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X. Kapitel.
Wach auf, du Geist der ersten Zeugen!

Motto:

Verdunkelt stand des Herrn Altar,
In Menschentrug begraben war
Das Wort aus Gottes Munde.
Wo bleibst du, Licht von Anbeginn?
Ach, Hüter! ist die Nacht bald hin?
Ist nah des Aufgangs Stunde?

Fr. Sachse.

Doch vergessen wir über dem Todesschrecken dieser wenigen Menschen nicht die allgemeine Schreckenszeit in der damaligen Welt, über der besonderen Not dieser edlen jüdischen Familie nicht die allgemeine große Trübsal der Christen dazumal. Wir haben zwar deren Gedränge schon genugsam kennen gelernt und in allem ihrem Elend auch ihre Geduld und ihren Glauben erkannt. Aber eines haben wir noch nicht erwähnen können, die allgemeine Kirche und ihren Zustand in dieser allerletzten betrübten Zeit.

Ach, die allgemeine Kirche! Was ist sie denn, die allgemeine Kirche, die Völkerkirche? was ist die Volkskirche und die Landeskirche? Ist sie gering zu schätzen oder gar zu verachten? Wer sie wegwirft, wirft das Netz weg, mit dem er Fische fangen soll. Wer die Kirche verachtet, verachtet seine Mutter; wer die Volkskirche gering schätzt, achtet sein Volk gering; wer die Landeskirche freiwillig fahren läßt, der sage nicht, daß er sein Vaterland lieb habe. Landeskirche, Volkskirche und allgemeine Völkerkirche, – oder wie man es sonst nennen, wie man sie näher bezeichnen oder abgrenzen mag, immer sind sie der Leib, in welchem Gottes Geist das Leben schafft; immer sind sie mindestens der große Körper, innerhalb dessen der Geist des Christentums noch waltet. Und wären sie auch schon halb tot oder ganz erstorben, immerhin sind sie selbst dann noch der Raum, innerhalb dessen das Neue sich vorbereitet, selbst wenn das Alte schon zerfällt. ›Verdirb es nicht, es ist ein Segen drin‹, hat man schon sehr oft davon gesagt, und es ist jedenfalls böse, bitterböse Zeit, wenn man selbst das nicht mehr darin zu sehen vermag.

Ja, jetzt war sie am Sterben oder gar erstorben, die allgemeine Kirche. Jedenfalls hatten Völkerkirche und Landeskirche, im großen Ganzen angesehen, nur noch sehr wenig Leben. Das Hohepriestertum der Kirche war vielfach zu leerem Prunk mit äußerlichen Ehren ihrer ›Würdenträger‹ geworden, ihr Gottesdienst mehr Schaustellung und mehr Menschendienerei als Gottesdienst. Statt Gebet und Innenleben war es mehr nur Gebot und äußere Satzung; statt lebendigen Glaubens herrschte die tote Formel. Die Predigt der Liebe war selber eine klingende Schelle und die christliche Hoffnung war ganz und gar vermattet und vergessen. Ihre Diener aber waren stumm und taub, oder predigten sie tauben Ohren und leeren Bänken. Schönere Gotteshäuser zwar hat es nie gegeben; köstliche Juwelen des Altertums waren vollends ausgebaut und ausgeziert, so schön und so zahlreich wie zu keiner anderen Zeit zuvor. Aber ›wer glaubt unserer Predigt und wem wird der Arm des Herrn geoffenbart?!‹

Was ist eine Kirche, welche weltliche Macht über alles erstrebt und selber dadurch verweltlicht? oder was ist eine ›Kirchengemeinschaft‹, welche doch nur noch Anhängsel des Staats ist und diesen Schaden nicht einmal spürt? Was sind ihre Diener, wenn sie vergessen, daß gesagt ist: ›Mein Reich ist nicht von dieser Welt,‹ oder wenn sie ihre rein bureaukratische Gewalt für die ›Schlüssel des Himmelreichs‹ halten? Was können sie wirken, wenn ihre Macht nicht mehr in überzeugtem und überzeugendem Wort der Predigt besteht, oder wenn die Predigt dieser Diener am Wort nicht von Beweisung des Geistes und der Kraft begleitet ist?

Ja es stand nicht gut um die große Kirche, um die Kirchengemeinschaften. Und wenn dies auch schon öfters in der Weltgeschichte der Fall war, so war das besonders Schlimme in jener antichristlichen Zeit eben das, daß die maßgebenden Kreise der Kirche und ebenso die allgemeinen Strömungen in den Volkskirchen dem antichristlichen Wesen nicht im geringsten widerstanden, vielmehr allen Vorschub leisteten, ihre feigen Dienste anboten und ihre geistige Unabhängigkeit aufs Tiefste erniedrigten! –

Aber so viel sei zur Ehrenrettung gesagt, daß doch mehr und mehr viele, viele Einzelne in der allgemeinen Kirche sich zu besinnen anfingen und sich ermannen zu wollen schienen. Besonders viele Geistliche wurden ergriffen von dem Weh der Christen. Wenn sie auch lange in der Anhänglichkeit an die Volksgewalten und in der Abhängigkeit von der Staatsgewalt sich nicht ganz losringen konnten von dem alles bestrickenden Weltgeist und Gewaltgeist, so fand doch der Schrei der Not und der Jammer der Christenheit ein Echo in ihren Herzen. Überhaupt aber erwachte das Gewissen doch in Tausenden, ›sie schlugen an ihre Brust und wandten wieder um‹, möchte man sagen; der religiöse Instinkt wies sie auf etwas anderes hin als die allgemeine Losung, welche ausgegeben war.

In vielen Geistlichen regte es sich denn doch mehr und mehr gewaltig. Zwar gebunden durch die bureaukratischen Rücksichten auf Staatsgewalt und herrschendes Regiment blieben sie lange still, aber ein ernsterer Geist der Lebensauffassung ließ sich in ihren Worten und aus ihren Predigten verspüren. Sie predigten, wenn auch ohne direkte Nennung des Schadens, jetzt ernstlicher Buße, sie ermahnten kräftiger und warnten eindringlicher, – und gar manche riefen mit gewaltiger Wächterstimme auf, zu merken auf die Zeichen der Zeit. Oft schien es, es gehe ein Frührotleuchten durch die Kirche hin, – oder war es nur erst ein Wetterleuchten der kommenden Gottesgerichte?

So ganz unzweideutig allerdings wurde ja von den wenigsten gesprochen, aber die Barmherzigkeit wurde doch aufgerufen, die Glaubensgüter wurden wieder betont, der Religionshaß wurde gebrandmarkt. So viel stimmte ja auch alles mit dem, was der Form nach erlaubt und heuchlerisch sogar empfohlen war, und im übrigen hieß es: ›Wer Ohren hat zu hören, der höre!‹

Es gab aber auch Märtyrerseelen unter ihnen, welche Absetzung und eigene Bedrängnis nicht scheuten. Das war freilich im ganzen nur eine kleine Schar, – das Leben in der Kirche als solcher war noch lange nicht aufgewacht und schien kaum zu erwecken, – aber hineingerufen war doch in die träumerisch düstere Weltkirche, hineingerufen, daß es darin widerhallte: ›Wach auf, du Geist der ersten Zeugen!‹ – und wenn es nur dazu führte, daß die allgemeine Nacht grell erleuchtet ward und die letzte Schreckenszeit von vielen erkannt werden konnte als das, was sie wirklich war!


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