Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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LXV. Kapitel.

Ein betriebsamer Geschäftsmann gibt seine Visitenkarte ab, und Asmus geht ins Ausland.

Als der Tod nun Herrn Semper zwei Jahre hindurch umkreist hatte wie der Pudel den Faust:

»Siehst du den schwarzen Hund durch Saat und Stoppel streifen? –
Mir ist, als ob er magisch leise Schlingen
Zu künft'gem Band um unsre Füße schlingt –
Der Kreis wird eng, schon ist er nah!«

da trat er eines Morgens, in einen höflich grinsenden Herrn verwandelt, in Asmussens Arbeitszimmer und präsentierte eine Visitenkarte:

»Nur um eine Verbindung anzubahnen – für etwa vorkommende Fälle – freuen, mit Ihnen ins Geschäft zu kommen –« schnatterte er; da fühlte Asmus, daß er nicht mehr die Kraft habe, durchs Zimmer zu gehen, und daß er sitzen müsse. Als der Arzt kam, fand er sogar, daß er liegen müsse, weil das Herz nur noch 42 Schläge in der Minute tat. Es hatte in den 47 Jahren seines Daseins im ganzen etwas allzu eifrig und unbesonnen gearbeitet; nun verlangte es ein normales Arbeitsquantum, oder es werde die Arbeit überhaupt niederlegen. Und Asmus lag drei Wochen lang und dachte gelegentlich wie damals im Cholerajahre:

Sterben? Nun ja, wenn es sein muß – warum nicht? Das Leben ist freilich sehr – sehr schön; wenn ich vor die Frage gestellt würde, ob ich es, unbewußt des Vergangenen, noch einmal genau so leben möchte, ich würde freudig »Ja!« sagen. Und vielleicht stehen mir noch zwanzig, dreißig schöne Jahre bevor – vielleicht aber auch nicht. Wer weiß, was kommt? Der Tod ist Aufhören alles Bewußtseins; der Tote weiß also gar nicht, was er verloren hat, weiß gar nicht, daß er Asche ist. Was der Tote nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Zudem: was ich geschaffen habe, wenn es einen Wert hat, wird es auch nach meinem Tode wirken, wenn auch Wort und Name schwinden. Und was ich noch schaffen würde? Die Welt wird sich auch ohne das helfen können. Und meine Asche – wirklich Asche; denn Hilde wird mich verbrennen lassen – ist unsterblich. Und die Welt geht ja weiter; es leben ja so viele Erben, die das große, blühende Geschäft fortsetzen. Wer weiß, wie fröhlich mein Staub einst aufersteht, teils in einer Stranddistel, teils in einem Bullenbeißer und teils in einem Kapellmeister! Nun aber kommt das böse Aber. Hier sind sechs Menschen, die mich innig lieben, daran ist kein Zweifel. Wenn ich mir denke, wie sie an meinem Sarge stehen, dann – nur dann – muß ich über meinen eigenen Tod weinen. Darum will ich leben.

Als er wieder ein wenig lesen durfte und seine Kräfte ausreichten, ein Buch in der Hand zu halten, ließ er sich »Wilhelm Meisters Wanderjahre« bringen. Die Leute sagten wohl, es sei ein körperloses, blasses, abstraktes Buch; aber ihm schwamm dieses ganze Werk in einer Verklärung, die nicht mehr bei den Dingen, die über dem Leben, ja, schon jenseits des Lebens wohnte. Wenn er eine Weile darin gelesen hatte, war es ihm, als wohne er schon unter seligen Schatten, und wenn dann die Sonne durch schneeweiße, schier silberne Gardinen auf seine schneeweißen Kissen fiel, dann dämmerte er langsam in einen Lichttraum und dann in einen sommerhellen Schlummer hinüber, und im Entschlummern schien es ihm, daß das Sterben – ganz für sich betrachtet! – wunderbar süß sei.

Wenn er dann wieder erwacht war und sein erster Blick in das sorgendunkle Auge seines Weibes fiel und er auf Hand und Stirn und Wange die morgenfrischen Lippen seiner Kindes fühlte, dann wollte er wieder leben, und da der Tod vorläufig nichts dagegen hatte, weil Herr Semper ihn augenblicklich nicht interessierte, so setzte Herr Semper diesmal seinen Willen durch. Er durfte aufstehen, durfte kleine Spaziergänge machen und kleine Zigarren ohne Nikotin und Vergnügen rauchen. Mit einem sonderlich warmen und tiefen Heimgefühl pflegte er sich jetzt zu den Seinen ins Wohnzimmer zu setzen. Er hatte in diesen Wochen überschlagen, wie viele Augen, die auf seinen Lebensweg geleuchtet hatten, nun schon erloschen seien. Und wenn der Mensch mit dieser Rechnung beginnt, so kommt ihm das Gefühl, daß er mit seinen Lieben zusammenrücken müsse um ein sinkendes Feuer. Endlich durfte er gar eine Erholungsreise antreten. Er ging nach Thüringen; in diesem Lande, in dem das wunderbare Lied »Ach, wie ist's möglich dann« geboren wurde, beschlich ihn immer so etwas wie ein uraltes Heimatsgefühl. Sicherlich war irgendein Urahne von ihm aus diesem Boden hervorgewachsen. Von seiner niedersächsischen Heimat an der Elbe abgesehen, hatte er nirgends ein so tiefes, sicheres und glückseliges Gefühl vom Deutschsein. Freilich hatte ein Urgroßvater von mütterlicher Seite am Bodensee gehaust, und die väterliche Linie stand, soweit sie zu verfolgen war, standhaft in Schleswig; aber wie er alles Weltwesen mit weiten Räumen und langen Zeiten maß, so glaubte er auch an tausendjährige Vererbungen und hielt es keineswegs für unmöglich, daß sich, wenn er von tannenduftiger Höhe in ein thüringisches Waldtal schaute, ein hermundurisches Heimatsgefühl aus taciteischer Zeit in ihm rege.

Sein Heimatsgefühl spielte ihm noch immer bei guter Gelegenheit mit und schlug ihm jäh und unerwartet die Krallen ins Herz, wenn er im Auslande weilte, mochte es auch im »komfortabelsten Hotel der Jetztzeit« sein, ja gerade dann am häufigsten. Wenn er etwa im »Hotel Bristol« in Wien saß oder im Hotel »Bauer au Lac« in Zürich, dann überfiel ihn immer wieder die Frage, ob nicht jenes schwere Heimweh, das ihn damals in dem kleinen Berliner Hotel gepackt hatte, ein mahnendes, prophetisches Heimweh nach der Stille gewesen sei. Und er trieb sich in diesen Jahren viel im Auslande umher. Man rief ihn nach der Schweiz, und er entdeckte hier, wo er bis dahin, als Alpenwanderer, nur – freilich vollkommen redliche und tüchtige – aber kaltnasige Hotelwirte gefunden hatte – sie glaubten damals wohl noch, Deutschland wolle sie fressen – entdeckte hier, sage ich, ein ungemein lebendiges, warmblütiges, begeisterungsfähiges Kunstpublikum. Dieses in mancher Hinsicht karge Volk war freigebig mit Blumen und Gesang; sie sangen ihm zum Dank, wenn man nach seiner Vorlesung zwanglos beisammensaß, ihre reizenden Volkslieder in ihrer Mundart vor. Ja, dieses Volk singt noch, weiß die Worte seiner Lieder und singt sie ohne Vorbereitung mehrstimmig und vortrefflich, ein Brauch und eine Kunst, die das deutsche Volk, der Krösus des Volksliedes, schändlich verkommen läßt. Er genoß das Glück, in Burgdorf zu lesen, dort, wo der Christus der Pädagogik, wo Heinrich Pestalozzi mit Stumpfsinn, Niedrigkeit, Neid und Verleumdung gerungen und gesiegt hatte, als man gestehen mußte: er weiß die Kraft zu wecken! Er war glücklich in den Schauern ehrfürchtigen, liebenden Gedenkens; der lange Atem, mit dem er das Leben der Welt in sich sog, ließ ihn überall an geweihten Stätten die längst versunkene Vergangenheit wie Gegenwart empfinden. Er hätte im volkreichsten Rom noch die Fußspuren Cäsars gefunden, ja, zu Bethel in Kanaan noch die Worte Abrahams an Lot gehört. Was je gelebt hatte, das war ihm lebendig; sein Gedächtnis kannte keine Vergangenheit, sein Herz keinen Tod.

Man lud ihn nach Holland, wo er vor Professoren und Studenten einer Universität mit innerem Jubel empfand, daß man ihn vorzüglich verstand, weil man unter der Führung eines glänzenden Gelehrten seit langem deutsche Dichtung las und lieben lernte. Er fuhr mit niederdeutschem Behagen durch dieses wasser-, weide-, frucht- und blumenreiche, ebene Land – ein Gebirgssohn ahnt nicht, wie schön ein ebenes Land sein kann – er liebte seit frühen Tagen dieses Land durch seine Maler wie deutsches Land, ohne daß er jemals Einverleibungsabsichten gehabt hätte. Und er fand auf seiner Fahrt ein Wunder: ein richtiges altes Gasthaus, das noch nicht zum »Grand Hôtel« verhunzt war, wo der Wirt noch ein Käppchen trug, den Gast mit Händedruck und guten Wünschen bewillkommnete und entließ, sich selbst um das Feuer im Kamin bekümmerte, und wo die Wirtstafel nicht »französische Küche« war, sondern aus sieben köstlichen germanischen Hausmannsgerichten bestand, von denen jedes einzelne einen ganzen Mann forderte. Und Asmus sah Söhne dieses Landes, die keines dieser Gerichte durch Zurücksetzung kränkten. Er schlug keine üble Klinge; aber vom dritten Gericht an konnte er nur noch starren und staunen.

Er kam nach Belgien und sah nicht nur den unvergleichlichen Marktplatz in Brüssel, wo sein Lieblingsheld Egmont – der Goethesche natürlich, der den historischen erschlagen hat – gemordet wurde, und stand nicht nur als frommer Mann in der Kathedrale zu Antwerpen; er fand auch blühende deutsche Schulen unter der Leitung vorzüglicher Männer. Als er dann unter seinen Landsleuten herumfragte: »Wie stellen sich denn die Belgier zu euch?« da hörte er: »Man respektiert und haßt uns, weil die deutschen Handelshäuser die einheimischen überflügeln.« Aber als man ihn auf einem Kommers zu Antwerpen mit einer flämischen Ansprache begrüßte und er in einer plattdeutschen Rede antwortete – siehe, da verstand man sich ausgezeichnet.


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