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IX. Kapitel.
Allerlei Messiasgedanken.

Motto:

Dein Ideal zeigt mir Dein geistig Bild!

Rahel war am andern Tag etwas abgespannt.

Arthur war das morgens eigentlich immer. Der Vormittag ging still hin, man hatte einige Ausgänge zu machen, Arthur wollte sich auch einigen alten Freunden zeigen und kam so erst vor Tisch wieder heim. Der Nachmittag erst bot eine passende Stunde, das gestrige Gespräch noch einmal aufzunehmen.

Diesmal schien Arthur kampfbereiter als Rahel. Rahel wäre heute vielleicht eher noch etwas ausgewichen, – übrigens mehr um das Wogende und Werdende in sich vollends zu verarbeiten, als aus Furcht, zu unterliegen. So ging sie denn noch einigemale hin und her, aus und ein, ehe sie sich niederließ.

In Arthur glühte ein Feuer. Er meinte gesiegt zu haben; es brannte eine unheimliche Begeisterung in ihm, die er ja gestern schon, auf einen Namen zugespitzt, ganz offen ausgesprochen hatte, eine Begeisterung, welche zu seinem sonst stolzen, kalten, auch schalen, matten Wesen einen eigentümlichen Gegensatz bildete, wie Feuerschein zum Abendschatten, – und doch wieder eigentlich harmonisch damit zusammen stimmte, wie greller Blitz und schwarze Nacht. Aber einer echten Frauenseele konnte das nicht sympathisch sein, einer innerlich frommen Frauenseele vollends mußte es eher als ein Greuel erscheinen, – und einer liebenden Schwester war es ein tiefer, tiefer Schmerz. Doch ließ sie sich bei ihm nieder. Die Liebe hofft alles. Und sie wollte ja selbst noch dies und das sagen, wenn sie auch nicht wußte, womit jetzt sogleich anfangen, – und so anfangen, daß nicht wieder der wegwerfende Spott und jener übermütige Geist einer parteisüchtigen, feindseligen Vernünftelei sich dran mache, ihr die Heiligtümer ihres Herzens zu zerstöbern.

Der Vater hatte sich nach Tisch zurückgezogen und Mirjam war auch in ihr Zimmer gegangen; sie liebte die Guitarre. –

»Gut geschlafen, Schwesterchen?« begann er endlich.

»Das ist jedenfalls schon lange vorüber, – es ist jetzt bekanntlich nachmittags ½2 Uhr.«

»Hatte aber heute eigentlich noch gar nicht die Ehre!«

»Es war mir auch nicht bälder möglich, – und Du warst ja dann fort bis zu Tisch.«

»Aber jetzt bin ich da!«

Das waren so die geschickt oder ungeschickt angelegten Minen und Gegenminen für den bevorstehenden Kampf. Er mußte ja jetzt kommen.

Rahel nahm sich fest vor, recht ruhig zu bleiben. Und trotz anfänglichen Widerstrebens beschloß sie schließlich doch, das Gespräch selber zu beginnen und recht herzlich und einfach, recht warm und geschwisterlich zu reden, wieder ganz so, wie es ihr ums Herz war, – damit doch auch etwas dabei herauskomme, und damit vor allem die Spitzen und Ecken wegblieben. Auf der andern Seite aber gehörte eine ganz offene Aussprache ihrer vollen Überzeugung dazu, und das brachte auch wieder neue Schwierigkeiten. Und doch begann sie:

»Arthur! Darf ich noch einmal von Jerusalem anfangen? ich muß es fast.«

»Nur zu!«

»Dort glauben alle, die Zeit des Messias sei nicht mehr fern, der Messias werde bald kommen.«

»Warum?«

Sie sah zu ihm hinüber – wegen des Tones, in dem er gefragt hatte, und wegen der knappen Frage. Ansehen ließ er sich übrigens nichts.

»Nun, weil so viel Warten und Sehnen darnach ist. Es ist doch eigentlich eine merkwürdige Zeit, – einesteils der Jubel, wie weit wir jetzt gekommen sind in der Welt, und andernteils überall wieder das Drängen und Sehnen nach Neuem, Besserem.«

»Das ist aber kein Beweis; so war es noch immer, gerade auch nach großen Ereignissen und in großen Zeiten. Jede Zeit hat ihre Art und jede zugleich ihre besonderen Erwartungen. Ob sie sich erfüllen, ist eine andere Frage.«

»Aber die Juden in Jerusalem rüsten sich und hoffen, der Messias komme bald. Könnte das nicht sein? wir haben doch eine merkwürdige Zeit.«

»Es wird noch allerlei passieren in der Welt, woran man jetzt nicht denkt.«

»Aber an das denkt man also, glaubt dran und wartet drauf!«

»Wer?«

»Nun, wir!« – sagte sie ebenso kurz, unangenehm berührt durch seine Kürze.

Es war ja eigentlich auch genug gefragt und ebenso auch genug geantwortet. – Daß er und seinesgleichen nicht dran glauben und nicht darauf warten, war ja deutlich und war natürlich. Daß sie und ihresgleichen dran glaube oder glauben möchte, und eigentlich darauf warte und hoffe, das hatte sie ja schon deutlich genug ausgesprochen.

Er hätte am liebsten gesagt: das sind alles wieder Sentimentalitäten. Aber er sagte es nicht, sondern erwiderte: »Du wirst aber zugeben, daß man in dergleichen Dingen sich sehr täuschen kann. Man ist Kind seiner Zeit, in seinen Gedanken abhängig von den Bewegungen seiner Zeit, und da giebt es immer solche Hoffnungen und Träumereien, – wollte sagen Enttäuschungen! – wenn es dann eben doch ein wenig anders kommt.«

Sie sah zu ihm herüber, – aber er hatte sich ja selbst korrigiert.

»Aber die Hoffnung auf einen Messias ist doch uralt,« sagte sie jetzt, »und immer neu bestätigt durch Gesetz und Propheten, sie ist auch immer geglaubt worden und nie verloren gegangen, – und eigentlich höchst natürlich dieser unvollkommenen Welt gegenüber,« setzte sie hinzu.

»Ja natürlich! – höchst natürlich. Es ist eben auch eine Hoffnung, ein Wunsch, ein Gedanke, wie wir Menschen viele haben, – alles ganz natürlich!«

»Aber ein edler, tiefer, hochidealer Gedanke!«

»Den wir lassen sollten.«

»Den ich nimmermehr missen möchte!«

»Warum nicht gar!«

»Nimmermehr!!« –

Jetzt war wieder alles mit einemmal auf die Spitze getrieben! Beide schwiegen. – Der erste Teil des Gefechts war vorüber; erreicht war nichts als die Aufklärung über die gegenseitige Stellung oder eigentlich nur die Bestätigung dieser Aufklärung, – denn diese selbst war ja mit dem gestrigen Tag schon zum Voraus gegeben. So stand man denn einander unmittelbar zum Kampf gegenüber. Der Kampf begann.

»Arthur! sage: Was hat unser Volk erzogen, verbunden, zusammengehalten, durch alle Nöten und Gefahren hindurch getröstet, mit Kraft und Mut erfüllt? – was anders als die Messiashoffnung! Und was bringt uns noch heutigentags in eine Einheit zusammen, in eine geistige Einheit bei aller Zerstreuung in der weiten Welt? was anders als dieser Glaube, diese Hoffnung auf einen Messias?!«

»Schwester! sage: Was hat unseres Volkes unbeugsame Zähigkeit zu einem Trotz gesteigert, welchen andere Völker einfach unerträglich fanden? was hat bei ihm Wahnbilder erzeugt, mit welchen es tollkühn vorwärts ging, statt die Zeit zu verstehen? was hat ihm vor alters schon, schon bei der Zerstörung Jerusalems, den Todesstoß gegeben? – was anders als die von Christen und von Juden übertriebene Messiasidee! Und was hat ihm seitdem die Verfolgungen eingetragen, die Güterberaubungen und Landesverweisungen ohne Zahl, in allen Ländern und zu allen Zeiten, bald hier, bald dort, bald so, bald anders? was anders als die Messiasidee!? – sei es nun die Messiasidee bei Juden oder bei Christen! – Kannst Du das leugnen, Rahel? – Und nun wollt Ihr wieder, – die in Jerusalem meine ich, – die alte Messiasidee zu Ehren bringen, daß sie uns wieder zu Grund richte? Soll wirklich der alte Tanz wieder los gehen, der Totentanz um die Messiasidee?! Seht Euch vor! das spitzt die Verhältnisse zu, das ertragen andere Völker nicht! – dann ist es um unsere Herrschaft geschehen!«

»Arthur, Du zerstößest mir meinen heiligsten Glauben, meine schönste Hoffnung!« sagte sie tief getroffen.

»Ich rede auch aus innerster Überzeugung, so gut wie Du!« war seine Antwort. –

Eine Weile hatte sie Arbeit damit, wie wenn die Schlacht geschlagen ist, eine blutige Schlacht, von der man noch nicht weiß, ob gesiegt ward oder ob verloren ist. Aber Arbeit giebt es genug an Verwundeten und mit Toten, an Sammlung und neuer Stellungnahme.

Ja, sie übersah ein ganzes Schlachtfeld. Also diese Menge Greuel vergangener Zeiten, diese Verfolgungen und Quälereien ihres Volkes von alters her, das soll alles der Messias, der Messiasgedanke verschuldet haben? das wäre doch gräßlich! Gerade der Kern und Stern ihres Glaubens soll das verschuldet haben? – dann ist alles, alles aus, was Glauben und was Hoffen heißt! Dann ist die ganze Erde nur ein Schlachtfeld, die ganze Geschichte nur ein Totengericht, – der ganze Glaube dann freilich auch nichts als Wahn und Trug, wenn auch ein noch so süßer Wahn, doch Wahn und Trug, und als solcher nur um so verwerflicher!

Halt! Sammlung und neue Stellungnahme! Dann wäre die Religion überhaupt, und zwar alle Religion überhaupt verantwortlich für alle Kriege und alles Blutvergießen in der weiten Welt, für all die Erbitterungen und Verbitterungen blutigen und heißen Kämpfens und Ringens, – dann aber wäre Gott selbst anzuklagen; Gott selbst, ja schon die Gottesidee selbst wäre verwerflich, ja das Verwerflichste von allem, was es giebt und was sich denken läßt.

Nur Mut, Rahel! ein Frauenherz fühlt nicht bloß, es erkennt auch. ›Die Religion gerade führt es zum tiefsten Denken hin,‹ – ›die Religion giebt und nimmt die tiefsten Rätsel!‹ da hast Du ganz recht!

»Arthur!« sagte sie, »die Messiasidee hat das nicht verschuldet, so wenig als die Religion die Religionskriege verschuldet hat. Wo käme man damit hin, wenn man das behaupten wollte! Dann wäre auch Gott, der alleinweise, gute Gott ... er selber trüge die Schuld an all diesem Wirrwarr in der Welt.«

Arthur sagte darauf nichts, gar nichts. Er schien einmal die Achsel zu zucken, als sie hinübersah, aber es war vielleicht nicht so.

»Nun! Was ist denn dann Deine Meinung über diese Idee, was ist Deine eigentliche Meinung darüber? Rede doch!«

»Was meine Meinung sei, meine eigentliche Meinung? – Die Idee lasse ich erst noch gelten, aber laß mir einen kommenden Messias aus dem Spiel! Das giebt es nicht.«

»Wieso?«

»Was geht das uns heutzutage an,« fuhr Arthur fort, »wenn man es sich früher so gedacht hat, ein persönlicher Messias werde kommen? Du siehst doch, Rahel! die Christen haben das geglaubt vor 2000 Jahren schon und haben sich darüber plagen, verfolgen, kreuzigen lassen, und dann haben sie darüber uns Juden geplagt, verfolgt, gekreuzigt, und was ist sonst nicht alles gekommen! Unsere Väter aber hatten diesen Messias verworfen und haben höchst wahrscheinlich gut daran gethan; – wenn sie nur auch die ganze Sache von dem an selber gelassen hätten! Aber jedenfalls hat die Christen ihr Messias nicht reich gemacht, – wir Juden aber sind ohne ihn, ohne einen Messias reich geworden, – oder nicht? oder meinetwegen oft arm gemacht worden, durch die messias-fanatischen Christen wieder arm geworden, aber immer wieder sind wir reich geworden, Rahel, immer wieder reich!«

»Nun also?!«

»Also laß den Messias weg!«

»Also soll es keinen Messias geben, soll keiner mehr kommen?«

»Verstehe mich, Rahel! Die Messiasidee mag ja ihren Wahrheitskern haben, aber die Idee nur und einen Kern nur. Person und Schale aber laß weg!«

»›Person und Schale!‹ – ist Person Schale?« spottete Rahel.

»Laß das, Rahel! wenn das Bild nicht ganz paßt. Ja allerdings, die Personifikation der Idee ist ein Wahn, die Idee hat einen Kern, das gebe ich zu.«

»Und was ist der?«

»Nun, Rahel! Der ganze Geist unseres Volkes, seine zähe Kraft, seine unermüdliche Beweglichkeit, – seine ›Kautschuknatur‹ sollen meinetwegen unsere Verächter sagen, – ›sein starker Wille‹, wollen wir es heißen! Sieh, das ist der Kern der Sache! Und hat dieser Kern nicht Früchte getragen? Selbst auf unfruchtbarem Boden ist diese Pflanze gewachsen, überallhin hat sie sich verpflanzen lassen, selbst der Wüste hat sie Nahrung entnommen, bei fernen halbwilden Völkern klammerte sie sich an und rankte sich empor; im dunkeln Weltteil, in Abessinien, blieb sie Jahrhunderte still verborgen, und auf dem offenen Markt des Völkerlebens scheute sie das Licht des Tages nicht! – Rahel, hörst Du mich? Habe ich mein Volk nicht auch lieb, wenn ich so spreche? Habe ich unsere Väter verleugnet, wenn ich ein wenig Klärung und Aufklärung in – verzeihe mir, in ein wenig dunkle und dumpfe Ideen hineinbringe? – Habe ich dann keinen Messias, Rahel? – – Ich will es Dir sagen: Unsere Energie ist unser Messias, unsere praktische Lebensschulung ist sein Weg, unser Einfluß, den wir in aller Welt haben, sind die Wunderthaten unseres Messias, unser werdender und wachsender Einfluß in allen Berufsarten und Lebensstellungen, im praktischen Beruf und in allen Beamtungen, das ist unser Messias, Rahel! Unsere immer wachsende Machtstellung ist mein Messias, unser Geld und sein Rollen, unser allgewaltiges Geld und die Rolle, die es spielt in der Welt, in der weiten Welt und in der großen Welt, – das, Rahel, das ist mein Messias!«

Rahel war Jüdin, sie hatte Sinn für die entwickelten Gedanken, aber gerade die Art dieser Aussprache, die Spitze, die dem Gedanken gegeben ward, der Schluß gerade – war ihr doch durch und durch unsympatisch und eigentlich abstoßend, unheimlich, schrecklich. Was bleibt da von Glauben und Hoffen, was von Gott und Religion übrig? ›Die Idee,‹ hatte Arthur gesagt, ›Kern der Idee,‹ hatte er gesagt, – aber gerade die Idee und gerade der innerste Kern der Idee war ausgeleert, zertrümmert, mit Füßen getreten von ihm! Aus der tiefsten religiösen Idee ward vom eigenen Bruder – vom eigenen Bruder! – die trivialste Sache, die brutalste Gewalt gemacht. Wenn das alles ist, dann ist nicht nur ein Messias nichts, sondern auch Religion ist dann nichts; dann ist nicht nur Religion nichts, sondern auch Gott ist dann nichts mehr, – sie erkannte das jetzt noch klarer als vorhin, – ja, dann ist nicht nur Gott nichts, sondern dann ist auch der Mensch nichts mehr. Dann ist alles, alles aus! Dann ist das Leben erst recht ein ›Wahn‹ und eine elende ›Träumerei‹! und zwar eine Träumerei, aus welcher Erwachen Wahnsinn brächte und Tod, absoluten Tod forderte. O grausame Ideenwelt, dieser rein materialistische Aufbau von sogenannten Gedanken! O Frauenherz! du triffst doch wieder das Rechte, du findest doch wieder den rechten Weg aus diesen Wirrnissen menschlichen Vernunftstolzes!

Sie hatte nie so klar erkannt, daß die Messiasidee eine innerst religiöse Idee sei, nicht nur eine jüdisch-nationale, sie hatte sich nie vorher so innerlich von ihr ergriffen gefühlt, wie jetzt gerade. Wenn man einen Diamant verliert und muß ihn suchen im Staub und im Kot, muß sich bücken und darnach tasten im Staub und Kot, muß seufzen und sich ängsten um das liebe, kostbare Kleinod, dann ist es nachher doppelt teuerwert, wird doppelt wertgehalten, oft betrachtet, treu gehütet, fast möchte ich sagen: heilig gehalten.

Ja, heilig gehalten! Das Gespräch ging aus, – mit dem Bruder ging es aus, – ein paar abwickelnde Redensarten wurden noch gewechselt, aber weiter nicht, – mit Gott aber redete sie weiter und das Gespräch ihres Herzens vor Gott war Klage und Leid, Kummer und Fürbitte, aber auch Lob und Preis, ja Gelöbnis und heiligste Selbstverpflichtung. Sie hatte etwas verloren – und wiedergewonnen. Aber ach! den Bruder hatte sie wiederzugewinnen geglaubt und hatte ihn verloren! – Auf immer? sie wußte es jetzt nicht; sie wußte ja überhaupt nicht viel vom ›ewigen Leben‹.


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