Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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XLIV. Kapitel.

Predigt bei offener Kirchentür!

»Ja, sehen Sie: Der Held Ihres Trauerspiels macht denselben Fehler, den fast alle seinesgleichen machen: er setzt voraus, daß alle Menschen so kluge, gebildete, ehrliche und gute Menschen waren wie er. Davon ist aber doch die große Masse ganz verteu— ich wollte sagen: verzweifelt weit entfernt! Wenn Ihr Held in einer Volksversammlung einen naturwissenschaftlichen oder religionswissenschaftlichen Vortrag hält – wieviele verstehen ihn denn? Die Hälfte versteht ihn überhaupt nicht, und die andere Hälfte versteht ihn miß. Die Leute gehen mit halbverstandenen Wahrheiten nach Hause, die schlimmer sind als Unwissenheit.«

»Das glaube ich nicht; wir nähern uns alle der Wahrheit nur schrittweise; es gibt auch keine volle Wahrheit und keine ganze Bildung. Aber ich komme Ihnen weit entgegen. Gewiß bringen viele von solcher Aufklärung schiefe Vorstellungen und Ansichten heim, die Schlimmes stiften können, und wenn sich zu solchen Halbheiten der Dünkel vollkommener Aufgeklärtheit gesellt, so kann das keinem widerwärtiger sein als mir.«

Der Pastor nickte lebhaft Zustimmung.

»Aber glauben Sie denn, Herr Pastor, daß die Masse Ihrer Pfarrkinder Ihre Dogmen versteht, daß sie die Erlösung, die Dreieinigkeit, die Transsubstantiation usw. verstehen? Sie werden mir einwerfen, bei diesen Dingen handle es sich nicht um ein Verstehen, sondern um ein intuitives Erfassen durch die erleuchtende Gnade Gottes. Und glauben Sie, daß die große Masse, von der Sie sonst nicht sonderlich hoch denken, für diesen sublimen Vorgang der Intuition begabt sei? Sie ist es noch weniger als für Kants Kritik der Beweise für das Dasein Gottes. Die große Menge nimmt Ihre Dogmen unbesehen hin, d. h. ›sie plappern wie die Heiden‹, und ihre Dogmatik ist so tot wie die Gebetsmühlen der Tibetaner.«

»Da will ich Ihnen wieder bis zu einem gewissen Grade recht geben!« rief Pastor Röhrig; »aber es handelt sich noch um etwas anderes. Wenn Volk und Staat, wenn Welt und Menschheit nicht aus dem Leim gehen sollen, so muß ihnen die Eigenschaft erhalten bleiben, die Ihnen etwas durchaus Natürliches ist: Pietät, Ehrfurcht, der Respekt, von dem Goethe sagt, daß er den Menschen erst zum Menschen mache. Dieser Respekt muß der Menge erhalten werden durch Zucht und wenn nötig durch Zwang.«

»Nicht durch Zwang, Herr Pastor! Es ist vielleicht der furchtbarste Irrtum in aller Weltgeschichte, daß man die Seelen zwingen könne. Millionenfach hat es sich als unmöglich er wiesen, und mit entsetzlicher Verranntheit versucht man es immer wieder. Man kann Kniee, Lippen und Hände zwingen, kaum noch die Augen, niemals die Seele. Und nun gar Ehrfurcht erzwingen; Ehrfurcht ist doch die freiwilligste Gabe des Herzens! Gewiß: wenn Sie eine Kirche haben, so muß eine Zucht in ihr sein. Machen Sie Ihre Organisation so straff, wie Sie wollen; ich habe nie in die Entrüstung einstimmen können, wenn die Kirche ein Mitglied entfernte, das ihr innerlich fremd geworden war. Aber öffnen Sie die Tür der Kirche nicht nur zum Hinauswerfen, sondern lassen Sie sie überhaupt offen stehen! Ich glaube, die Kirche wird besser dabei fahren. Besonders, wenn Sie Jesum von Nazareth verkünden, seine Lehre und noch mehr sein Leben, und wenn Sie wirklich an ihm festhalten. Es gibt keinen natürlichen, unbefangenen Menschen, der nicht Jesum von Nazareth liebte. Auch der redliche Jude und Moslem neigt vor ihm in Ehrfurcht das Haupt. Er ist, wie Renan gesagt hat, der ewige König der Herzen. Man soll ihn nur nicht durch Minister ersetzen.«

»Herr Semper« – der alte Herr erhob sich und streckte seinem Wirt die Hand entgegen – »wir stimmen nicht überein, und wir stimmen doch überein. Wenn ich nicht fürchten müßte, daß Sie in mir einen Proselytenmacher witterten –Ihr Dissidenten seid immer so argwöhnisch! – so würde ich sagen: Kommen Sie einmal in meine Predigt – ich setze gleich hinzu: die Tür bleibt offen! Hahahahahaha . . . . .«

»Ich komme gern, Herr Pastor,« rief Asmus, der die Hand ergriffen hatte und herzlich schüttelte; »wenn Ihre Amtsbrüder in dieser Zeit bei offener Tür Liebe predigen – wer weiß: vielleicht strömen mehr hinein als heraus!«

»Das wäre schön, das wäre schön!« rief Röhrig. »Leben Sie wohl, lieber Herr Semper, leben Sie wohl. Schreiben Sie uns recht bald wieder ein kräftiges Stück. Oder ist gar schon was Neues ›sur le chantier‹

»Ja,« nickte Asmus vergnügt.

»Was wird's denn? Sie entschuldigen, wir Pfaffen sind immer so'n bißchen indiskret.«

»Etwas gegen den Schulbureaukratismus,« sagte Asmus.

»Haaaa – Bravo! Auf ihn! Auf ihn!« rief der Pastor vergnügt. »Dem gönn' ich's. Das ist wahrhaftig an der Zeit. Gutes Gelingen und alles Glück!« – – –


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