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V. Kapitel.
In der Stadt.

Motto:

Lebhaft wurden die Gassen; denn wohl war bevölkert das Städtchen.
Mancher Fabriken befliß man sich da und manch s Gewerbes.

Göthe, Hermann und Dorothea

Wenige Tage nach diesem idyllischen Erlebnis gab es das Gespräch, daß Ruben und Rahel die Stadt zu besuchen wünschten.

»Es soll uns sehr freuen, Euch begleiten zu dürfen,« sagte Otto alsbald.

»Desto besser, wenn Ihr mitgehen könnt!« erwiderten beide.

»Mich verlangt jedesmal wieder, die Stätte meiner Kindheit zu schauen, so oft ich ins Land komme,« fügte Rahel innig bei.

»Und Ihr habt uns schon so viel von den großen Neubauten erzählt,« bemerkte Ruben.

»Ja, aus der alten Zeit ist freilich nicht mehr viel übrig,« erwiderte Otto.

»Und was noch übrig ist, ist nimmer schön neben den prächtigen Neubauten,« bemerkte Gertrud.

»Das glaube ich, ausgenommen die alten Türme und Mauerreste, welche aus viel älterer Zeit stammen,« sagte Rahel.

»Ja, allerdings, und ebenso was in altertümlichem Stil noch dazu gebaut ist, – das gehört ja eigentlich zum Schönsten von allem,« antwortete Otto.

»Nach meinem Geschmack ganz gewiß!« war Rubens Entgegnung; »für einen denkenden Menschen ist überhaupt nicht das Neue das Schönste, sondern das geschichtlich Gewordene und zugleich geistig Gewichtige; im Bestehenden den Wechsel zu erstreben, zugleich aber im Wechsel das Bestehende zu ehren, das ist mit ein Geheimnis aller wahren Baukunst.«

»Ja,« sagte Otto, »es wäre nichts Ideales, immer nur nach Schönem, Großem und Neuem zu verlangen; mit den Errungenschaften der Neuzeit auch die Erinnerungen der Vergangenheit zu verbinden, das ist doch allein das Richtige.«

»Wie es keinen Baum giebt, der mit der Krone anfängt, oder wie keiner ohne Stamm schön wäre, nicht wahr?« fragte Gertrud.

Otto ergänzte: »Oder vielleicht besser: wie keine Wissenschaft ohne Verbindung mit ihrer eigenen Geschichte, so auch keine ideale Baukunst ohne die Ehrfurcht vor dem Altertum.«

»Daher wird es wohl kommen,« sagte Rahel aufstehend, »daß selbst heutzutage, in der Zeit der vollendeten Baukunst, sogar Ruinen uns oft ganz besonders anmuten.«

»Und daß man, alte Erinnerungen zu pflegen, in ihrer Nähe oft Neubauten in ihrem Stile aufrichtet,« fügte Otto zustimmend bei.

»Aber, Ihr Männer, wir müssen wirklich aufbrechen, wenn wir die Stadt heute besichtigen wollen,« sagte Gertrud, sich jetzt auch fertigmachend; »es ist ein Stück Arbeit für den, der sich näher interessiert, jedenfalls für uns Frauen. Unsere Neger stehen schon bereit.«

Man brach sofort auf, indem man beschloß, zu Fuß abwärts zu gehen. Es war vormittags halb nenn Uhr.

»Elisa, willst Du uns heute Abend mit dem Wagen entgegenkommen? – Heimwärts fahren wir doch, Ihr Frauen, nicht wahr?« fragte Otto.

»Gewiß,« erwiderte Gertrud, »es wird schon gut sein.«

»Und wann werde ich kommen dürfen?« frug Elisa.

»Ich denke neun Uhr,« antwortete der Hausherr; »wir werden bei Kuno's sein.« –

»Wie freue ich mich auf die alten Freunde!« sagte Rahel unterwegs.

»Es sind edle Menschen, treue Freunde, – mit unter den Besten aus der alten Zeit,« antwortete Otto.

»Wie gerne erinnere ich mich immer Eures trefflichen Nachbars, liebe Rahel!« sagte Ruben darauf zu seiner Gattin.

»Sie haben auch treffliche Kinder; wir kommen viel zusammen,« bemerkte Gertrud.

»Wie alt sind diese jetzt?« frug Rahel.

»Bertrand ist fünfundzwanzigjährig, sein ähnlicher Vater, ganz so wie dieser vor jetzt dreißig Jahren war; Ada, die Tochter, dreiundzwanzigjährig, – so sahst Du einst aus, Gertrud,« lächelte Otto.

»Nun, dann ist sie schön!« sagte Ruben, zu Otto emporblickend, der hinter ihm ging.

»Ihr seid böse Männer,« wehrte Gertrud.

»Bitte, bitte!« entgegnete Rahel, »ich verstehe auch etwas davon und muß hier den Männern ganz beistimmen.«

»So kommt doch nur vorwärts!« mahnte Gertrud.

»Nicht wahr, es zieht Dich selbst zu den Freunden?« sagte Rahel schmeichelnd; »Ihr seid von lange her gleichgestimmte Seelen.«

»Ja, das sind wir allerdings,« antwortete Gertrud.

»Kuno war bald unter den Ergriffensten dazumal, als vor zweiunddreißig Jahren die große Trübsal über die Christen bei uns losbrach,« ergänzte Otto, »und seine Frau, damals noch ein Mädchen von zwanzig Jahren, so etwa wie jetzt die Tochter ist, hat in jener Zeit Unsägliches durchgemacht in ihrem Herzen. Es war ja eine zarte, innige Liebe, welche sie lange Zeit ganz stille mit ihrem Kuno verband. Oder wißt Ihr es nicht mehr?«

»Wie könnte das ich gerade vergessen?« sprach Rahel ernst, sehr ernst, und wurde ganz stille. Sie blieb ein wenig zurück, um unbemerkt eine Thräne zu trocknen.

Man brach jetzt schnell ab. Man war ohnedem der Stadt schon näher gekommen; denn auf dem kürzesten Weg hatte man den Abstieg gemacht und kam so unmittelbar über der unteren Stadt zu Thal, da, wo diese über die Thal- und Wiesenfläche weg dem Dörflein entgegenblickt. Diese Seite der Stadt machte gerade jetzt, von der Herbstsonne schon freundlich beschienen, einen überaus stattlichen Eindruck, denn eine alte oder vielmehr in altertümlichem Stil neuerbaute Stadtmauer lies hier quer über das ganze Thal hinweg, an ihren beiden Endpunkten sogar etwas gegen die Bergwand emporsteigend, je bis zu einem runden Eckturm, mit dem die Mauer drüben wie hüben abschloß. Diese zwei Ecktürme, in ihrer halben Höhe beide je von der Bergseite her durch ein rundes Pförtchen leicht zu ersteigen, boten auf ihrem ringsumlaufenden steinernen Altankranz wirklich schöne Aussichtspunkte, sowohl gegen die hier offene Thalseite und auf den Flußlauf dem Dörfchen zu, als auch in die Stadt selbst hinein mit ihren gewaltigen Neubauten, endlich noch auf die langgedehnten Häuser- und Gartenterrassen über der Stadt auf beiden Thalseiten, welche, in zwei gleichen Reihen über einander aufgestuft, rechts und links den Berg entlang sich so anmutig zu schauen gaben.

Aber auch schon die Stadtmauer selbst, wie sie hier die ganze Breite des Thals quer durchlief, bildete eine schöne Zierde der Gegend und eine stattliche Erinnerung an das hohe Alter und die reiche Geschichte der Stadt. Doch nicht nur das, noch mehr: man sah nämlich sofort, daß diese mächtige Stadtmauerfront zugleich praktischen Zwecken dienen sollte. Sie war von dem einen runden Eckturm bis zum andern durch vier starke viereckige Türme in fast gleiche Teile eingeteilt. Die zwei rechts und links je zu äußerst liegenden waren Thortürme, – der eine, auf unserer Thalseite gelegen, ein prächtiges, wohlgeschmücktes Stadtthor für die breite Landstraße, der andere, nahe bei der jenseitigen Thalwand, öffnete sein gleich weit- und hochgesprengtes Thor für einen ebenso breiten Fahr- und Spazierweg.

Fast genau in der Mitte der ganzen Stadtmauer aber war dieselbe von dem hier in starker, stolzer Schwellung aus der Stadt herausdrängenden Flußlauf durchbrochen, – und hier nun standen, recht stattlich anzusehen, wieder zur Rechten und zur Linken des mächtig einherströmenden Flusses, zwei weitere Türme, mit ihrem starken Viereckbau bis unmittelbar an den Fluß herantretend. Es zeigte sich sofort, daß hier die höchste Kraft des Flusses zu einem großen Wasserwerk benützt ward, welches mit der daraus entwickelten elektrischen Kraft einerseits und, soweit noch nötig, durch Dampfkraft andererseits, den Bewohnern der Stadt den mächtigsten Arbeitsdienst zu leisten berufen war, welchen die Neuzeit kennt. Die gesamte Einrichtung für die hier vereinigten Werke aber war in diesen beiden starken Türmen zur Rechten und zur Linken des Flusses untergebracht.

Hier nun schlossen sich schon unmittelbar hinter der Mauer zu beiden Seiten des Flusses die großen Werkstätten und freien Arbeitsplätze an, welche zusammen ein volles Drittel der Stadt, ›die untere Stadt‹, bildeten. Da waren auf der einen Seite, von der Mauer an flußaufwärts gerechnet, zuerst die Werkstätten der Schreinerei, dann diese selbst, darauf die Klempner-, endlich die Schuhmacher- und noch die Schneiderwerkstätte. Ebenso auf der andern Flußseite, wieder von der Mauer an flußaufwärts gezählt, lagen die Werkstätten der Schmiede, der Schlosser und der Wagner, dann die Metzgerei und die Bäckerei. Alle diese Werkstätten waren hoch, luftig und licht gebaut, mit allen zweckdienlichen Einrichtungen aufs beste versehen, – der Raum zwischen den einzelnen breit und immer gehörig abgegrenzt, doch alle durch Schienenstränge untereinander und mit den Mittelpunkten der Stadt praktisch verbunden; auch die gegenüberliegenden Werkstätten hatten durch eiserne Brücken über den Fluß hinweg bequeme Verbindung miteinander. Zugleich bot das Ganze schon von der Stadtmauer aus einen überaus großartigen Anblick. Da wimmelte es von Arbeitern, welche emsig ab- und zugingen, und deren Wesen und Treiben schon auf den freien Plätzen den Eindruck rührigen Arbeitsernstes, wie zugleich fröhlicher Arbeitsgemeinschaft machte.

Hatte man diese untere Stadt flußaufwärts ganz durchschritten, so kam man an eine sehr breite, den Fluß völlig überbrückende Querstraße mit stattlichen Hochbauten, offenbar den Lagerräumen für die fertigen Fabrikate der Werkstätten; wer aber hier sofort hindurchging, der gelangte an die schöne Vorderfront dieser Hochbauten und damit in eine zweite, sehr breite Querstraße, welche einen wirklich imposanten Eindruck machte durch die mit hohen Säulengängen geschmückten Bazare, in welchen alles in der unteren Stadt Fabrizierte sich zur Schau und zum Kauf darbot, während auf der gegenüberliegenden Seite dieser zweiten Querstraße die Gast- und Logierhäuser der Stadt lagen.

Hier war man schon in der ›mittleren Stadt‹ angekommen, welche sich von da aus noch weit ausdehnte. Die Rückseite oder Gartenseite der Gast- und Logierhäuser öffnete nämlich den Blick in einen großen Park mit Springbrunnen und schattigen Anlagen. Sowohl zur Rechten als zur Linken des überall mit leichtgeschwungenen Bogenbrücken überspannten Flusses sah man viele öffentliche Gebäude, vor allem das Stadthaus, sodann die verschiedenen Versammlungsräume für Gesellschaften, Festlichkeiten, Volksversammlungen u. s. w., weiterhin, immer wieder durch schattige Anlagen und freie Plätze getrennt, Schulhäuser, Museen, Lehrsäle aller Art. Eigentliche Wohnhäuser oder Familienhäuser waren im ganzen Thalgrund kaum irgendwo wahrzunehmen, weder in der unteren noch in der mittleren Stadt. Nur je und je, da wo Bauplätze noch offen lagen, sah man es diesen an, daß hier in früheren Zeiten überall die Familienwohnungen gestanden waren. Doch waren diese alten Familienwohnungen alle schon abgetragen, oder war man damit im Abbruch begriffen.

Wandte man dagegen seinen Blick aus dieser ganzen Thalstadt, der »unteren« und der »mittleren«, auf die Thalwände rechts und links, so dehnte sich hier nun die schon von der Stadtmauer und ihren beiden Ecktürmen aus sichtbare, parallel übereinander liegende Doppelreihe von Hochgärten und Terrassenhäusern weithin aus, und zwar sowohl an der rechten, wie an der linken Thalwand, das ganze Thal entlang zu beiden Seiten am Berg Hang sich hinziehend – in ihrer Erhabenheit über den gemeinsamen Arbeits- und Verkehrsgebäuden im Thalgrunde, zusammen mit ihren Kirchen rechts und links, ein schönes Bild lieblichen Friedens und geheiligten Familienlebens darbietend.

Dahinauf strebten unsere Freunde, nachdem sie vormittags die Werkstätten der unteren Stadt durchwandert, dann in einem der Gasthäuser zu Tisch gewesen und nachmittags vollends die öffentlichen Gebäude der mittleren Stadt sich angesehen hatten. Die Neger hatten sie bei Kuno's schon angekündigt, und als sie nun gegen Abend ziemlich spät endlich eintrafen, waren sie dort längst erwartet gewesen und wurden hochwillkommen geheißen.


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