Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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XXXVIII. Kapitel.

Eine schlaflose, sonnenhelle Winternacht.

Wie denn überhaupt diese Tage des Wartens ein unaufhörliches Schwanken auf bewegter Fläche waren. Wenn er auf den Proben die natürlicherweise unfertige, stockende, oft unterbrochene Darstellung seines Werkes ohne Kostüm und Maske sah, so war ihm oft gottserbärmlich zu Mute; selbst eine höchst ansehnliche Frau macht vor der ersten Morgentoilette nicht immer einen vorteilhaften Eindruck. Wenn er dann aber sah, wie ein hoher alter Herr, der den Proben gelegentlich beiwohnte, sich bei gewissen Stellen die Augen trocknete, so wurde ihm wieder besser; ein Lustspiel, bei dem ein vielerfahrener Mann richtig weinen kann, ist selten ganz wertlos. Indessen: alle diese Stimmungen spielten doch nur auf der Oberfläche seines Wesens, und als sie ihm unbehaglich wurden, schnitt er sie ab »durch den bloßen Vorsatz des Willens«. Er wollte nicht mehr seekrank sein und war es nicht mehr. Als er am letzten Tage, einem sommerlich warmen Dezembermittage, seine Hilde wie einst vom Bahnhof holte, war er nur noch Glück und gedachte kaum mit flüchtigen Gedanken der bevorstehenden »Schicksalswende«. Eine in Dresden lebende Freundin seiner Schriften hatte das Paar zum Essen geladen; er aß mit gänzlich unerschüttertem Appetit die ganze stattliche Speisenfolge herunter und unterhielt sich vortrefflich, und im Hotel schlief er dann, während Hilde mit frommer Andacht Theatertoilette machte, eine ausgereckte Stunde tief und traumlos, wie man es auch sonst von Missetätern vor ihrer Hinrichtung berichten hört.

Das kam daher, daß er äußeren Umständen und Ereignissen nur selten einen tieferen Einfluß auf sein Inneres gestattete. Die großen Umwälzungen seines Lebens waren immer in seiner Seele und ziemlich unabhängig vom Lauf der Welt vor sich gegangen. Die Dinge sind das, was wir aus ihnen machen; das galt bei keinem Menschen mehr als bei Asmus Semper. Eine Ausnahme machte er: den Menschen, die er liebte, seinem Weib, seinen Kindern, seinen feuer- und wasserechten Freunden durfte nichts Schlimmes geschehen; was ihn sonst an äußeren Schicksalen traf, vermochte sein Gleichgewicht nicht zu erschüttern. Daß es dennoch Schicksale gibt, die uns gründlicher umwerfen als selbst das Leid unserer Lieben, daß es Dinge gibt, die nicht wir formen, sondern die uns formen, das sollte er erst später erfahren.

So saß er denn am Beginn der Vorstellung Hand in Hand mit seiner Geliebten ganz hinten im Dunkel einer Loge, wo ihn niemand sah und kannte, saß da, fast so ruhig wie bei einem fremden Stücke. Das dauerte so etwa fünf Minuten, da ging ein helles Lachen durchs ganze Haus. Das war Glück, und folgerichtig begann Herr Semper milde zu fiebern. Er zog seine Hand aus der Hand seiner Nachbarin, damit sich das Fieber nicht übertrage. Es wurde wieder und wieder gelacht: die Stimmung im Hause wurde immer besser, immer leuchtender, immer wärmer, und am Schlusse des Aktes rauschte stürmischer Beifall zur Bühne hinauf. Dem zweiten Akt erging es nicht schlechter, eher besser; gegen seinen Schluß winkte ein Theaterdiener den Verfasser aus der Loge heraus; der Generalintendant lasse bitten, sich dem Publiko zu zeigen. Das geschah bei gesteigertem Fieber drei- oder viermal, und dann wurde gleich auf der Bühne, hinter dem Vorhang, ein mündlicher Vertrag geschlossen: Asmus sollte sein nächstes Stück zuerst dem Dresdener Hoftheater anbieten; dafür wolle das Hoftheater sich wieder binnen drei Tagen entscheiden.

Im nächsten Akte gab es einen gefahrvollen Augenblick; in einer sehr ernsten Szene suchte der angestammte Komiker der Bühne einen Lacherfolg für sich herauszuschlagen. An solchen Augenblicken kann das Schicksal eines Dichters hängen; denn ein Publikum, das den Bann der Dichtung durchbrochen hat, ist schwer wieder einzufangen. Aber der Schauspieler hatte diesmal kein Glück; der Ernst der Zuhörer war stärker als seine Absicht. Alles ging gut; den falsch besetzten eleganten Mann nahm das Publikum hin als ein Geschöpf des Dichters, weil es sein wahres Geschöpf nicht kannte, und im übrigen war die Darstellung des Stückes ein vollkommener Genuß. Als Asmus nach dem Schlusse mit höchstem Fieber auf der Bühne erschien, brach der Beifall wie ein schwerer, warmer, prasselnder Gewitterregen auf ihn nieder; er sah in lauter helle, lächelnde, freundliche Gesichter, vernahm unaufhörliches Rufen, das er nicht verstand, und begriff nicht, woher auf einmal so viele gütige, sonnige, dem Nächsten holdgesinnte Menschen kämen. Er wußte ja bei all seinem Menschheitsglauben recht gut, daß die gütigen Menschen dünn gesät seien; darin mußte sich offenbar etwas geändert haben.

Die nächste Aufgabe war es nun, seiner Mutter, seinen Kindern und seinen Freunden die Siegesbotschaft durch den Draht mitzuteilen. Wer das für eine leichte Aufgabe halten würde, der würde sich irren. Zunächst galt es, jede Tasche dreimal nach Papier zu durchstöbern; denn auf den raffinierten Gedanken, sich dergleichen aus dem ganz nahegelegenen Regiezimmer zu holen, verfiel er nicht. Als er dann Papier hatte, fiel ihm ein, daß er dem technischen Personal wohl erst ein Geldgeschenk machen müsse, das zu seinem Glück einigermaßen im Verhältnis stehe; als das geschehen war, mußte wieder in allen Taschen nach einem Bleistift gesucht werden; dann mußte er erst dem vorübergehenden Inspizienten für seine gewissenhafte Wachsamkeit danken, und als ihm dann der Vorhangzieher barmherziger Weise einen Bleistift geliehen hatte, mußte das hartnäckige Zittern der Hand oder sagen wir lieber des ganzen Körpers überwunden werden. Wie er nun das Telegramm an seine Mutter schrieb, mußte er immer daran denken, wie seine Kinder springen würden; bei der Depesche an seine Kinder malte er sich aus, wie seine Mutter triumphieren werde, und als er die Nachricht an die Freunde abfaßte, mußte er bald an seine Mutter, bald an seine Kinder und bald an seine Freunde denken. Bevor er aber diese Depesche schrieb, mußte er erst den Theaterdiener um ein Glas Wasser bitten; denn sein Schlund schmerzte ihm vor Trockenheit. Als dann die drei Schriftstücke fertig waren, machte ihn der Diener darauf aufmerksam, daß auf dem einen die Ortsangabe fehle, auf dem andern die Adresse überhaupt, und fragte, ob das, was auf der Rückseite des dritten stehe, auch mitgedrahtet werden solle. »O Gott, nein, nein!« rief Asmus; es war nämlich der Entwurf zu einer Abhandlung über den Monolog im Drama, der seinen Kindern nicht telegraphiert zu werden brauchte.

Die Herren der Intendanz, die Regie, die Hauptdarsteller, fremde Bühnenleiter, Agenten, befreundete Schriftsteller u. a. m. hatten sich mit Sempern nach einem besseren Gasthause verabredet, und als das glückliche Paar den Raum betrat, wurde es mit lautem und langem Händeklatschen empfangen. Und bald war jenes ununterbrochene, bunte, lustige Feuerwerk im Gange, das immer entbrennt, wo Menschen der Bühne am Tische sitzen und die wechselnden Bilder ihres fahrenden Lebens entrollen. Überall sind sie zu Hause, überall sind sie daheim; jeder kennt jeden und weiß von ihm ein Stücklein zu erzählen, meistens ein lustiges, oft auch ein boshaftes; aber auch das boshafte wird mit so viel Kunst und Anmut vorgetragen. daß man ohne Bosheit lachen kann. Die Schauspieler sorgen besser für die Unterhaltung des Publikums, als das Publikum für ihren Unterhalt.

Einen dreimal destillierten Theatergeschäftsmann fragte Asmus, ob die Aufführung auch nach seinen Begriffen ein Erfolg sei.

»Nein,« sagte der Mann, »nein, Herr Semper, das war nicht ein Erfolg, das waren gleich mehrere; das war ein Erfolg, aus dem man gut und gern dreie machen kann.«

Es war schon nach Mitternacht, als das Paar sich verabschiedete und ins Hotel fuhr zur zweiten, stilleren, höheren und eigentlichen Feier. Es war fast wie einst, als sie vom Hochzeitsfeste heimfuhren; nach langem Harren winkte ein wärmeres Leben; sie schienen sich wie aufs neue vereint zu einem neuen Glück. »Sie werden aber diese Nacht gut schlafen!« hatte eine Dame beim Abschied gemeint. Das war ganz falsch; sie schliefen fast gar nicht.

Sie glaubten, nun sei der schwerste Kampf ihres Lebens überstanden.


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