Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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XV. Kapitel.

Ein furchtbarer Besuch.

Im August gab Hilde einem anscheinend gesunden Mädchen das Leben, das von der lebensfrohen Schwester der Mutter den Namen Gesa empfing. Man hatte eigentlich – der Abwechslung halber – einen Knaben erwartet; aber die Freude über das Neugeborene war darum nicht geringer. Das Herz der Eltern kannte keinen Unterschied zwischen Töchtern und Söhnen.

Graugelb, mit erstickender Schwüle, wälzte der August sich langsam dahin. Und eines Tages kam die erschreckende Kunde. Ein Bote der »Rostra« erschien in Geschäften des Vereins und brachte nebenher die Nachricht: In Hamburg ist die Cholera.

»Die Leichenhalle am Holstentor ist schon überfüllt,« flüsterte der Mann mit jenem gespannten Lächeln eines Menschen, der sich bewußt ist, eine sehr interessante Neuigkeit zu bringen.

»Es wird so schlimm nicht sein,« sagte Asmus zu Hilden, um sie zu beruhigen, »der gute Brinkmann erzählt gern Mordgeschichten.«

Aber es war noch weit schlimmer. Am folgenden Tage erfuhr man, daß die Dame aus Asien schon seit einer Woche inkognito in Hamburg weile und täglich größeres Verderben verbreite.

Asmus spazierte in die Stadt und nach dem Holstentor, um sich irgendwie durch den Augenschein zu überzeugen. Aber die Umgebung der Leichenhalle war in weitem Umkreis abgesperrt; nur von weitem sah er vor ihrem Eingang patrouillierende Schutzleute, aus- und einhuschende Menschen in unheimlicher Geschäftigkeit.

Von einem Fenster seiner Schule sah Asmus hinab ins Gängeviertel, in die ärmlichsten, schmutzigsten, verfallensten Winkel der alten Stadt. Da konnte man den ganzen Morgen zuschauen, wie sie aus den Häuserhöhlen hervorgeschleppt wurden: Tote – Kranke – Kranke – Tote.

Die Eltern schickten ihre Kinder aus Furcht vor der Ansteckung nicht mehr zur Schule, und Asmussens Kohorte schmolz von 50 zusammen auf 30, auf 20, auf 10. Da wurden alle Schulen geschlossen.

In einer Straße des benachbarten Altenberg stieß Asmus mit Dietrich von Löwenclau zusammen.

»Semper, mein Semper, wie geht es Ihnen, sind Sie gesund, sind Ihre liebe herrliche Frau und Ihre entzückenden Kinder gesund? – Nun Gott sei Dank! – Es ist fürch–ter–lich!! mein lieber Dichter. Denken Sie: ich wohnte die letzten drei Tage und Nächte in dem schauderhaftesten Seuchenwinkel, dem verrufensten Viertel Hamburgs, unter Dirnen, Zuhältern, Räubern und Mördern, es war un– glaub–lich interessant!!! Sieben Tote waren in dem Hause, in dem ich wohnte!! Und ein ent–zücken–des Mädel!!! ›Mein Hindumädchen‹ nenn' ich sie in meinem Gedicht ›Die Pest‹!!! Ich schick' es Ihnen. Da sag' ich's grad heraus, daß die verfluchten Kafseesäcke die Seuche verheimlicht haben,

»Daß die Kommerzen nicht darunter litten,

»hahaaa, sie werden Feuer spucken, diese Bestien!! Vielleicht verklagen sie mich sogar – das wäre ja himmlisch!!! Vielleicht erfahren die Teutschen dann, daß ich lebe!! Und benennen nach mir die Straße, in der ich die letzten drei Nächte zubrachte!!! ›Die Unsterblichkeit ist ein großer Gedanke,‹ sagt unser göttlicher Klopstock – den Hut ab, den Hut ab!«

Er zog tief den Hut.

»Lieben Sie auch den vierten Gesang seines ›Messias‹ so sehr wie ich?«

Ja, das tat Asmus und noch manche andere Stelle.

»Leben Sie wohl, leben Sie wohl, liebster Freund, Gott erhalte Sie und alle Ihre Lieben in dieser furchtbaren Zeit!! Sie wissen, wie ehrlich ich das meine!!«

Asmus wußte es; aber er fühlte es auch an dem heißlebendigen Strome, der durch den Druck der Hand in ihn hinüberrann.

Er befand sich in einem merkwürdigen Zwiespalt. Die Rücksicht auf die Seinen legte ihm Vorsicht nahe; der Drang des Dichters, zu schauen, zu erleben, trieb ihn immer wieder in die Stadt, in die Nähe des Entsetzens. Mitten in der Stadt begegnete ihm eines Morgens Dr. Jonathan Rosenberg mit einer Binde um den Ärmel.

»Nanu,« rief Asmus, »hast du ein Amt?«

»Ich bin bei der Sanitätskolonne,« rief er fröhlich. »Ich desinfiziere Krankenstuben, hole Kranke ab, sammle verwaiste Kinder, weise Nahrungsmittel und wollene Decken an, kurz, bin sozusagen eine ›Behörde‹ und strotze von Beamtendünkel.«

»Und fürchtest dich nicht.«

»Warum soll ich mich fürchten, ich bin ja Junggeselle.«

Das war es. Auch Asmus hatte in diesen Tagen die überraschende Entdeckung gemacht, daß er, der unersättlich Lebenshungrige, den Tod eigentlich nicht fürchte. Er hatte förmlich in seiner Seele nach Todesfurcht gesucht, hatte sie durch alle erdenklichen Vorstellungen zu erwecken versucht – vergeblich.

Aber die Zurückbleibenden. Was würde aus ihnen werden, wenn er davonginge! Wie würde Hilde weinen, wie schrecklich würde sie weinen! Er wußte ja, wie er um sie weinen würde! Wenn er daran dachte, dann zerschlug ihn schier das Grauen.

Auch an seinem Hause rollten nun Stunde für Stunde die Wagen vorüber: Krankenwagen, Leichenwagen, die Wagen der Ärzte. Wer es irgend ermöglichen konnte, war der mörderischen Stadt so weit wie möglich entflohen – die Ärzte blieben auf dem Posten, Juden sowohl wie Christen.

In jedem Lufthauch, in jedem Stäubchen, in jedem Wassertropfen lauerte die Gefahr. Wehe, wenn nur ein Tropfen ungekochten Wassers die Lippen netzte – nicht einmal auf den Fußboden durfte ungekochtes Wasser kommen; es konnte der Tod sein. Die zarte, kaum eines Kindes genesene Hilde arbeitete wie die letzte, derbste Magd, kämpfte, eine stille Heldin, zitternd und dennoch ohne Wanken, für das zarte Leben des Säuglings, für das Leben all ihrer Lieben.

Und langsam wich das Grauen; die Wut der Würgerin ließ ersättigt nach; die Stadt tat einen ersten, tiefen Atemzug.

Ein befreundeter Redakteur schrieb aus Berlin: Schreiben Sie uns etwas über die Cholera. Und Asmus setzte sich hin und schrieb:


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