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35. Kapitel

Wie dies alle tun, welche leiden, so machte auch ich aus meinem Schmerz den Mittelpunkt all meines Denkens. Von ihm ging ich bei allem aus, woran ich dachte und was ich unternahm; von diesem Standpunkte aus unterzog ich die menschlichen Gesetze und göttlichen Einrichtungen einer Untersuchung. Zum mindesten sollte, nach meiner Ansicht, die Welt umgewandelt werden, damit ich auf derselben wieder all das fände, was ich verloren. Was vor mir die größten Geister zum Troste und Zuspruch der Menschheit gesagt, schien mir falsch, ungereimt und lückenhaft, da es mir keinen Trost zu bringen vermochte.

Ich ließ vor meinem geistigen Auge alle Katastrophen vorüberziehen, welche die Welt in Aufregung und in Tränen versetzt hatten, und es schien mir, als ob ich sie alle standhaft hätte ertragen können; diejenige jedoch, welche mich betroffen, ging über meine Kräfte.

Das ist nicht ganz so absurd, als es sich anhört. Die großen Schicksalsschläge heben die davon Betroffenen über das Niveau der anderen Menschen hinaus und machen aus ihren Opfern Helden und Märtyrer, welche auch die Nachwelt bewundern muß. Aber diese jämmerlichen häuslichen Katastrophen, denen der Fluch der Gemeinheit und Nüchternheit anhaftet, machen ihre Opfer zum Gegenstand des Gelächters und des Spottes, jenes herzlosen Spottes, welcher dem Menschen in den fernsten Winkel folgt, der ihm in der Einsamkeit in den Ohren gellt, bis man in Niedrigkeit und Verzweiflung zusammenbricht, während in dem glanzlosen Auge zwei große Tränen perlen! Derartige Katastrophen verlangen den Heroismus des Unbekannten und des Lächerlichen, welchen man weder bei dem bei Pharsala Besiegten, noch bei dem Gefangenen auf St. Helena gefunden hätte.

Das waren die Gedanken, welche mir vom frühen Morgen bis zum späten Abend durch den Kopf gingen; aber sie waren nicht die schmerzvollsten unter denjenigen, welche meine Sinne verwirrten. Wenn die Nacht mit ihrer unheimlichen Dunkelheit heranschlich, wenn alles sich sodann zur Ruhe begab und den Schlaf aufsuchte, wenn eine unheimliche Stille herrschte, da wühlte noch grausamer, noch quälender die Phantasie mein Inneres auf. Meinem Auge nahte der Schlummer nicht; wüste Halluzinationen, vor welchen ich mich nicht verbergen konnte, umschwebten mein Lager, auf welchem ich die Ruhe nicht finden konnte. Rechts und links stiegen die Gaukelbilder meiner erhitzten Phantasie auf, und im Mittelpunkte derselben sah ich stets sie, sah ich stets Iza! Iza, wie sie mich in den Tagen unserer ersten Liebe zärtlich und hingebungsvoll, leidenschaftlich und ergeben geliebt – aber nicht ich war es mehr, an den sie ihre Zärtlichkeit verschwendet; an meine Stelle war ein anderer, waren andere getreten! Am ganzen Körper bebend und mit kaltem Schweiße bedeckt, sprang ich sodann mit einem Satze aus meinem Bette, um diesen entsetzlichen Schreckbildern zu entfliehen.

Wie oft lief ich zum Fenster und öffnete es, um mich kopfüber aufs Straßenpflaster zu stürzen! Wie oft griff ich nach dem Dolche, um mir mit ihm das Herz zu durchbohren! Aber der Tod, welchen ich mir auf diese Weise gegeben hätte, schien mir nicht schmerzlich genug für den Zustand der Exaltation, in welchem ich mich befand. Ich hätte mich auf die Folterbank gelegt, um mir Glied für Glied abreißen zu lassen! Vielleicht auch, daß ich schließlich in der Maßlosigkeit meines Schmerzes eine selbstquälerische Freude fand, wie ja auch auf jede maßlose Freude der Schmerz folgt.

Aber ich tötete mich nicht; ich hatte nur die Krankheit, die Selbstmordmanie. Das ist für jeden unverständlich und unbegreiflich, der diese Krankheit nicht selbst durchgemacht! Man hat jede Hoffnung auf Trost und Besserung aufgegeben, man fürchtet auch nicht die Schmerzen, die einem die selbstzugefügte Wunde bereiten könnte, aber man ist zu apathisch, um das Ende selbst herbeizuführen, um es zu beschleunigen. Man kann nicht sterben, man kann nicht leben! Das ist die Hysterie des Obskuren, das ist die Satyriasis des Unbegrenzten!

Wer würde glauben, daß ein Weib einen Mann in eine solche geistige Verwirrung bringen kann! Aber glauben Sie es mir, ich habe furchtbar gelitten. Während einiger weniger lichter Augenblicke begriff und fühlte ich ganz gut, daß an diesem unerträglichen Zustand mein tatenloses Leben schuld sei, daß ich, der ich stets an Arbeit gewöhnt war, wieder arbeiten müsse, um meinen Geist wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ich mußte mich dieser Gedanken entschlagen! Und wissen Sie, worauf ich sodann verfiel? Wissen Sie, welche neue Gedanken in diesem überreizten, fieberkranken Gehirn aufstiegen? Die unglaublichsten Ideen erfüllten diesen Kopf: Ich dachte nur an Revolte, Feuer und Blut! Ein Brutus, Herostrat oder Tarquinius zu werden! Meinen Namen an irgend eine große Scheußlichkeit zu knüpfen und auf diese Weise ihn unsterblich zu machen, da ich ihn nicht mit Ruhm bedeckt der Nachwelt überlassen konnte!

Wenn Sie einen Menschen sehen, welcher in seinem ungeheuern Schmerz in die Einsamkeit flüchtet, und vor der Menschheit sich abschließt, dann wissen Sie, daß er auf dem Wege zum Wahnsinn sich befindet. Die Tobsucht ist dann nur eine Frage der Zeit!

*

Ich mußte endlich zu einem Entschluß kommen: Entweder leben oder sterben!

Drei Monate waren auf diese Weise vergangen. Ich hatte in dieser Zeit kein menschliches Wesen außer meinem Diener gesehen, mit welchem ich jedoch nur das Allernotwendigste sprach. Eines Abends raffte ich mich endlich auf, ich beschloß, der Einsamkeit zu entfliehen und mich kopfüber in den Strudel der öffentlichen Vergnügungen zu stürzen.

Im Apollotheater fand eine Sondervorstellung statt. Dorthin begab ich mich. Der Zuschauerraum war gesteckt voll; das strahlende Lichtmeer, die funkelnden Brillanten und die entblößten Nacken der Damen verwirrten mein Auge. Ein Schwindel erfaßte mich, als ich in diesen Lärm und in diese Massen hineingeriet. Wo war ich? Was wollen diese Leute hier? Sie kamen mir wie Puppen vor.

Bis zum Aufziehen des Vorhanges hielt ich mich in den Wandelgängen auf. Ich begegnete zweien Kollegen; sie eilten hocherfreut auf mich zu und sprachen mich an. Ich wußte nicht, was ich ihnen antworten sollte; ich sah sie mit stierem, erstauntem Auge an; ich verstand kein Wort von dem, wovon sie mit mir sprachen. Es schien mir, als seien beide aus Holz geschnitzt, und um mich davon zu überzeugen, klopfte ich mit den Fingern an ihren Kopf. Ich eilte davon, um diesem wahnsinnigen Gedanken nicht ganz zu verfallen.

Ich begab mich auf meinen Platz in den ersten Parkettreihen. Bei dem ersten Takte der wunderbaren Ouvertüre zur »Nachtwandlerin« ergriff mich die Lust, zu schreien, mich ganz auszuziehen, unbekleidet auf die Bühne zu springen und dort zu tanzen! Um des Himmels willen, was war das? Ich hörte, wie mir das Blut in den Ohren sauste, als ergieße sich ein Sturzbach darin. Ich preßte die Zähne fest aufeinander, ballte die Hände und nahm all meine Kraft zusammen, um bei Verstand zu bleiben.

Vor mir saß ein junges Ehepaar, allem Anschein nach Hochzeitsreisende, welche glückselig lächelnd einander anblickten, sich leise Worte zuflüsterten und sich verstohlen die Hände drückten. Die berauschende, liebesatte Musik schlug an mein Ohr, mein Auge blickte unverwandt das Ehepaar an.

»Ich fühle es, daß ich diesen Menschen töten muß,« sagte ich zu mir.

Alle meine Gedanken nahmen nur diese Richtung; der Haß gegen diesen unschuldigen Menschen stieg in mir auf. Warum sah er so glücklich aus, warum liebkoste er unaufhörlich mit liebeglühendem Blicke das Weib neben sich!

Was sollte ich beginnen? Der Gedanke: »Töte diesen Menschen!« verließ mich nicht; das Crescendo der Musik regt mich noch mehr auf. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen. Ich erhob mich rasch, und ohne das Paar anzusehen, eilte ich aus meiner Sitzreihe. Ich ging durch das ganze Parkett und nur ein Gedanke beherrschte mich: »Wenn ich nur ohne Unfall ins Freie gelange.« Das Publikum sah mich, ärgerlich geworden durch diese Störung, mit zornigen Blicken an, aber ich wagte es nicht, auch nur einen Zuschauer anzublicken, aus Furcht, daß ich demselben eine Grimasse schneiden oder eine Grobheit an den Kopf werfen würde.

Endlich war ich auf die Straße gelangt; mit vollen Atemzügen sog ich die frische Luft ein und eilte, was meine Füße tragen konnten, nach Hause. Auf meinem Zimmer angelangt, warf ich mich zu Boden, schlug mit dem Kopf, dessen Gedanken ich nicht mehr meistern konnte, gegen denselben und schrie gen Himmel:

»Rette mich doch! Ich habe dir ja nichts getan!«

Bis zum Morgen blieb ich in dieser Lage. Als ich erwachte, schüttelte mich der Fieberfrost. Ich fürchtete, in der Einsamkeit krank zu werden. Ich hatte niemals allein gelebt. Ein Wesen hatte mich immer geliebt, dieses Leben war nicht mehr zu ertragen. Tränen entströmten meinen Augen, und unter diesen Tränen rief ich wie ein verlassenes Kind: »Mutter! Mutter!« Ich durfte nicht krank werden. Ich ließ rasch einen Arzt holen. Er fühlte mir den Puls; derselbe ging etwas schneller, aber das Fieber war nur gering. Der Arzt untersuchte mich genau und fing an, mich auszufragen. Ich erzählte ihm, wie ich erzogen, wie ich bislang gelebt, und daß ein großer Schmerz, der mein Leben zerrüttet, mich nach Rom geführt.

Er riet mir viel Bewegung, regelmäßige Arbeit, leichte Kost, Zerstreuung, von Zeit zu Zeit den Umgang mit Weibern an; aber nichts mehr als den absolut hygienischen Verkehr, ohne jede Verliebtheit. Er erklärte mir, die Gesundheit sei das Gleichgewicht zwischen dem, was der Körper empfange, und zwischen dem, was er wieder verbrauche. Dieses Gleichgewicht werde gestört, wenn man von einem Organ mehr verlange als von dem anderen, und die Folge dieses gestörten Gleichgewichtes sei eben die Krankheit. Seit Jahr und Tag hätte ich diese und jene Gewohnheit angenommen, diese seien mir zur zweiten Natur geworden, und der jähe Bruch mit diesem allen habe meinen Zustand herbeigeführt. Ich solle meine alten Gewohnheiten, wenn auch etwas modifiziert, wieder aufnehmen; im ganzen gestatte die Natur keine Abweichung von der physiologischen Regel, und niemand könne sich derselben entziehen. Zudem herrsche jetzt der Sirocco; wenn dieser vorüber sei, werde auch ich mich wohler fühlen. Vor allem aber rate er mir Geduld an; ich solle nicht so viel nachdenken, sondern es mir gut gehen lassen und mich recht viel in lustiger Gesellschaft bewegen. Die Damen nicht zu vergessen, aber ohne jede Liebe.

Sie werden erstaunt sein, wie ich dies schließlich selbst bin, daß ich über diese Periode meines Lebens Ihnen einen so ausführlichen und, wie ich glaube, auch klaren Bericht geben kann. Es erscheint merkwürdig, daß das Gehirn, welches doch damals so aufgewühlt war, nach so verhältnismäßig langer Zeit alle Eindrücke mit solcher Genauigkeit behalten und daß man sie mit solcher Klarheit wiedergeben kann. Aber es ist in der Tat so. Ich kann mich auf jede Einzelheit aus meinem Aufenthalt in Rom besinnen, und es würde mir nicht viel Mühe kosten, das genaue Datum einer jeden Begebenheit anzugeben. Noch merkwürdiger jedoch ist es, daß ich heute vollständig ruhig geworden bin. Ich habe gleich bei Beginn dieses Memoires betont, daß mein Geist weniger alteriert ist, als ich befürchten zu müssen glaubte. Je weiter ich mit der Niederschreibung meiner Erlebnisse kam, je mehr ich mein Leben prüfte und über das, was ich getan, mir ein Urteil bildete, desto ruhiger wurde ich, ein desto größerer Ernst beherrschte mich. Sie werden bemerkt haben, daß ich in diesen Ausführungen viele Szenen mit einer Unparteilichkeit und Objektivität ausführte, als ob ich Tatsachen erzählte, deren Zeuge ich gewesen und nicht deren beklagenswertes Opfer ich geworden. Ich fühle keine Gewissensbisse und habe auch keine Furcht. Ich habe mich durch das einzige Mittel, welches mir geblieben war, losgelöst von einem Gegenstand, welcher mich folterte und der meinen Verstand in Verwirrung brachte. Alles, was ich getan, erscheint mir gegenwärtig ganz natürlich. Bevor ich so weit gekommen, bevor ich zu diesem letzten Mittel gegriffen, habe ich mit mir gekämpft, ich habe Schutz gesucht bei der Arbeit, beim Gebete, bei der Einsamkeit und dem Selbstmorde, beim Gesetze und bei der Wissenschaft; ich habe sogar diejenigen bedauert, welche mich herausgefordert, beleidigt und in die Ferne getrieben hat. Von allen diesen verlangte ich eine Milderung jenes großen Leides, welches ich nicht mehr zu ertragen vermochte. Es war alles vergeblich. Die Natur hatte mich mit unabänderlicher Grausamkeit dem Dämon ausgeliefert, welcher in mir tobte. Das Verbrechen, welches ich begangen, hatte diesen Dämon vertrieben, es hatte mich ruhig und gesund gemacht. Gleich darauf habe ich mein seelisches Gleichgewicht wieder errungen, welches die Grundlage des ganzen Lebens ist. Ich wurde wieder Herr meiner selbst, nicht nur für einige Tage, wie nach dem Zweikampf mit Serge, sondern für immer. Dieser Bericht, an welchem ich seit einem Monate schreibe, ohne Aufregung, ohne Widerwillen und ohne Verdruß, beweist schon die Nichtigkeit meiner Behauptung. Ich fühle wieder die Lust zur Arbeit in mir, und wenn es mir beschieden ist, weiterzuleben, so werde ich, wie ich fest glaube, diesen erschütternden Abschnitt meines Lebens vollständig vergessen.

Kurz und gut: Wenn ich mir Herz und Nieren prüfe, und über meine Tat nachdenke, so fühle ich mich nicht schuldig.

Das Recht der Notwehr gilt nicht allein für Angriffe auf unser körperliches, sondern auch für Angriffe auf unser geistiges Leben. Plötzlich und unvorbereitet wurde ich überfallen, beleidigt und in meinen heiligsten Gefühlen verwundet von einem Wesen, welchem ich nur Gutes erwiesen. Zuerst war ich von diesem Schlage betäubt; dann aber habe ich mich verteidigt und habe meinen Gegner zu Boden gestreckt. Weil man sich bei den Angriffen auf mich weder des Revolvers, noch des Messers, noch des Stockes bediente, sollte ich schutzlos denselben ausgesetzt sein? Das will mir nicht einleuchten und, wie es scheint, auch Ihnen nicht; denn Sie haben mir in meinem Gefängnisse die Hand gedrückt; Herr Ritz, sein Schwiegersohn und Männer von skrupulösem Ehrbegriffe haben mich ebenfalls besucht und mir Mut zugesprochen.

Seit ich diese Natter unschädlich gemacht, fühle ich mich beruhigt und wohl. Ich denke an mein Kind, welches mir bis dahin gleichgültig gewesen, und das ich nunmehr liebe; ich habe auch den Glauben an Gott wiedergewonnen, welcher mir in dem schweren Kampfe abhanden gekommen war.

Aus dem, was ich hier ausführe, ist es ersichtlich, daß ich nicht mit Vorbedacht das Verbrechen begangen habe. Meine Tat war nicht das Produkt der Ueberlegung, sondern sie war die Eingebung eines Augenblickes; sie erfolgte instinktiv, ebenso wie ein Mensch, welcher plötzlich von Atemnot befallen wird, rasch ein Fenster einschlägt, um frische Luft herbeizuführen und sein Leben zu erhalten. Ich wurde durch die Mordtat gerettet; ich hätte es vorgezogen, auf andere Weise gerettet zu werden, aber ich konnte nichts dazu tun.

Vielleicht war das Verbrechen mir vom Schicksal vorausbestimmt; vielleicht konnte ich, der ich auf eine illegale Geburt zurückblicken mußte, mich nur durch ein illegales Mittel befreien; vielleicht liegt der verbrecherische Trieb in meinem Blute und schon meine Argumentationen sind verbrecherisch! Kann sein! Aber in diesem Falle bin ich blind und mir fehlt das Bewußtsein meiner Handlungen; ich unterliege dem Schicksal der Vererbung, und dann bin nicht ich es, den man anklagen und verurteilen darf. Nicht ich bin der Mörder, sondern jenes geheimnisvolle dunkle Wesen, welches ich in mir trage: Es ist mein Vater! Es ist der Unbekannte!


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