzlich nieder.

»Was hast Du heute, Kuno?« frug jetzt Leon.

»Ich habe weiter nichts, aber was hast denn Du? ist etwas vorgekommen?« frug Kuno teils ausweichend, teils mißtrauisch ängstlich.

»Ach, etwas Besonderes nicht. Aber es liegt immerwährend ein Druck auf mir, – auf uns allen! Du weißt ja, warum? Und ja, – etwas ist freilich vorgekommen, aber nicht heute erst, sondern schon vor einigen Tagen.«

»Nun, was denn ums Himmels willen?«

»So schlimm ist es noch nicht, aber unser Schicksal ist ja immer in der Schwebe. Es kamen einige Arbeiter weg, sie wollten sich verbessern. Da wäre es an mir gewesen, vorzurücken. Ich selber mochte nichts sagen; aber einige andere sagten es, jetzt sei es an mir, diesen Posten zu bekommen. Es hätte sich dabei ums Vertrauen gehandelt und ich hätte auch einen Lohnaufschlag bekommen. Aber da hieß es gleich: nein, das dürfe nicht sein, da dürfe man nicht einmal den Vorschlag dafür machen.«

»Warum?«

»Nun, es hieß: unsereinem, einem Christen, gebe man keinen Vertrauensposten mehr.«

»Warum?« frug Kuno schmerzlich.

»Ja, man wisse nicht, was die Konsequenzen seien.«

»Was soll das heißen?«

»Das soll einfach heißen: vielleicht müsse man uns ohnedem bald fortschicken, oder wenn es sich um irgend eine Formsache, um etwas Rechtliches oder Gerichtliches handle, um ein Zeugnis gegen jemand oder dergleichen, so könne das Geschäft darunter leiden, weil man unser Zeugnis nicht annehme. Denn unser Zeugnis nimmt niemand mehr an, Kuno, – wir sind ja rechtlos, Kuno!«

Kuno schwieg.

»Wir sind schlimme Leute, Kuno! Dein Bruder ist ein schlimmer Mensch, Kuno! Wir sind schlimmer als Lügner und Ehrenwortbrüchige, schlimmer als Meineidige und Verschworene. Es heißt zwar: ›wer einmal lügt, dem glaubt man nicht und wenn er gleich die Wahrheit spricht,‹ aber es ist doch so: einem Lügner glaubt man doch wieder, wenn er sich beteuert; auch einem Ehrenwortbrüchigen glaubt man wieder, denn das war doch nur einmal, und ›einmal ist keinmal.‹ Selbst einem Meineidigen glaubt man wieder, denn – er wird doch nicht zweimal einen Meineid schwören! er wird doch das nicht wieder thun, er wird sich doch gebessert haben! Aber uns, uns Christen kann man nichts mehr anvertrauen, nichts mehr glauben! Unser Zeugnis gilt nichts mehr! wir sind die Allerschlechtesten jetzt, – so steht es in der Welt!«

Kuno schwieg.

»Aber so steht es geschrieben! So muß es kommen.«

»Was soll das heißen, Leon?«

»Nun, Kuno, das sind merkwürdige Dinge! Wir müssen in die Verachtung unseres Heilandes hinunter, von dem es heißt: ›er war der Allerverachtetste und Unwerteste.‹ Wir müssen ans Kreuz, die ganze Christenheit kommt jetzt ans Kreuz; jetzt kommt die Stunde der Gottverlassenheit wie bei ihm, jetzt heißt es bald für die ganze Christenheit: ›mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?‹ – Aber es ist mir nimmer so bang, als es mir früher gewesen ist. Die meisten von uns sind auch klar darüber und werden nimmer irre werden. Jetzt heißt es bei uns: ›Dennoch bleibe ich stets an dir! wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist doch du, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil!‹ denn es steht geschrieben! es steht geschrieben!«

»Was?«

»Alles, Kuno, wie es uns gehen wird und alles, was gegenwärtig vorgeht.«

»Wo?«

»Zum Beispiel in der Offenbarung Johannis. Ich will Dir die Stelle ganz genau sagen: Offenbarung Johannis 13, 17 heißt es: › daß niemand kaufen oder verkaufen kann, er habe denn das Malzeichen oder den Namen des Ungeheuers.‹ Sage selbst: ist es nicht so? Wer sein Malzeichen nicht hat, der kann nicht mehr kaufen oder verkaufen. Wir können es nicht mehr. Wir können keinen rechtsgiltigen Akt mehr vornehmen, weder in Beruf und Amt, noch in Handel und Gewerbe. So ist es befohlen und so steht es auch geschrieben! – Kuno! ich habe in meinem Leben immer viel auf die heilige Schrift gehalten, aber ich habe nie gewußt, daß es ein so großer Trost werden könne, zu sagen: ›So steht es geschrieben!‹ – Dies ist die Stunde der Versuchung über dem ganzen Erdkreis, dies ist Eure Stunde und die Macht der Finsternis. – Gottlob, daß wir das wissen! Wir kommen um so besser durch und können ausharren, bis es vorüber ist.«

»Du glaubst also selber, daß es so nicht ewig dauert? – Ich bekenne Dir offen, daß ich auch glaube, daß es so nicht bleiben kann.«

»Kuno, das letztere wäre mir ein sehr allgemeiner Trost, – so allgemein, daß es mir keiner wäre. Aber wir haben einen anderen Trost.«

»Welchen?«

»Wir glauben, daß Jesus Christus, der Hochgelobte selber, diesem Zustand ein Ende machen wird, ein Ende mit Schrecken, – wir aber dürfen uns freuen, denn wir wissen, daß sich unsere Erlösung naht!«

»Willst Du das auch gewiß wissen?«

»Jawohl, Kuno! – Wenn ich das nicht gewiß wüßte! – da heißt es auch: ›Wenn dein Wort nicht mein Trost gewesen wäre, so wäre ich vergangen in meinem Elend‹!« –

»Aber daran glaubt auch niemand mehr, Leon! – Daß es wieder anders kommen muß, wenn nicht die ganze Welt noch zu Grund gehen soll, verwirrt und verwildert, verderbt und verdammt,« – rief er zornig und verbittert, – »das glaube ich auch; nur nicht auf die besondere Weise, wie Du meinst.«

»Ich meine es nicht nur, – ich glaube und ich weiß es, Kuno! Daß es aber die allermeisten Menschen nicht mehr glauben, das weiß ich auch, so gut wie Du, – und das steht auch geschrieben!«

»Wieso?!« frug Kuno jetzt ganz verwundert.

»Der Menschensohn selber hat gesagt: ›Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, daß er auch werde Glauben finden auf Erden?‹ Sieh, Kuno, es ist vorausgesagt, daß an sein Kommen und an die große Erlösung, welche er bringen wird, einst so gut wie niemand in der Welt mehr glauben wird. Wir aber, Kuno, wir harren seines hellen Tages und der allgemeinen Ausgießung seines heiligen Geistes!«

Kuno war und blieb heute sehr schweigsam; seines Bruders Glauben konnte er überhaupt nicht recht teilen, und von dem heute ausgesprochenen Glaubensstandpunkt vollends war er denn doch weit weg. Aber seines Bruders Ruhe, dessen Siegesgewißheit, mußte er doch bewundern. Er wurde ganz grimmig, wenn er nur im Mitleid an diese wirklich große Trübsal der Christen dachte und sich einzelnes erzählen ließ, – und dieser sein Bruder hatte zwar ein schmerzbewegtes Gesicht, aber doch ein strahlendes Auge, einen seligen Blick, einen triumphierenden Ausdruck in seinen Zügen, wenn er davon redete. Er kam sich vor wie ein Gebundener, – und dieser sein Bruder war anzusehen wie ein Märtyrer, der selber sein Kreuz trägt, der noch Loblieder singt auf dem Scheiterhaufen, dem schon die Krone der Ehren gereicht wird!


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