Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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II. Kapitel.

Herr Asmus Semper als perpetuum mobile .

Das Leben dieses nun bald dreißigjährigem Mannes nahm in jeder Hinsicht, wie es sich bis jetzt anließ, einen ziemlich regelmäßigen Pendelgang zwischen Glück und Leid, manchmal auch zwischen hohem Glück und tiefem Leid; aber wie aus Süßem und Bitterem, wenn es sinnlos gemischt wird, kein angenehmer Geschmack entsteht, so entstand auch aus dieser Mischung etwas nicht ganz Erfreuliches: nämlich Unruhe, und der Gedanke, daß sein Herz gewissermaßen das von den Menschen immer vergeblich gesuchte perpetuum mobile darstelle, war ihm ein schwacher Trost. »Wenn er aber mit diesem Zustand etwa nicht zufrieden ist,« so dachte das Schicksal, »so werde ich ihm für seine bodenlose Unverschämtheit zeigen, was eine Harke ist.«

In der Tat: es ging ihm in vieler Hinsicht ganz vorzüglich. Um das Wichtigste vorwegzunehmen: Er und die Seinen waren gesund, noch waren sie gesund. Das ist neun Zehntel von allem Glück, hat ein Philosoph gesagt. Es ist vielleicht die banalste, die wahrste und die am meisten mißachtete Wahrheit, die ein Philosoph aussprechen kann. Man sollte sich diese banalste Wahrheit an alle Wände seiner Wohnung kleben und wenigstens dreimal täglich von einem Grammophon vorsprechen lassen, wodurch dieses Instrument endlich eine ehrenwerte Beschäftigung erhielte.

Sodann: Er hatte es in der neuen Schule, an die er versetzt worden war, glänzend getroffen. Er hatte die Oberklasse bekommen, und das gab seiner Arbeit einen frischen Antrieb. War diese Gemeinde auch nicht wie erste Marmelblumen und erstes Starengezwitscher, so konnte man dafür – z. B. in der Weltgeschichte und in den Stunden über deutsches Wort und Wesen – ein fast erwachsenes und herzliches Wort vom Lauf der Welt zu ihr sprechen, konnte zuweilen sein eigenes Herz entlasten und wie zu einem Sohne reden, der ins Leben hinausgeht. Und – nicht zu vergessen – er hatte in mehreren höheren Klassen den Gesangunterricht übernommen! Bei den Kleinen war dieser Unterricht wohl auch ein Vergnügen, aber kein musikalisches; hier oben waren die Stimmen schon geschulter; hier konnte man zwei-, drei- und vierstimmig singen lassen und das unbegreifliche Glück der Harmonie genießen. Musik war ihm so nötig wie der Pflanze der Regen, und wie Tau vom Himmel sog er sie ein. In der Harmonie der Musik hörte er die Gewähr für eine vorbestimmte Harmonie des Weltalls; eine Welt, in der Bach und Beethoven waren, konnte nicht sinnlos sein. Wenn er Bach hörte, sah er barfüßige Engel, mit Osterpalmen in den Händen, über sonnenbeglänzte Tempelfliesen schreiten, und in ihren Augen stand ein Wort: »Vertrauen!« Und obendrein hatte er hier ein paar Knaben mit wahren Engelsstimmen gefunden, Stimmen, die unschuldsvoll und rein in die Höhe stiegen wie in die klarste, letzte Seligkeit hinein. Da geschah es denn wohl manchmal, daß Asmus Semper alle Haltung eines Lehrers verlor, daß ihm dicke Tränen über die Wangen rollten und er nach Beendigung eines Liedes über seine Schüler hinwegstarrte in eine künftige, bessere Welt. Oder daß er jauchzte und schrie: »Jungens, ich möcht' euch alle miteinander umarmen!« – und seltsam: wenn es sonst immer Kerle gibt, die solche Familiaritäten nicht vertragen – in solchen Augenblicken gingen alle mit ihm, weil die Kunst sie alle, Lehrer und Schüler, zu einem einzigen Körper mit einer einzigen Seele verbunden hatte. Wenn die öffentliche Schulprüfung herankam und seine Schüler sangen, kamen denn auch sogar die Damen und Herren von den Nachbarschulen herüber, um zuzuhören.

Ja, auch die Kollegen waren ihm hier freundlich gesinnt. Als er zuerst mit Versen an die Öffentlichkeit getreten war, hatte es bei seinen Berufsgenossen geheißen (wie immer bei Berufsgenossen): »Er will ein Dichter sein«, und manche hatten an benachbarten Biertischen mit Absicht so laut gehöhnt, daß er's hören mußte. In diesem Kollegium hieß es: »Er ist ein Dichter«, und man behandelte ihn um so lieber danach, als es ihm nie in den Sinn kam, eine Sonderstellung zu beanspruchen. Nein, er hätte nie aus seinem Dichtertum, und wäre es das genialste gewesen, anmaßende Ansprüche an seine Mitmenschen hergeleitet; denn er hielt das Talent nicht für ein Verdienst, sondern für eine Gnade. Er kokettierte nicht mit dem »Kuß der Muse auf seiner Stirn«; er brachte die Rede nie auf sein Dichtertum, brach dergleichen Gespräche vielmehr mit Vorliebe ab, und schon in seinen Anfängen bemerkte die Kritik, daß er seine Erzeugnisse offenbar mit strenger Selbstkritik sichte. Das aber schloß nicht aus, daß, abgesehen von Zeiten tiefer Verzagtheit, die Grundstimmung seiner Künstlerseele ein wohlabgewogenes Selbstbewußtsein war, und dieses Selbstbewußtsein scheute sich auch nicht, hervorzutreten, wo es ihm notwendig schien. Er pflegte sehr spöttisch zu lächeln über die »immer Bescheidenen«, die so treuherzig versicherten, sie wüßten ganz gut, daß sie nur kleine Lichter seien usw. Es lag ihm immer auf der Zunge, zu sagen: »Warum bemüht ihr dann die Öffentlichkeit? Mittelmäßiges und Schund gibt's doch bei Gott genug! Wer vor die Öffentlichkeit hintritt, soll wissen, daß er etwas nicht ganz Gewöhnliches zu bieten habe, sonst ist seine »bescheidene Gabe« eine Unverschämtheit.« Asmussens Bescheidenheit richtete sich nach einer ganz andern Seite. »Fremdes Verdienst hochachten ist eine bessere Demut, als sich selbst geringschätzen«, hatte er einst in sein Tagebuch geschrieben.

Und welch einem prachtvollen Vorgesetzten hatte ihn der Zufall in die Arme geworfen! Der wohlhabende, wohlbeleibte und piksaubere Herr Woltersen war immer auf das sorgfältigste und beste gekleidet, und in diesem äußeren Kavalier steckte ein innerer. Dieser rundliche Rektor wußte sehr genau, wie ein richtiges Hamburger Beefsteak und ein richtiger Rotspohn beschaffen sein und genossen werden müssen, und mit demselben Geschmack versah er sein Amt. Seine vollen, kirschroten Lippen hießen Wohlwollen und Wohlgeschmack; sein Bauch hieß Würde, und wenn Asmus am Morgen nach einem sündhaft ausgedehnten Festkommerse sagte: »Herr Woltersen, heut hab' ich einen Riesenkater!« dann wölbten sich jene Lippen zu einer prachtvollen Horace Vernet-Rose und flüsterten: »Dafür hab' ich Verständnis; schonen Sie sich nur ja!«

Und so ging es weiter die Stufenleiter der Hierarchie hinauf. Asmus Semper war bis jetzt in politischen und religiösen Dingen ein rabiat radikaler Mann gewesen und hatte aus seinem Herzen niemals auch nur die kleinste Mördergrube gemacht. Seine Brüder waren »Lassalleaner« gewesen, sein Vater zum mindesten Demokrat, wenngleich ein milder; seine Mutter war, wie immer die Frauen, wenn sie politisch werden, höchst radikal. Die beiden großen R: Republik und Revolution, hatten ihm von früh auf täglich in den Ohren geklungen, und was sein herrlicher Lehrer, Herr Cremer, gegen die beiden vorbrachte, war, so sehr er ihn liebte, ohne Wirkung geblieben.

»Wessen Treu' und Glauben zieht man denn
Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?
Doch deren Blut wir sind? Doch deren, die
Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe
Gegeben? Die uns nie getäuscht, als wo
Getäuscht zu werden uns heilsamer war?«

Dann hatten Bismarcks Verfolgungsgesetze zwei Brüder aus den Armen der Familie gerissen und übers Weltmeer getrieben. Und in dieser Familie hatte man fleißig Herwegh gelesen und Freiligrath! Wenn er selbst, in den Dünsten der Tabakstube, »Die kranke Lise« vorgelesen hatte:

»Kläng' noch die Trommel unserm Ohre
Und wär' noch eine Fahne rein:
Der Lappen einer Trikolore,
Er sollte deine Windel sein;
Du wärst getauft, eh' seine Schale
Ein Pfaffe dir zu Häupten hält –
Marsch, Lise, weiter zum Spitale!
Dort kommt das Volk zur Welt.«

dann hatte sein Herz geschwungen und geklungen wie eine Sturmglocke; fast übel war ihm geworden vor Schmerz und Wut, und er hatte sich gelobt, dermaleinst auf einer Barrikade zu sterben, in der Brust die Kugel eines »feilen Schergen der Gewalt«.

Und jetzt hatte er einen Schulrat, der war Theologe und nationalliberal und war einer seiner eifrigsten Leser, und wenn der breitschultrige blonde Hüne ihm begegnete, streckte er schon von weitem die mächtige Hand aus und rief: »Juten Tack, mein lieber Harr Samper, wie jeht's! Was haben Se dann jatzt unter der Feder?« Ja, als ihn Semper einmal fragte, ob die Behörde ihm wohl später einmal einen Studienurlaub von drei Monaten gewähren würde, da rief er: »Ja, warum dann nicht? Se haben ja eine absolut reine Parsonalakte!« Kein Mensch in der Behörde und im Senat dachte daran, dem radikalen Herrn Semper etwas in den Weg zu legen. Dieser Kleinstaat Hamburg war nämlich in gewisser Hinsicht ein sehr großer Staat.

Also, was fehlte diesem Herrn Semper eigentlich?


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