Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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XIX. Kapitel.

Nächtiges Dunkel mit einer Sternschnuppe.

Er eilte ins Schlafzimmer und fand Hilden in tödlicher Angst über die Wiege des Jüngsten gebeugt. Das Kind lag in Krämpfen; der Schaum stand ihm vor dem Munde, und der Blick ging nach oben weg. Aufs tiefste bestürzt, rannte er zum Arzt; er lief wie ein Junge die Straßen entlang, mochten die Leute denken, was sie wollten. Während er dahinjagte, fiel ihm ein: ganz so war er einmal als Zehnjähriger gelaufen (die Holzpantoffeln in der Hand!) als sein Bruder sich die Füße verbrannt hatte, das fliegende Herz immer um tausend Schritt den Füßen voraus.

Dr. Cajus, ein guter Freund von ihm und dazu ein geborener Arzt, »edel, hilfreich und gut«, ging sofort mit ihm.

»Was kann es nur sein?« fragte Asmus.

»Vielleicht ist es ein starker Bronchialkatarrh,« meinte Cajus. »Das Kind ist nicht sehr stark, das konnte ich schon bei der Geburt feststellen. Es muß sehr sorgsam gepflegt werden – nun, daran wird es ja Ihre Frau am wenigsten fehlen lassen.«

Aber Dr. Cajus stellte Schlimmeres fest: eine heftige Lungenentzündung. – – –

Also Krankheit! Die erste schwere Erkrankung in ihrer Ehe. Bei allen Sorgen war bisher das eine große Glück gewesen: Gesundheit! Seit diesem bangen Morgen wußten sie ganz, wie gnädig das Geschick gewesen war, wie glücklich sie gewesen waren; sie sahen alles Sonnenlicht aller vergangenen Tage, als es hinter Wolken verschwunden war.

In solchen Zeiten leidet ein Mann vielleicht mehr als eine Mutter. Sie leidet furchtbar in ihrem Kinde; aber der Gatte und alle anderen Menschen treten für sie in den Hintergrund, das ist natürlich und recht. Der Mann leidet in zwei Wesen; was er in seinem Kinde leidet, das leidet er in seinem Weibe vollgewogen noch einmal, wofern er sie liebt. Nein, dieser Schmerz vermindert sich nicht, er verdoppelt sich durch Teilung.

Ein ganzes Mutterherz ist das beste Heilmittel, über das die Natur verfügt. Hilde wich kaum vom Bettchen des Kindes, und doch versah sie mit geringer Hilfe auch ihre übrigen Pflichten wie zuvor. Er verstand nicht, wie sie das vermochte; sie schien sich in drei, in mehr Personen spalten zu können. Es gibt ein Mutter- und Hausfrauengenie, wie es Künstler-, Feldherren- und Regentengenies gibt.

Die kleine Gesa überwand wohl die Lungenentzündung; aber sie blieb schwächlich, kümmerlich, verdrießlich, ein Häufchen Unglück und eine nagende Qual im Herzen ihrer Mutter. Ein Krampfanfall folgte dem andern; wenn man das Kind aus seinen Kissen hob, wimmerte es, wenn man es badete, schrie es vor Schmerzen, und mit dem Wasser des Bades einten sich oft und oft die heißen Tränen der Mutter.

Nun lag ein Druck auf ihrer beider Tun und Denken, ein schwerer Druck, den nur die Zeit, die traurige Gewöhnung an das Leid allmählich milderte. Es kam auch wohl ein Tag, eine Stunde, da das Kleine ruhiger, zufriedener dalag, da es lächelte oder doch zu lächeln schien – vielleicht war es nur ein krampfhaftes Zucken des Mundes – dann rief Hilde ihren Gatten eilig herbei, und sie hofften wieder.

Erst um die Weihnachtszeit vermochte er sein Trauerspiel zu Ende zu schreiben. Er las es den Freunden vor.

»Ich stehe ja eigentlich auf anderm Standpunkt als dein Held,« sagte Salomon Freudenthal, »aber ich bin ja auch kein Held. Ich würde mich in solcher Lage trauen und mein Kind taufen lassen. Aber man hat das tiefste Mitleid mit deinem armen Teufel von Helden, und das entscheidet. Das Herz ist die Kunstkritik. Ick wünsch di'n möglichst komplizierten Schädel-, Hals- und Beenbruch mit interessante Splitterungen, du KamelVor Theateraufführungen wünscht man »Hals- und Beinbruch« wie beim Aufbruch zur Jagd. . Wullt du'n Zigarr?«

Da es eine wunderschöne, saftdunkle Ynclan war, so sagte Asmus ja.

Und er sandte sein Trauerspiel nach Berlin an ein neues, schönes Theater, das demnächst eröffnet werden sollte. Berlin entschied alle Bühnenschicksale; was nicht in Berlin gestempelt und bestätigt war, das galt nichts. Die übrigen deutschen Theater schienen selbst den Gedanken aufgegeben zu haben, daß eine Auflehnung gegen diese sinnlose und gefährliche Vorherrschaft möglich sei.

Und schon nach acht Tagen hielt Asmus freudezitternd einen Brief in Händen, in dem der Direktor jenes Theaters das Stück mit enthusiastischen Worten annahm.

Das war nun freilich ein kräftiger Sonnenstrahl. Er hatte ja nicht geglaubt, daß jemand den Mut haben werde, dies Stück anzunehmen, hatte es darum auch nicht erwartet, weil es ein allzu großes Glück war. Hinter dem Bühnenvorhang hervor waren ja die seligsten und heiligsten Spiele seiner Knaben- und Jünglingsseele gekommen, und die Bühne war ihm ein Altar gewesen, lange bevor er wußte, daß vor der antiken Bühne ein Altar gestanden hatte. Die Besucher der obersten Galerie waren immer eine Stunde vor Anfang eingelassen worden, und diese Stunde des Hoffens im halbdunklen Hause, vor dem schwach und flackernd beleuchteten Proszenium, vor diesem dunklen Tor zur Welt der Wunder, war besonders köstlich, war manchmal die köstlichste gewesen. Und nun würde er eines Tages vor dem Vorhange sitzen, und der würde sich heben, und aus jenem Wunderlande her würden seine eigenen Worte tönen, und Menschen würden dort wandeln und sprechen, die er geboren hatte, die vordem nicht gelebt hatten. Wer ihm das prophezeit hätte, da er als Seminarist auf der letzten Bank des billigsten Platzes saß, den würde er für einen kalten, herzlosen Spötter, für einen bösen Menschen gehalten haben. Es gelang ihm auch nicht, dies Glück vollkommen durchzuführen und auszudenken; immer wenn er sich recht darein versenken wollte, ging er nach wenigen Sekunden im Strudel seiner Empfindungen unter; er war nun einmal ein »Strudelkopf« oder richtiger vielleicht ein Strudelherz.

Es sollte ihm vorläufig auch erspart bleiben, weiter in diese Gefühlswelt hinabzutauchen; jenes Theater in Berlin hatte mit dem ersten Stück, das es spielte, kein Glück, mit einem zweiten auch nicht, und nach wenigen Monaten schloß es seine Pforten, weil es schon ohne Asmussens Hilfe in Konkurs geraten war.

So begrub denn Asmus seinen Traum; aber, wie immer, begrub er die Hoffnung nicht mit. Es gab ja noch so viele Theater in deutschen Landen! Er versandte sein Stück nach allen Himmelsrichtungen und erhielt entweder eine ablehnende Antwort oder – in den meisten Fällen – gar keine. Die es gelesen hatten, wagten nicht, es zu spielen; sie fürchteten das Publikum. Der staatlich anerkannte Spießbürger fand an seiner Gewissensfreiheit nichts auszusetzen, und die andern brauchten keine.


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