Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2. Kapitel

Herr Fremin hatte mich, wie erwähnt, zu meinen zukünftigen Kameraden geführt, nachdem er mich noch ganz besonders meinem Klassenvorstand empfohlen hatte. Ich fragte denselben nach dem Sohne der Madame d'Anglepierre. Dieser hatte jedoch Nachurlaub und sollte erst abends eintreffen. Ich setzte mich auf eine Bank und wartete der Dinge, die da kommen würden. Ich hielt dabei Umschau unter meinen neuen Kameraden; einige gingen gemeinsam spazieren, andere sprangen über aufgespannte Seile oder spielten Ball, mehrere zeigten Andenken, welche sie bei Schluß der Ferien erhalten, erzählten sich ihre kleinen Abenteuer, lachten und scherzten und teilten miteinander ihre mitgebrachten Näschereien. Auch ich hatte in meiner Schultasche etwas Kuchen und einige Spielsachen. Ich hätte gern von ersterem abgegeben und mit letzteren gespielt, aber ich traute mich nicht. An wen sollte ich mich in dieser Menge wenden! Niemand schien mich zu beachten; wäre das Tor offen gewesen, ich wäre auf und davon gelaufen.

Was sollte ich hier? Vor einer Stunde war ich noch so glücklich, und jetzt?

Die Traurigkeit wollte mich bereits übermannen, als einer der Knaben, welcher der Reihe nach mit allen gesprochen zu haben schien, sich vor mir aufpflanzte und mich, ohne ein Wort zu reden, anstarrte. Es war – wie hätte ich es vergessen! – ein bildhübscher Junge, von merkwürdig weichen, weiblichen Zügen, wie ich sie bei einem Knaben dieses Alters nie mehr gesehen.

»Was tust du hier?« fragte er endlich mit etwas heiserer Stimme und leichtem Hüsteln.

»Nichts.«

»Du bist wohl ein Neuling?«

»Ja, und du?«

»Ich bin schon lange hier. Was für ein Landsmann bist du?«

»Ein Pariser, und du?«

»Ich bin aus Charleston.«

»Wo ist das?«

»In Amerika. Wie heißt du?«

»Pierre Clémenceau, und du?«

»André Minati. Was ist dein Vater?«

»Ich habe keinen.«

»Ist er tot?«

Ich antwortete nicht. Er nahm wahrscheinlich mein Schweigen für eine Bestätigung und fuhr fort:

»Und deine Mutter?«

»Die hat ein Weißwarengeschäft.«

»Weißwaren? Sie macht wohl Hemden?«

»O, auch andere Sachen,« antwortete ich mit naivem Stolze. »Was macht denn deine Mutter?«

»Gar nichts macht sie. Sie ist reich und mein Vater auch. Sie reisen zu ihrem Vergnügen.«

»Wie alt bist du?«

»Zwölf Jahre, und du?«

»Zehn.«

»In welcher Klasse bist du?«

»In der Klasse jenes Herrn, der dort promeniert.«

»Ich auch.«

»Du bist doch aber älter als ich.«

»Ich bin ein Ausländer und kann nicht so rasch aufrücken. Was hast du denn in deiner Schultasche?«

»Kuchen. Willst du welchen?«

»Zeig' mal her.«

Ich öffnete meine Schultasche. André griff hinein, zog Kuchen heraus, biß ein großes Stück ab und sagte mit vollem Munde: »Der Kuchen ist sehr gut; warum ißt denn du nicht davon?«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Das ist doch kein Grund.«

Inzwischen hatte er allen meinen Kuchen aufgegessen.

»Ist das alles, was du hast?«

»Ja.«

»'n Morgen, du kommst mir etwas dumm vor.«

Damit drehte er sich auf den Hacken um und ließ mich ganz verblüfft stehen. Ich sah nur, wie er auf dem Rückwege einige Kameraden anrempelte und allerhand Unfug trieb, jedoch vorsorglich nur an die schwächeren Kinder sich heranwagte.

Endlich war die Schulstunde angebrochen. Wir begaben uns nach den Lehrzimmern, welche einen trübselig nüchternen Eindruck hervorriefen. Ich kam neben André zu sitzen, für mich eine unangenehme Nachbarschaft. Ich wollte mit meiner ganzen Aufmerksamkeit dem Unterricht folgen, während André gerade das Gegenteil beabsichtigte. Da ich auf seine Allotria nicht einging, wurde er ärgerlich und warf das Tintenfaß absichtlich um, so daß mein ganzer Anzug von Tinte beschmutzt wurde. Ein derber Rippenstoß war meine Antwort. André schien über meine prompte Justiz ganz erstaunt. Er warf mir einen zornerfüllten Blick zu und sagte leise: »Na, warte bis nach der Stunde.«

Kaum waren wir wieder auf dem Hofe, als er, begleitet von zwei oder drei Kameraden, auf mich zuschritt, in drohender Haltung mich einen »Schneiderjungen« nannte, und mit geballter Faust mir verbot, ihn jemals wieder anzureden.

Ich drehte ihm den Rücken zu, ohne ihm zu antworten. Er hielt dieses für einen Beweis meiner Furcht und gab mir einen Stoß, der mich fast zu Boden geworfen hätte. Blitzschnell wendete ich mich um und versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht, daß das Blut aus der Nase kam. Er warf sich nun auf mich, wir fingen an zu ringen, ich streckte ihn zu Boden und kniete, ganz aufgeregt von dem Schimpfe, auf seiner Brust und würgte ihn.

Der Spektakel hatte endlich den Lehrer aufmerksam gemacht, er eilte herbei, der Direktor kam auch und das Verhör begann. Ich erzählte klipp und klar, was vorgefallen, aber meine Kameraden! Alle logen sie, verschwiegen die Wahrheit, oder sprachen die Unwahrheit. Mein erstes Zusammentreffen mit fremden Menschen hatte mir dieselben als jämmerliche Feiglinge gezeigt. Leider war das nur der Anfang trüber Erfahrungen.

Den Sohn der Frau von Anglepierre lernte ich am nächsten Morgen kennen, er war mir vom ersten Moment an antipathisch, womöglich noch antipathischer als André Minati.

Stellen Sie sich ein zehnjähriges Bürschchen vor, welches von seiner Wichtigkeit ungeheuer eingenommen ist. Mit dem Leutnantsscheitel bis in den Nacken hinein, gab er sich höchst würdevoll, und man sah es ihm an, daß er dies Benehmen seinem Herrn Papa abgeguckt hatte, von dem er eine ungeheure komische Miniatur-Ausgabe im Duodez vorstellte. Er strömte sozusagen Noblesse aus und führte seinen frisch erworbenen Adel in der Sonne spazieren. Man brauchte nur ihn anzusehen, um auf die ganze Familie schließen zu können und zu erraten, welch eingebildete Toren seine Eltern waren.

Mein neuer Kamerad übte eine gewisse Macht über seine Mitschüler, selbst über die älteren aus, so hatte ihnen sein Selbstbewußtsein und überlegenes Auftreten imponiert.

Ich brauchte den jungen Vicomte nur anzusehen, um jede Lust zu verlieren, mich mit ihm einzulassen. Aber meine Mutter hatte gewünscht, daß ich seine Bekanntschaft mache, und, da ich seit meinem gestrigen Siege auf ziemlich gutem Fuße mit meinen anderen Mitschülern stand, ging ich auf ihn zu und nannte meinen Namen, indem ich mich auf die Beziehungen zwischen unseren Familien berief.

»Ich habe schon genug Freunde,« gab er mir frostig zur Antwort, fast ohne mich anzusehen, »und ich wünsche nicht, noch andere zu haben. Man hat übrigens nur unter seinesgleichen Freunde.«

Offenbar wiederholte der Bursche nur eine Phrase, welche er zu Hause gehört hatte.

Ich stellte keine weitere Frage an ihn; ich hatte in vierundzwanzig Stunden so viel zu hören und zu sehen bekommen, daß ich keiner Erklärungen mehr bedurfte.

Wenige Tage darauf besuchte mich meine Mutter und fragte mich, wie es mir in meiner neuen Umgebung gefalle. Ich erzählte ihr, was vorgefallen, verschwieg jedoch meine Prügelei mit André, um sie nicht ängstlich zu machen.

»Wenn man dich hier quält,« sagte sie zu mir, »teile es mir nur mit und ich will dich sofort in ein anderes Institut geben.«

Aber ich schwieg, denn ich wußte, daß sie das Pensionsgeld auf ein Quartal im Vorhinein bezahlt hatte, und wollte nicht, daß sie bei ihren nicht großen Einnahmen noch einmal diesen Betrag auslege.

Ich will Sie nicht mit der Wiedergabe aller meiner traurigen Erlebnisse während meiner Schulzeit langweilen, nicht ausführlich erzählen, wie mich meine Mitschüler verhöhnten, während des Schlafes mich störten und bei den gemeinsamen Mahlzeiten belästigten. Was nur Knabenbosheit aushecken kann, wurde mir zugefügt; an André hatte ich einen Feind, welcher immerwährend neue Streiche aussann, während der junge Vicomte mit kalter Geringschätzung an mir vorüberging.

Eines Tages wurde ich formell in Verruf erklärt. Welchem Kameraden ich mich näherte, er wich mir aus! Sie hatten die Quarantäne über mich verhängt! André mit Fernand hatten diese neue Demütigung ersonnen. Sie hatten auf irgend eine Weise, vielleicht durch meine eigene Unvorsichtigkeit erfahren, daß ich keinen Vater habe, und es durchgesetzt, daß ich infolge dessen von jedem Verkehr ausgeschlossen wurde. Wie die Pest wurde ich gemieden.

Aber es sollte noch ärger kommen; die stille Verachtung sollte auch in Worten zum Ausdruck gelangen. Wie bliesen sich diese Bürschchen auf; sie verachteten mich, weil ich arm und sie reich waren, weil meine Mutter sich durch ihrer Hände Arbeit ernährte, während die ihrigen nicht arbeiteten; der eine fühlte sich über mich erhaben, weil er von Adel war, der andere, weil ich keinen Vater besaß, während er deren vielleicht zwei hatte – nicht ein Kind, welches seine Eltern zu einer freundschaftlichen Gesinnung mir gegenüber veranlaßt hätten – im Gegenteil: Einigen war ich von ihren Müttern als ein sündhaftes Wesen zum abschreckenden Beispiel hingestellt worden. So werden die jungen Seelen vergiftet, so werden die edlen Keime grundsätzlich erstickt, und daraus rekrutiert sich dann unsere gute Gesellschaft!

Im fleißigen Lernen fand ich Trost. Der Lehrer, welchem um seine Stellung bangte, konnte sich meiner nicht annehmen, und er durfte diesen Angriffen nicht wehren. Er suchte mich dadurch zu entschädigen, daß er mir seine Liebe zuwandte und während unserer Promenadenstunden mit mir sprach. Aber die Beunruhigungen und Quälereien, deren Gegenstand ich war und welche mit dem Erwachen begannen und selbst in der Nacht kein Ende fanden, blieben nicht ohne Einfluß auf meinen Charakter und erschütterten meine Gesundheit. Ich wurde mißtrauisch, furchtsam und gehässig.

Ich hatte das Bedürfnis nach Rache, wie es alle diejenigen haben, welche unterdrückt werden und auf deren Schwäche man sündigt. Aber wie sollte ich dies anfangen! Mit den Kameraden offenen Streit beginnen, konnte ich nicht, denn ihre Angriffe waren versteckte, einen oder zwei herausgreifen, ging nicht an, da alle anderen sich sofort auf deren Seite gestellt hätten. Also litt ich weiter. Wenn zufällig eine Nacht ohne Störung verlaufen war, faßte ich neuen Mut und ward friedfertig. Aber diese Ruhe dauerte nicht lange und war mehr die Folge der Ermüdung meiner Gegner, als der Beginn ihrer Verzeihung! Was hatten sie mir denn zu verzeihen!

Ich führte ein Leben wie ein Verbrecher; mein Herz war mir oft zum Brechen schwer; dann stahl ich mich in einen Winkel, wo mich niemand sehen konnte, und ließ meinen Tränen freien Lauf. Es ist wahr, daß nicht alle mich bedrängten – es gab einige unter meinen Mitschülern, welche es nicht zu sehen schienen, welchen Belästigungen ich ausgesetzt war; aber die Mehrzahl ließ, wenn auch ohne tätiges Eingreifen, es zu, daß ich gequält wurde. Wie viel Unheil kommt überhaupt über die Menschen durch die Teilnahmlosigkeit oder Bequemlichkeit der Zeitgenossen!

Eines Abends wurde mir ganz besonders übel mitgespielt. Ich hatte mich im Klassenzimmer verspätet, da ich mein Pult, das sie täglich aufbrachen, wieder in den Stand setzen mußte. Inzwischen hatten meine Quälgeister die Lampe auf dem Korridor ausgelöscht, und vor die Treppe einen Strick gespannt. Ich fiel kopfüber einige Stufen hinab, ich hätte mein Leben bei diesem Falle einbüßen können. Diesmal schrie ich laut vor Schmerz und selbst dem Klassenlehrer schien das Maß voll zu sein, so daß er den Direktor von der neuen Bosheit in Kenntnis setzte. Mr. Fremin erschien am nächsten Tage bei Beginn des Unterrichts in unserer Klasse, hielt eine fulminante Strafpredigt und drohte mit schweren Disziplinarstrafen und Ausschließung aus der Anstalt. Er fragte mich nach den Namen derjenigen, welche ich in Verdacht hatte, diesen Bubenstreich begangen zu haben, und stellte denselben eine exemplarische Strafe in Aussicht. Ich lehnte jede Denunziation ab, worauf der Direktor mich wegen des bewiesenen Edelmutes noch ganz besonders öffentlich belobte. Er gestattete mir in Zukunft, selbst Justiz zu üben, falls sich derartige Vorgänge wiederholten und ich seine Intervention nicht anrufen wollte. Dieser brave Mann war in der Tat bewegt; auch ich weinte, war aber im Grunde meines Herzens froh, daß die Sache diese Wendung genommen, denn nun, glaubte ich, habe die Verfolgung ein Ende erreicht.

Eine kurze Zeit schien dem auch so, ich konnte ruhig schlafen, essen und arbeiten. Mehr verlangte ich auch in der Tat nicht. Aber dieser Waffenstillstand dauerte nicht lange, und der Krieg begann mit neuen, noch giftigeren Waffen. Ich arbeitete eines Morgens an dem mir wie allen anderen Mitschülern zugewiesenen Gartenbeet, als wiederholt ein Name an mein Ohr schlug, welcher meinem Herzen überaus teuer war. Ich hörte, ohne daß es bemerkt zu werden schien, mit gespannter Aufmerksamkeit einem Gespräche zu, welches zwei meiner Kameraden führten, von denen einer André war. Sie erzählten sich eine Geschichte, deren Heldin Félicité hieß. Das war auch der Taufname meiner Mutter. So oft die beiden in meine nächste Nähe kamen, sprach der Erzähler den Namen absichtlich so deutlich und laut aus, daß ich ihn hören mußte. Er unterließ es niemals, demselben ein Beiwort anzuhängen, dessen Sinn ich nicht begriff. Aber dessen Bedeutung mußte entweder eine schimpfliche oder eine beleidigende sein, denn der andere ließ stets entweder lautes Lachen hören, oder stieß Ausrufe des Erstaunens aus. So viel ich daraus entnehmen konnte, handelte es sich um Liebesgeschichten, welche, wie die beiden Schlingel mit einer Anspielung auf den Namen meiner Mutter sagten: die Wonne der Liebe ( la Félicité de l'amour) betitelt sein könnten. Da jedoch mein Name nicht genannt worden war und ich weder durch eine direkte Anspielung, noch durch einen verstohlenen Blick provoziert worden war, vielmehr die beiden Knaben sich den Anschein gaben, als wären sie ganz allein unter sich, betrat ich ruhig das Klassenzimmer, in der Hoffnung, daß nur der Zufall seine Hand hier im Spiele gehabt habe.

Der Unterricht hatte keine halbe Stunde gedauert, als ein Schüler, wie dies oft und mitunter nur aus Uebermut geschah, an den Lehrer eine Frage zu stellen wünschte.

»Herr Lehrer, welchen Beinamen führt der schöne Dunois?«

»Den eines Bastards von Orléans!«

»Was ist das, ein Bastard?«

»Das ist – –«

Der Lehrer war augenscheinlich in Verlegenheit um eine Erklärung, welche er dem kindlichen Alter der Zöglinge anpassen zu wollen schien.

»Das ist ein Kind, welches keinen Vater hat,« erwiderte ein anderer in dem Bestreben, es dem ersten an Dreistigkeit gleichzutun.

Bei diesen Worten wurde ich aufmerksam, ich witterte den Feind; auch waren aller Augen auf mich gerichtet, damit ich nicht im Zweifel sei, daß eigentlich mich die Sache angehe. Ich verstand aber von allem nichts. Ich wußte ganz gut, daß ich keinen Vater habe, und hatte dies vor niemandem verschwiegen, da man mir auch kein Schweigen auferlegt hatte. Allen Anforderungen meines Herzens hatte bislang meine Mutter entsprochen, der Vater hatte mir noch gar nicht gefehlt. Also man nannte »Bastard« denjenigen, welcher keinen Vater hat. Gut, ich war demnach ein Bastard. Das war für mich eine Bezeichnung wie jede andere. Ich fand nichts Schimpfliches an ihr, da sie doch der Held von Orléans mit Stolz getragen. Wäre der Zwischenfall jetzt abgeschlossen worden, ich hätte ganz bestimmt jedem auf seine Frage nach meiner Familie geantwortet: »Ich bin ein Bastard.« Aber das wollten meine Kameraden nicht, ich sollte vielmehr die ganze Bedeutung des Schimpfnamens erfahren.

»Wie kann denn das sein,« begann der erste von neuem, »daß man keinen Vater hat?«

»Wirst du endlich schweigen, du Schafskopf,« schrie plötzlich wieder ein dritter, namens Konstantin Ritz, mit dem Ausdrucke des Ekels und in drohender Haltung den Fragesteller an.

Das war das erste Zeichen von Sympathie, welches ich in diesem Hause erhalten hatte. Es trat sofort Stille ein. Fast tat es mir leid, daß dies geschehen. Ich stellte mir selbst die Frage: »Wie kann das sein!«

O kindliche Einfalt! Ich öffnete rasch mein Wörterbuch und suchte: » Bastard: ein außer der Ehe geborenes Kind«. Was bedeutet dies! Ich suchte weiter: » Ehe: die gesetzliche Vereinigung des Mannes und des Weibes zu gemeinschaftlichem Leben.«

Während des ganzen Unterrichts dachte ich über diese beiden Definitionen nach, aber ich wurde nicht klug daraus; sie blieben mir unverständlich. Gibt es einen Unterschied im Geborenwerden, wurden die anderen anders geboren als ich? Ganz bestimmt, denn sie hatten mir ja den Vorwurf gemacht, daß ich nicht so wie sie geboren sei; ich war stärker, größer und intelligenter als viele meiner Kameraden. Aber sie hatten einen Vater, welcher sie zu besuchen pflegte, von welchem sie sprachen, oder den sie zum mindesten gekannt hatten, wenn er jetzt nicht mehr am Leben war; ich dagegen hatte niemals einen Vater gehabt. Hier lag der Unterschied; aber dieser Unterschied war ein Unglück, es war noch mehr: es war ein Verbrechen.

Von dieser Zeit an nannte man mich den schönen Dunois und dieser Spitzname in Verbindung mit dem Namen Félicité gab Gelegenheit zu den beleidigendsten und schmutzigsten Scherzen. Sie werden es nicht glauben, welche grenzenlose, ungeheuerliche Sittenverderbnis in diesen jungen Herzen und kindlichen Gemütern steckte, wie die Heranwachsenden von den Erwachsenen systematisch zu allen Lastern verführt wurden, welch' unreine Gedanken wachgerufen, welch' unkeusche Gespräche geführt und welche Sünden im Geheimen verübt wurden.

Man wundert sich so sehr über die Sittenlosigkeit, den Skeptizismus und die Verderbtheit der Gegenwart! Treten Sie in das erste beste Institut ein, wenn diese heranwachsende Jugend so ganz unter sich ist, und dann an die Oberfläche kommt, was sonst sorgfältig verborgen wird, und Sie werden nicht mehr staunen. Die Vergiftung der Seele hat mit der frühesten Jugend begonnen. – Wer niemals ein Kind gewesen, wird auch nimmermehr zum Manne heranreifen.

Dank diesem Spitznamen und dem Vornamen konnte man mich jeden Augenblick beleidigen, ohne daß ich mich beklagen durfte. Einer meiner Kameraden nahm sogar den Namen Félicité an, um mit den anderen auf Grund dessen allerhand Unfug zu treiben. Man rief ihn laut bei diesem Namen, mit hellem Gelächter antwortete er darauf, und dann wurden unflätige Szenen aufgeführt, vor welchen ich die Augen abwandte; wenn ich das Klassenzimmer betrat, so fand ich in meinen Heften und Büchern gemeine Karikaturen, über welche man den Namen meiner Mutter geschrieben hatte ...

Genug, rufen Sie aus! Es ist schändlich, und es bedarf dieser Einzelheiten nicht. Vielleicht glauben Sie auch, daß ich übertreibe, um mich, den Gefangenen, herauszustreichen auf Kosten jener, welche frei umhergehen zur selben Stunde, während welcher ich diese Geständnisse niederschreibe. Ich übertreibe nichts und viele Zeugen würden jedes Wort bestätigen; aber Sie werden begreiflich finden, welchen Eindruck alle diese Szenen auf mich gemacht und wie nachhaltig sie auch für die Zukunft auf mein Gemüt eingewirkt haben. Der Zufall hat mich später manchmal mit meinen einstigen Schulkollegen zusammengeführt, welche eine frühere Bekanntschaft erneuern wollten und mir über meine künstlerischen Leistungen die schönsten Komplimente machten! Wenn ich derartigen Begegnungen aus dem Wege gehen konnte, so tat ich es, wo jedoch ein Ausweichen nicht möglich war, verhielt ich mich durchaus reserviert; ich habe niemals einem derselben die Hand gereicht. Was die sich wohl gedacht haben mögen! Sie werden für Ueberhebung und Künstlerstolz gehalten haben, was eigentlich nur die Erinnerung an die Vergangenheit war.

Lassen Sie mich unterdrücken, was für Gedanken heute noch mich bewegen, wenn ich an den Schimpf denke, der meiner Mutter und mir zugefügt worden ist; wie ich selbst an meiner Mutter zweifelte und wie meine ganze Geistesrichtung dadurch beeinflußt wurde. Sie sind eine Zierde des Barreau, und die Parlamentstribüne wird Ihrer Beredsamkeit sicherlich auch noch offen stehen. Wenden Sie dann dieser wichtigen Frage Ihre Aufmerksamkeit zu, seien Sie dann Fürsprecher für jene unglücklichen Wesen, die keinen Vater kennen, und welche dafür Zurücksetzungen, Beschämungen und Beleidigungen erfahren müssen. Wenn die Gesetze mit harter Strafe jeden belegen, welcher ein lebendes menschliches Wesen aus der Welt schafft, so sollten sie auch nicht strafloser denjenigen ausgehen lassen, welcher ein menschliches Wesen in die Welt setzt, sich dann feige versteckt und dasselbe sich selbst überläßt. Beschäftigen Sie sich mit dieser großen Frage, sie ist Ihres Talentes würdig und der Aufmerksamkeit wert. Sie wird denjenigen, welcher sie löst, mit ewigem Ruhm bedecken.


 << zurück weiter >>