Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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LXVI. Kapitel.

Englands und Rußlands Freiheit.

Er besuchte London und hatte den stärksten Eindruck von den klassischen Stätten des Verbrechens und des Todes: dem Tower und der Westminster-Abtei. Im großen und ganzen fand er die Stadt weit behaglicher, als er erwartet hatte; freilich war es philiströse Behaglichkeit. Und neben der Philistrosität fand er, wie ganz selbstverständlich, die grimmigste Herzlosigkeit gegen das Elend. In den Nächten saßen die Armen und Obdachlosen, wie die Heringe aneinander gepreßt, auf den Promenadenbänken des Victoria Embankment und schliefen, einer beim andern Wärme suchend. Quer über den Fußsteig, auf den bloßen Steinen lagen die Ärmsten, daß man aufmerken mußte, um nicht über sie zu stolpern. Am Morgen sah man verlumpte Weiber mit zerfressenen Gesichtern, die vor einer Spiegelglasscherbe mit einem zerbrochenen Kamm ihr verfilztes Haar zu schlichten suchten. Wie ohnmächtig war dieses reichste Volk der Welt, wenn es diese Schande nicht hindern konnte! Es hatte den falschen Freiheitsbegriff, der den Verbrechern an der Menschheit so herrlich zustatten kommt und die Organisation eines Volkes unmöglich macht.

Und er fuhr durch die end- und trostlosen Ebenen des westlichen Rußlands, die auf die Dauer ein kälteres Grausen erwecken als die finstersten Wände und Klüfte eines Hochgebirges, und las in den Städten der Ostseeprovinzen und in Petersburg. Er sah diese komisch furchtbare Halbasiatenkultur, die in einer Völlerei von Marmor, Gold und Edelsteinen das Höchste der Kunst zu geben glaubte, und er, der in manchem schlichten Dorfkirchlein Schleswig-Holsteins und in manchem kümmerlichen Waldkapellchen Tirols ganz eigene und ganz wundersame Andachten gefunden hatte, stand in der Isaakskathedrale, der teuersten Kirche der Welt – denn sie hat (man denke!) 23 Millionen Rubel gekostet – so kalt und unbewegt wie in einem Eisenbahnwartesaal. Er war so ungerührt, daß ihn die Bemerkung des Küsters, in das Allerheiligste dürfe kein Weib hinein, und wenn es selbst die Kaiserin wäre, lebhaft amüsierte. Diese Kultur ist noch nicht zur Erkenntnis des Weibes gekommen. Diese Kultur baute über der Stätte, wo Alexander II. durch eine Bombe ermordet worden war, eine Sühnekirche und bewahrte innerhalb der Kirche, von einem Gitter umgeben und einem Baldachin überwölbt, die Stelle des von der Bombe zerrissenen Straßenpflasters wie einen fürchterlichen Knalleffekt, und sie glaubte, daß man Verbrechen durch Frömmigkeit sühnen könne. Er stand im dichtesten Gedränge der Gläubigen und sah, wie einige den schmutzigen Fußboden küßten – da drängte er eilig hinaus, um Luft zu schöpfen. Er hörte von Deutschen, wie ein russischer Oberst die Schuldigen an einem Meuchelmord, der auf einem deutschen Gute an der Herrin verübt worden war, dadurch »ermittelte«, daß er gleich dem ersten Gutsangestellten, der nichts wissen wollte, 200 Knutenhiebe diktierte – er sagte mit unbewegtem Gesicht nur dwjesti (»zweihundert«) – da bekam er alles heraus; mit 200 Knutenhieben bekommt man alles heraus. Er hörte von Deutschen, daß jüdische Knaben, wenn ihre Mitschüler einen Ausflug nach einem anderen Orte machten, nicht teilnehmen durften, weil sie den »Wohnort nicht wechseln« durften, und er begriff an seiner eigenen Empörung, wieviel Haß und Wut sich in solch einer jungen Seele zusammenbrauen muß. Er hörte die Deutschen in noch lebendigem Schrecken erzählen von den Greueln, die Esthen und Letten im Revolutionsjahre an ihnen verübt und denen die russische Regierung eine hübsche Weile mit verschränkten Armen zugesehen hatte, weil es ihr Zweckmäßig schien, wenn die Deutschen zur Ader gelassen würden. Und was Asmussen am tiefsten ins Herz schnitt, das war die Beobachtung, die ihm von den Deutschen bestätigt wurde, daß das Volk, auf dem diese »Kultur« lastete, daß diese Russen im Grunde ihrer Seele ein liebenswürdiges, kindlich gutes Volk waren.

Er mußte in Petersburg zweimal lesen und hätte dreimal und viermal vor vollen Häusern lesen können; so freuen sich die Deutschen in Rußland, wenn ein Bruder aus dem Mutterlande kommt. Er hatte sein Programm der russischen Polizei vorlegen müssen, und es saß auch ein russischer Überwachungsbeamter vor ihm und merkte mit gespannter Stirnhaut auf, daß Asmus »nichts sage, als was im Buche steht«; aber er sah dem guten Manne an, daß er keine Silbe verstand, und das wurde Asmussen denn auch bestätigt. Man führte ihn nach der Vorlesung in ein feines Restaurant, wo an den Wänden gedruckte Plakate hingen:

»Für die zertrümmerten Spiegelscheiben sind die Kellner haftbar«

und wo sich in einem Nebenzimmer Offiziere mit der Kunst befaßten, Sekt in ein Klavier zu gießen und dann darauf zu spielen. Man führte ihn mitten in der Nacht nach dem »Aquarium« hinaus, wo man aber inmitten der Petersburger Lebewelt, unter hübschen sibirischen Offizieren und mit Hilfe sehr schöner Damen nicht Wasser trank, und als er dann in bleich vom Monde erhellter Nacht zurückfuhr, an der Peter-Pauls-Festung und am Michailowpalaste vorbei, wo Paul I. an seiner eigenen Schärpe »starb«, da war ihm, als habe er keinen Tropfen Sekt getrunken und als starre aus all den klotzig-düsteren Palästen dieser Stadt durch irgendein dunkles Fenster das graugläserne Auge des Meuchelmords. In den Dschungeln Indiens, unter Tigern und Schlangen, dachte er, oder im letzten Verbrecherwinkel von Whitechapel wollte ich wohl ruhiger schlafen als hinter diesen Steinwällen, wenn ich der Zar wäre.

Als er die Eremitage besuchte, hieß es, daß die schönsten Niederländer wegen Neuordnung der Sammlung unter Verschluß und nicht zu sehen seien. Aber der Direktor ließ sich erweichen, und Asmus sah nun doch alle die van Dycks und Teniers und Ruisdaels – für Jakob van Ruisdael hatte er von je ein Privatkämmerchen in seinem Dichterherzen bereit – die Wouwermans, Dous und – 42 Rembrandts! In seiner überströmenden Freude drückte er dem Saaldiener, der aufgeschlossen hatte, einen Rubel in die Hand. Dieser Diener mußte mit einem andern in elektrischer Verbindung stehen; denn nach einem unmeßbar kleinen Zeitraum stand dieser andre vor Asmussen und erklärte, daß auch er einen eigentlich verbotenen Saal aufschließen werde. Asmus lächelte verbindlich und ließ sich einen Saal mit zahlreichen Kostbarkeiten der Juwelierkunst zeigen, obwohl er eigentlich von jeher an einem Marmelblümchen tausendmal mehr Freude gehabt hatte als an dem schwersten Diamantenhalsband der Welt. Als Asmus den zweiten Rubel entrichtet hatte, stand schon der dritte Diener da, der auch einen verbotenen Saal zu zeigen hatte; aber nun war er befriedigt.

Das rührendste Erlebnis seiner russischen Reise aber begegnete ihm, als er von Pernau nach Dorpat fuhr. Der Zug, der die größte Mühe hatte, die vorschriftsmäßige Langsamkeit innezuhalten und die planmäßige Fahrzeit auszufüllen – wenn es ein wenig bergab ging, war es unmöglich –, hielt in der Abenddämmerung wieder einmal bei einem kleinen Neste still, und Asmus stand am Fenster und kaufte von einer Bäuerin ein paar Äpfel. Da trat eine Frau an den Wagen heran und sagte:

»Wir sind gestern vier Stunden gefahren, um zu Ihrer Vorlesung zu kommen. Und nun wollten wir Sie bitten: kommen Sie doch auch hierher zu uns! Wir sind 37 Deutsche hier und würden es Ihnen nie vergessen.«

Selten hatte Asmussen eine Bitte ans Herz gegriffen wie diese, und selten war es ihm so schwer geworden, nein zu sagen. Andere Verpflichtungen geboten es. Diese Schwestern und Brüder schmachten nach deutschem Wort und Wesen wie Versprengte und Verlassene in der Wüste nach Wasser. –


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