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5. Kapitel

Ich fand meine Mutter, wie ich es mir gedacht hatte. Sie war ganz allein, und da sie meine Ankunft nicht erwartet hatte, beschäftigte sie sich damit, Papiere, Rechnungen, Briefe und dergl. in Ordnung zu bringen.

Den größten Teil derselben vernichtete sie. Sie hatte ihre Einsamkeit benutzt, um bei jenen Erinnerungen an frühere Zeiten ihren Tränen freien Lauf zu lassen, Erinnerungen, welche eine laute Sprache zu führen beginnen, sobald man sie aus dem Dunkel vergilbter Umschläge hervorholt.

»Nun,« sagte sie, »bist du freundlich aufgenommen worden?«

»Ja, Mama.«

Sie begann mich auszufragen. Ich erzählte ihr von allen Wundern, welche ich dort gesehen, und deutete indirekt an, zu welchem Berufe ich in mir Neigung zu fühlen glaube.

»Du weißt, daß ich dir in nichts dreinreden werde. Du hast Verstand genug und kennst genau unsere Verhältnisse. An dem Tage, an welchem du zu mir sagen wirst: »Ich habe mich für diesen oder jenen Beruf entschieden,« werde ich dich nach meinen besten Kräften unterstützen. Gehe also mit dir zu Rate und triff sodann deine Entscheidung. Ich kann dir nicht raten, denn ich selbst habe nichts gelernt.«

Während dieses Gespräches schaute ich mich mechanisch im Zimmer um, und es schien mir, als ob manche Sache fehlte, welche zu sehen ich gewohnt war.

»Wo steckt denn unsere Wanduhr?« fragte ich plötzlich.

Diese Uhr war der einzige Luxusgegenstand, welchen ich in unserer Häuslichkeit gesehen hatte. Es überraschte mich, daß sie nicht an ihrem Platze stand; dies um so mehr, als ich eine ähnliche bei Herrn Ritz gesehen zu haben glaubte. Es war dies eine Bronzeuhr im Stile Ludwigs XIV. mit den drei Parzen auf dem Postament und dem Kronos mit der Sense oberhalb des Zifferblattes.

»Sie ging schlecht,« antwortete meine Mutter, »ich habe sie zum Uhrmacher gegeben.«

Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich glaubte meiner Mutter, welche mich niemals belogen hatte, diesmal nicht und kehrte, ganz mit dem Verschwinden der Uhr beschäftigt, zu Herrn Ritz zurück. Es war im Sommer, in der sogenannten schlechten Jahreszeit. Das Honorar für das nächste Quartal meiner Pension war fällig geworden, und meine Mutter war vielleicht gezwungen gewesen, sich eines Gegenstandes zu entäußern, welcher sie an eine glücklichere Zeit ihres Lebens erinnerte! Wie sollte ich dahinter kommen! Sie würde mir es niemals sagen. Die Kosten meiner Erziehung gingen also über ihre Mittel. Ohne daß diese meine Ansicht durch irgend etwas bestätigt worden wäre, ward sie für mich zur traurigen Gewißheit und bitteren Wahrheit, und ich entschloß mich noch am selben Tage, die Angelegenheit zu Ende zu führen.

Ich zählte damals dreizehn Jahre. Ich war ganz gut beschlagen in der Geschichte, im Lateinischen, Griechischen und Rechnen, um meine begonnenen Studien allein zu beenden und einen neuen Beruf zu ergreifen, welcher mich einigermaßen selbständig machte und wobei ich von meiner Mutter nur Wohnung, Essen und Kleidung anzunehmen brauchte, bis zu jener hoffentlich nicht zu fernen Zeit, wo ich allein meinen Lebensunterhalt gewinnen konnte.

Als ich nach diesem plötzlichen Entschlusse das Atelier des Herrn Ritz wieder betrat und seine Werke betrachtete, schien es mir, daß ich sehr bald dasselbe zu leisten in der Lage sein würde. Das war vorläufig alles, wonach ich strebte, da diese Werke ihrem Schöpfer zu einem Jahreseinkommen von 30 bis 40 000 Franks verhalfen.

Tatsächlich war dies nicht besonders schwer. Herr Ritz hing mit großer ehrfurchtsvoller Liebe an seiner Kunst; er verstand das Schöne, er suchte und wollte es, aber es fehlte ihm jener göttliche Funke, ohne welchen man kein wahres Kunstwerk zu schaffen vermag. Er fühlte dies besser als die anderen, er litt darunter und später hat er mir seine Entmutigung und Traurigkeit gestanden. Es gibt nichts Schmerzvolleres für einen Künstler, als die Intuition und den Willen zu haben, Großes zu leisten und sich seine Unzulänglichkeit eingestehen zu müssen.

Seine gefällige Produktion hatte ihm bald in der guten Gesellschaft, welche sich ziemlich rasch und oberflächlich ihr Urteil zu bilden pflegt, einen Namen gemacht. Er modellierte die jungen Aristokratinnen des Faubourg St. Germain und der Chaussee d'Antin, und seine Büsten zeichneten sich durch graziöses Arrangement und geschmeichelte Aehnlichkeit aus und machten einen angenehmen Gesamteindruck; aber die weiche Modellierung konnte vor dem sachverständigen Auge nicht bestehen. Diese Art der Ausführung entsprach zwar den Wünschen der Gesellschaft, sie wurde aber von Kunstgenossen als eine mittelmäßige betrachtet, und was noch schlimmer war, sie befriedigte auch den Schöpfer nicht.

Zu Beginn seiner Laufbahn hatte Thomas Ritz zu den schönsten Hoffnungen berechtigt. Im Palais Luxembourg befindet sich noch eine Statue von ihm, welche schwungvolles Ebenmaß der Linien, hohe geistige Auffassung und glückliche Inspiration zeigt.

An Stelle der Kunst war die Künstelei getreten, die Originalität durch Mätzchen ersetzt. Die Mode hatte ihn ganz in Beschlag genommen. Ritz zweifelte an sich selbst und gab sich mit diesen leichten Erfolgen zufrieden; aber er hat später um so mehr gelitten, da er frei von Neid war und sich selbst für die Meisterwerke seiner Zeitgenossen begeistern konnte; dann betrat er in gedrückter Stimmung und niedergeschlagen sein Atelier.

Ein junges, reiches Mädchen hatte sich zu Beginn seiner Karriere in ihn verliebt und war seine Frau geworden. Aber der Reichtum, den sie in das Haus des Künstlers gebracht, scheint die Inspiration verscheucht und verdrängt zu haben.

Das ist gewöhnlich der Fall. Die Kunst braucht die Einsamkeit, das Elend oder die Leidenschaft; sie verkümmert, wo sie nicht Hauptsache ist. Sie ist wie eine Alpenblume, welche des harten Bodens und des scharfen Winters bedarf.

Der sehnlichste Wunsch des Herrn Ritz war gewesen, daß sein Sohn Geschmack an der Bildhauerei fände, weil er in sich die Fähigkeit verspürte, ihm die besten Anleitungen zu geben, festes künstlerisches Fundament zu legen, um einen wahren Künstler aus ihm zu machen und wie so viele andere Meister, in den Schüler das zu verpflanzen, was ihnen selbst fehlte. Leider hatte Konstantin überhaupt zur Kunst keine Neigung, weder zur Bildhauerei, noch zur Malerei oder Musik. Er schwärmte nur für eins: für den Soldatenstand. Er war schließlich auch mit seinem Vater dahin übereingekommen, daß dieser ihn ohne Widerrede für den Eintritt in die Militärakademie in St. Cyr vorbereiten ließ.

Sie werden sich aus diesen Umständen die plötzliche Sympathie des Herrn Ritz für mich erklären können. Hatte er den Schüler gefunden, dessen Ruf auch auf ihn zurückfallen mußte? Oder glaubte er wenigstens einen Menschen entdeckt zu haben, welchen er zu seinem Vertrauten und Freunde machen konnte! Meine rasche und zutreffende Antwort bezüglich des »Ringers« hatte in ihm Hoffnungen erweckt, und als ich abends mit meinem festen Entschlusse zurückkehrte, war auch er willens, die Probe mit mir zu wagen.

Nach dem Diner nahm er mich beiseite und fragte mich, ob ich auch wirklich Neigung zur Bildhauerei habe; gerade mein Alter sei das passende, um mit der Ausbildung zu beginnen, und er sei mit Freuden bereit, mir Unterricht zu erteilen. Auf meine entschieden bejahende Antwort versprach er, morgen meine Mutter zu besuchen und sich mit ihr auseinander zu setzen.

Zwei Tage später waren sie übereingekommen, daß ich – es war im Juni – bis zum Semesterschluß in der Pension bleiben möge, und daß ich im August bei Herrn Ritz eintreten solle, welch letzterer versprochen hatte, mich ganz bei sich aufzunehmen und mich wie sein eigenes Kind zu behandeln.

Meine Mutter, welche immer nur mein Glück im Auge hatte, gab zu allem ihre Zustimmung.

Ich machte rapide Fortschritte. Mir war die Liebe zur Arbeit angeboren. Das hatte sich schon in der Schule gezeigt und entwickelte sich zu voller Entfaltung, als ich einen Beruf ergriff, für welchen ich wie geschaffen war. Ich war unermüdlich. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend zeichnete ich und machte Entwürfe. Ich verließ das Atelier nur, um Museen und Galerien zu besuchen. Mein Ehrgeiz ging dahin, mit meinen Schöpfungen die Welt zu erfüllen, der Nachwelt einen meiner Gedanken in Marmor oder Bronze zu hinterlassen, zu welchem Künstler späterer Zeiten wallfahrten sollten, um sich ein Beispiel daran zu nehmen.

Sie können sich denken, wie glücklich meine Mutter war, wenn sie bei ihren nicht zu häufigen Besuchen von Herrn Ritz mein volles Lob hörte und er von meiner glänzenden und erfolgreichen Zukunft sprach. Sie sah meine Arbeiten, aber sie konnte dieselben selbstverständlich nicht beurteilen; sie gefielen ihr jedoch außerordentlich, schon deshalb, weil sie von mir waren.

Meine erste selbständige Arbeit war eine Büste meiner Mutter; ich wollte, daß diese erste Arbeit, so unvollkommen sie auch war, im Zusammenhang mit meiner Mutter stand, ein Aberglauben, welcher bei der Art meiner Erziehung leicht erklärlich ist. Zwischen meiner Mutter und meinem Atelier teilte ich meine Zeit.

Aber die Natur läßt mit sich nicht feilschen, sie vollendet ihre Schöpfungen nach einem festgefügten Plane und jedes Geschöpf ist ihr unterworfen. Mitunter zog durch meine Seele die Sehnsucht nach Liebe. Fräulein Ritz, welche von Tag zu Tag schöner wurde, schien so ganz geeignet, um diese Gefühle zu verwirklichen. Aber daran war allerdings nicht zu denken. Sie war drei Jahre älter als ich, und bei aller natürlichen Zuneigung zu mir dachte Herr Ritz nicht im entferntesten daran, seine Tochter mir zu geben. Ich liebte sie eigentlich auch mehr wie eine Schwester, und ihre ewige Heiterkeit schien sie gegen jeden Liebesschmerz zu wappnen.

Ich sah wiederholt Damen, größtenteils Aristokratinnen oder Trägerinnen sonst berühmter Namen im Atelier des Herrn Ritz erscheinen, aber angesichts der Venusse aus Marmor und Bronze, welche mein ganzes Denken erfüllten, machten sie mit ihrem Krimskrams an Spitzen und Bändern auf mich den Eindruck großer mechanischer Puppen. – Ohne daß Herr Ritz sonderlich darauf geachtet hätte, daß ich es hören mußte, pflegte er nach derartigen Sitzungen zu sagen: Ist diese Frau schlecht gewachsen, welch magere Arme, welch schlechte Büste usw.

Ich hatte, offen gestanden, zu diesen hochgestellten Damen auch gar keine Zuneigung. Es wäre mir wie ein Verbrechen und schwere Undankbarkeit gegen meine Mutter erschienen, welche, in niedrigen Verhältnissen aufgewachsen, Tag und Nacht arbeitete, um mich zu ernähren und mir eine gute Erziehung zu geben. Ich wollte bedeutende Meisterwerke schaffen, aber unerkannt bei meiner Mutter und meiner Frau leben, welche immer an meiner Seite bleiben sollten. So stellte sich auch meine Mutter die Sache vor.

»Arbeite fleißig,« sagte sie, »und eines Tages wirst du ein braves, gut erzogenes Mädchen finden, welches dich liebt. Du wirst sie dann heiraten, und wir wollen gemeinsam leben. Das wird der Trost meines Alters und der Dank für alles sein, was ich für dich getan, wenn es überhaupt Dank verdient.«

Auf diese Weise suchte meine Mutter mich gegen die Gefahren der Gegenwart zu feien. Sie wußte, daß ich ihrer Ansicht sei; aber sie war dennoch in steter Angst. Sie fürchtete, daß der kleinste Anlaß genügen könne, um ihren Sohn zu verlieren.

Dieser Anlaß wiederholte sich, so oft Konstantin mich besuchte. Er war noch in der Pension geblieben, hatte aber trotzdem (er war auch zwei Jahre älter als ich) ganz andere Ansichten von der Liebe als ich. Er wollte, um mich so auszudrücken, so rasch wie möglich die Liebe aus der Praxis lernen. Er sprach von nichts anderem; er hatte eigentlich keine Ideale, und dachte weniger an die Liebe als an die Weiber. Er war ganz erstaunt, daß ich noch mit keinem Modelle eine Liebschaft habe. Eine Geliebte! Das war sein Ideal. Ich hatte gut reden, daß ich noch niemals ein Modell des Herrn Ritz gesehen habe, da für dieselben ein besonderer Eingang ins Atelier reserviert war. Erst glaubte er mir es nicht; dann schaute er mich ganz verdutzt an und lachte mich schließlich aus vollem Halse aus. Für so dumm habe er mich nicht gehalten.

Herr Ritz war ganz stolz auf mich. Er zeigte meine Entwürfe und Arbeiten allen seinen Kollegen. Man ermutigte mich durch Ratschläge und liebenswürdige Bemerkungen, und ich arbeitete mit noch größerer Lust. Bislang hatte ich nur nach Antiken, oder nach Eingebungen meiner Phantasie modelliert. Nach der Natur hatte ich noch nicht gearbeitet. Eines Abends sagte Herr Ritz, während seine Tochter am Klavier saß, plötzlich zu mir: »Morgen werden Sie nach der Natur modellieren. Ich bin gespannt, wie Sie damit fertig werden. Präparieren Sie also für morgen Ihren Ton: das Modell wird frühzeitig kommen.«

»Was für ein Modell?« fragte ich, während mein Herz bei dieser Nachricht heftig pochte, »ein männliches oder ein weibliches?«

»Ein weibliches!«

»Akt oder Genre?«

»Akt.«

Ich will offen gestehen, daß diese Mitteilung mich sehr aufgeregt hat, ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen.

Am andern Morgen gegen sieben Uhr präparierte ich den Ton. Herr Ritz erschien.

»Sind Sie in Stimmung?«

»Jawohl,« antwortete ich mit unsicherer Stimme.

»Also gehen wir rasch frühstücken.«


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