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36. Kapitel

Die Ratschläge und Medikamente meines Arztes in Rom hatten an meinem Zustande nichts zu ändern vermocht. Kaum hatte er mich verlassen, als ich von Herrn Ritz folgenden Brief erhielt:

»Mein teurer Sohn, ich schreibe Ihnen, um mich zweier angenehmer Aufträge zu entledigen. Mehrere meiner Kollegen haben die Absicht, Sie in die Akademie zu wählen, und sie tun, trotz Ihrer dreißig Jahre, recht daran. Man liebt und schätzt Sie und will Ihnen, ganz besonders mit Rücksicht auf Ihre gegenwärtige Lage, öffentlich einen Beweis jener Sympathien geben, welche man für Sie hegt. Ich brauche Ihnen, mein junger Meister, nicht zu sagen, wie glücklich ich darob bin, daß Sie den durch den Tod erledigten Sitz einnehmen sollen. Sie, der Sie alle Zeitgenossen überragen. Ich frage hierdurch »halbamtlich« bei Ihnen an. Antworten Sie mir, daß Sie mit Vergnügen diese Ehrenbezeigung annehmen, und lassen Sie sodann alles andere meine Sorge sein. Halten Sie sich aber auch bereit, sofort zurückzukehren. Sie kennen das Haus, wo man Sie mit Freude und Herzlichkeit begrüßen wird.

Nun zur anderen Angelegenheit.

Im Auftrage eines Ausländers ist dieser Tage jemand zu mir gekommen, um nachzufragen, ob die Statue » Das trinkende Mädchen« noch vorhanden und für 40 000 Franks zu haben sei. Ein hübsches Sümmchen! Ich glaube, er wird auch 50 000 Franks dafür geben; möglich, daß es später noch mehr wert wird; denn es ist ein Meisterstück allerersten Ranges. Aber schließlich sind 50 000 Franks für ein Stück Marmor nicht zu verachten, ganz besonders, wenn man ein Kind hat. Wenn Sie einverstanden sind, so senden Sie nur eine Zeile, durch welche ich berechtigt werde, die Statue aus Ihrer Wohnung holen zu lassen.

Ich umarme Sie mit den zärtlichsten Gefühlen. Mein Schwiegersohn und meine Tochter grüßen Sie vielmals; Konstantin ist dienstlich auf Reisen und kehrt demnächst zurück.«

Darunter in großen ungelenken Buchstaben:

»Ich küsse vielmals meinen lieben Vater.

Felix

Das war aber nur ein Tropfen, welcher auf ein glühend Eisen fiel.

Ich hatte auf alle ehrgeizigen Pläne Verzicht geleistet. Mein Reich war nicht mehr von dieser Welt. Ich lehnte also die Wahl ins Institut ab und stimmte dem Verkaufe der Statue zu. Das waren 50 000 Franks mehr für Felix; und da schließlich ein so ehrenhafter Mann wie Herr Ritz den Verkauf dieses Andenkens in Vorschlag brachte, brauchte ich nicht dagegen zu sein.

Ich schrieb meinem Meister einen langen und ausführlichen Brief. Ich sagte ihm alles, was ich auf dem Herzen hatte. Dieser Mann war der einzige Freund, den ich besaß; vor ihm brauchte ich nichts zu verschweigen; zudem hatte ich das Bedürfnis, mit jemanden, der mich liebte, mich auszusprechen. Ich teilte ihm also den Entschluß mit, den ich gefaßt hatte; ich erklärte ihm, warum ich sterben müsse. Ich wies auf die Nutzlosigkeit des menschlichen und göttlichen Zuspruchs angesichts großer Katastrophen hin; ich stellte die Vorsehung in Abrede, und zählte alle auf, welche ungerecht hatten leiden müssen. Ich erhob Anklagen gegen Gott und bat schließlich Herrn Ritz, Vollstrecker meines Testaments zu sein und die Vormundschaft über meinen Sohn zu übernehmen. Ich bestellte, wie ein Sterbender, mein Haus, ohne zu fühlen, daß ein derartiger Brief weniger der Ausdruck des Vertrauens, als vielmehr der Ruf nach Hilfe sei, und daß er in dem einen Satze zusammengefaßt werden könne: »Lassen Sie mich nicht sterben!«

Die Antwort ließ nicht auf sich warten. Hier ist sie. Die Briefe dieser Art gehören zu denjenigen, welche man sorgfältig verwahrt.

»Um Sie von Ihren Selbstmordgedanken abzubringen, werde ich Ihnen nicht mit Gründen kommen, wie man dies in solchen Fällen zu tun pflegt. Ich werde Ihnen nicht sagen, daß nur Gott allein, der Ihnen das Leben geschenkt, auch das Recht hat, es wiederzunehmen. Ich werde Ihnen auch nicht sagen, daß der Selbstmord unmoralisch, gottlos und lächerlich ist, daß er mehr ein Beweis der Feigheit als des Mutes ist, und ich werde mich aller jener Gemeinplätze enthalten, die Sie schließlich selbst kennen. Ich sage Ihnen nur ein Wort: Hat Ihre Mutter nicht mehr gelitten als Sie? Ganz gewiß, hundert Mal mehr? Hat sie sich getötet? Nein, sie hat Sie trotz des Elends, trotz ihrer Verlassenheit und der bitteren Erinnerungen, trotz der Schmach und Schande erzogen! Hat nicht Ihr Sohn, welcher bereits eines seiner natürlichen Beschützer beraubt ist, so wie Sie es selbst gewesen, hat er nicht ein doppeltes Anrecht an Sie, so wie Sie ein doppeltes Anrecht an Ihre Mutter hatten? Darum handelt es sich vor allem. Sie haben nicht das Recht, zu sterben.

Sie sagen in Ihrem Briefe, ich könnte Ihre Stelle bei Ihrem Sohne vertreten, woher wissen Sie das? Und warum legen Sie mir, dem Fremden, eine Pflicht auf, der Sie sich selbst entziehen wollen? Wenn Sie im Kampf ums Dasein gefallen wären, wenn Sie auf der offenen Wahlstatt des Lebens zusammengebrochen wären: ich hätte mich sicherlich Ihres Knaben angenommen und denselben in der Ehrfurcht vor seinem Vater erzogen. Wenn Sie aber fahnenflüchtig werden, davonlaufen und zu dem Feinde übergehen: Was soll ich ihm dann sagen? Und welches Beispiel soll er sich an Ihnen nehmen, wenn er harten Kämpfen gegenübersteht?

Wie oft haben Sie – und mit Recht – gegen jenen Anklage erhoben, der Sie verlassen hat: und Sie konnten doch auf die Liebe Ihrer Mutter rechnen. Wollen Sie Ihrem Sohne das zwiefache Recht geben, seine Mutter zu verachten und seinen Vater zu verdammen? Sie wissen ganz gut, wie schwer es einem Kinde wird, seinen schuldbeladenen Eltern zu verzeihen, unter deren Vergehen es selbst zu leiden hat. Und legen Sie so wenig Wert auf Ihr Kind. Warum sind Sie nicht schon längst an seiner Seite? Es wächst heran, sein Herz sammelt Eindrücke und sein Verstand entwickelt sich. Warum sollen wir allein uns daran ergötzen, warum versuchen Sie es nicht, hier Schutz und Hilfe zu finden? Sie, der Sie stets behaupten, dem unglückseligen Einfluß Ihres Vaters unterliegen zu müssen, Sie sollen Ihren Sohn schützen gegen den Einfluß der Mutter, die Sie doch ganz genau kennen.

Sie leiden! Ist das etwas Neues! Sind Sie der erste? Ist nicht leiden überhaupt unser Schicksal? Man verrät und betrügt Sie! Sie haben kein Genie mehr! Sie fühlen keine Liebe mehr! Die haben Sie gehabt, diese beiden Flügel des Erzengels, welche den Menschen in himmlische Sphären erheben können. Wie viele Ihrer Zeitgenossen haben während dieser Zeit mühselig an der Scholle geklebt und Sie bewundert und beneidet! Hätten sie sich auch töten sollen, weil sie Ihnen nicht gleichen konnten? Wenn Sie keine Liebe mehr für Ihr Weib fühlen, so wenden Sie dieselbe voll und ganz Ihrem Kinde zu. Wenn Sie das Genie nicht mehr haben, so suchen Sie die Arbeit. Wenn Sie keine Meisterwerke auszuführen imstande sind, so arbeiten Sie das, was Sie können. Wenn Sie kein Künstler mehr sind, so werden Sie ein Handwerker; haben Sie keine Erfindungskraft, so ahmen Sie nach. Werfen Sie den Meißel weg und nehmen Sie die Mauerkelle zur Hand. – Aber mit dreißig Jahren, angesehen und geehrt wie Sie sind, haben Sie nicht das Recht, aus dieser Welt zu flüchten, wo andere Ihrer bedürfen. Der Selbstmord! Das ist ein Ausweg für ruinierte Spieler, für abgelebte Libertins und für ungetreue Kassierer. Und auch die machen keinen übermäßigen Gebrauch davon. Und was Gott anbelangt, welchen Sie lästern, weil er Ihnen seine Geheimnisse nicht enthüllt: Bewundern Sie das, was er Ihnen zeigt, und Sie werden keine Zeit haben, darüber nachzudenken, was er verbirgt. Messen Sie nicht mit dem kleinlichen Maße Ihres Glückes und Ihres Stolzes; lassen Sie ihn tun, was er will. Er allein weiß, warum er den Menschen erschaffen, und ihm allein ist bekannt, wohin er ihn führt. Begnügen Sie sich damit, zu wissen, daß Sie einen Zweck zu erfüllen haben, und erfüllen Sie denselben. Die Gründe werden Ihnen später klar werden. Es gibt einen Gott, das muß Ihnen genügen. Sie können so unglücklich sein, daß Sie mitunter daran zweifeln, aber Sie dürfen nicht so blind sein, im Zweifel zu verharren. Sie erheben Anklagen gegen die Geistlichen, als ob dieselben nicht auch sündige Menschen wären wie wir!

Trennen Sie die christliche Idee von den Menschen, welche sie mißbrauchen, und von dem formalen Beiwerk, welches sie entstellt; versenken Sie sich in dieselbe, und Ihr Auge wird klar werden und hell sehen! Wenn Gott existiert, so lebt er in derselben. Sie ist die Barmherzigkeit und Gnade, sie ist die Kraft und die Sittlichkeit, sie ist das Gute und das Wahre. Sie hat die Reue und Buße gefunden. Sie hat die Vergebung gebracht.

Die Mysterien und Legenden verwerfen Sie ebenfalls. Ich auch; aber ich halte diese wunderbaren Ueberlieferungen für notwendig, als ein Schmuckwerk, mit welchem die Menschen diese Idee umgeben haben, um sie anziehend zu gestalten und ihr die Unvergänglichkeit zu sichern unter den Menschen, welche das Uebernatürliche anzieht und welche lieber erstaunt als entsetzt sind. Sie sind nur die äußere Fassung zu jenem herrlichen, himmlischen Edelsteine, dessen Glanz der kühle Hauch menschlicher Logik nur trüben, aber nicht verlöschen kann. Symbolik! Erfindungen! Romane! Sei dem so! Aber respektieren Sie diese poetischen Unwahrheiten, welche jedoch voll des Trostes und der Erbauung sind für die Mühseligen und Beladenen, für die Armen und Elenden. Suchen Sie eine positive Wahrheit, welche so viel des Guten schon getan hat wie diese Täuschungen; Sie werden dieselbe nicht finden.

Sie haben das Recht verloren, auf Ihre Verstandeskräfte stolz hinzuweisen, nachdem Sie sich derselben an jenem Tage, wo Sie sie gegen eine unwürdige Liebe ins Feld führen sollten, nicht bedient haben.

Wenn ich Sie trotz alledem zu überzeugen nicht vermocht habe, dann, mein teurer Sohn, sterben Sie; wir werden Sie beweinen und bedauern, da wir Sie aus vollem Herzen wahr und innig lieben. Ich werde mich Ihres Sohnes annehmen und nach mir werden dies mein Schwiegersohn und meine Tochter tun, welche treu in jeder Pflichterfüllung sind, auch in derjenigen, welche anderen auferlegt ist. Aber vorher bitte ich Sie, oder richtiger gesagt, vorher verlange ich von Ihnen einen Dienst. Denn im ganzen sind Sie mir für die Vergangenheit und vielleicht auch für die Zukunft Dank schuldig, und Sie dürfen nicht von hinnen gehen, ohne Ihre Schuld abgetragen zu haben. Führen Sie für mich eine Kopie in Marmor von Michel Angelos » Moses« aus. Mein ganzes Leben hindurch habe ich den Wunsch gehabt, dieses Meisterwerk, durch einen ebenbürtigen Meister reproduziert, zu besitzen. Man braucht nicht viel Phantasie, um eine Statue zu kopieren, man muß nur Geduld haben. Ich werde stolz darauf sein, daß Ihre letzte Arbeit und Ihr letzter Gedanke mir gehört. Das ist es, um was ich Sie dringendst bitte.

Ich umarme Sie und rechne auf Sie, wie Sie auch stets auf mich rechnen dürfen.«


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