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3. Kapitel

Alle diese Erschütterungen, Kämpfe, diese psychischen Eindrücke hatten nicht nur meine Gesundheit untergraben, sondern auch auf meinen Geisteszustand verhängnisvoll eingewirkt. Ich mußte mich mit jemand aussprechen; diese Persönlichkeit fand ich in unserem Katecheten und Beichtvater, vor ihm konnte ich mein ganzes Herz ausschütten. Dem Abbé Olette erzählte ich alles, was ich litt, alles, was mein Denken erfüllte und worauf ich keine Antwort wußte. Sei es aus Gewohnheit, welche der Beruf mit sich bringt, sei es, daß der Abbé mir infolge meines Leidens ein frühzeitiges Verständnis für seine Worte zutraute, derselbe sprach mir nun Mut zu, indem er auf die Leiden Christi hinwies, gegen welche die meinigen unbedeutend seien.

Ich hatte den Himmel eigentlich nie anders als zu meinem Vergnügen betrachtet. Mich amüsierten die Wolken, welche durch die Lüfte segelten, ich sah nach dem Firmament, wenn wir einen Ausflug vorhatten, um zu sehen, was für Wetter in Aussicht stehe. Meine Mutter hatte mir zwar immer gesagt, daß im Himmel ein Gott wohne, welcher die Guten belohnt und die Bösen bestraft, daß sein Sohn gestorben sei, um uns zu erlösen, und daß er den Armen und Elenden beistehe. Wir gingen auch in die Kirche, hielten streng die Festtage unserer katholischen Religion – kurz, ich war fromm und gläubig erzogen, ohne daß dies sonderlich tief mein Gemüt berührt hatte. Das, was ich Religion nannte, war für mich eine Gewohnheitssache, wie für so viele andere.

Mit den ersten Worten über Christus, dessen lichtvolle Gestalt er mir klarlegte, bei dem ersten Vergleiche, welchen er zwischen den Leiden des Heilands und den meinigen zog, glaubte ich in meiner leicht erregbaren Phantasie den Schlüssel zu allem gefunden zu haben, was mich bedrückte; ich redete mir ein, ich sei wie der heilige Sohn der Maria zu großen Opfern ausersehen und eine erhabene Mission harre meiner.

»So ist es,« sagte ich zu mir. »Ich bin wie Jesus, ich habe keinen Vater; auch ich bin ein Sohn Gottes. Ich begreife jetzt alles, und die Menschen, welche in dieses Geheimnis nicht eingeweiht sind, verfolgen mich, wie er verfolgt worden ist. Ich werde durch sie auch den Tod erleiden, aber meiner harrt das Himmelreich und ich werde diejenigen erlösen, welche mich verkannt. Meine arme Mutter wird von der ganzen Welt gebenedeiet werden. O mein süßer, heiliger Bruder Jesus Christus, wie lieb' ich dich.«

Immer eindringlicher fragte ich den Abbé aus; ich wollte alles wissen, und ich dürstete nach Offenbarungen. Dieser wackere Priester war ganz entzückt von diesem meinem Eifer, dem guten Beispiele nachzuahmen, und er unterstützte mich nach besten Kräften in meinem Tun. Er erzählte mir von den Heiligen, den Aposteln und den Märtyrern. Wie klein erschien ich mir diesen gegenüber! Es gab Augenblicke, wo ich den Wunsch hegte, gesteinigt zu werden, wie Sankt Stephan, oder mit Spießen beworfen zu werden, wie Sankt Sebastian. Für alle Beleidigungen und Angriffe meiner Kameraden hatte ich in meiner Extase nur ein wehmutvolles Lächeln – ich betrachtete dies alles als Prüfungen und Wohltaten des Herrn. Ich schlief nicht, ich aß nichts, ich dachte nur an das Paradies und an Mittel, in dasselbe zu gelangen. An Sonn- und Festtagen weilte ich fast den ganzen Tag über in den Kirchen und lag stundenlang in inbrünstigem Verzücken vor den Heiligenbildern auf den Knien.

Ich prüfte mein Inneres und legte mir schwere Buße und Kasteiungen auf. Ich rief in ununterbrochenem Gebete die Heiligen an und sang fortwährend Kirchenlieder. Stellen Sie sich das Hohngelächter meiner Kameraden vor.

Die Folgen blieben nicht aus; ich ward von Nervenanfällen heimgesucht, hatte heftigste Kopfschmerzen, und Fieberschauer durchschüttelten meinen Körper. Seine Widerstandsfähigkeit war gebrochen. Man brachte mich auf die Krankenabteilung und rief meine Mutter herbei. Als sie kam, war es bereits zu spät – ich war nicht mehr transportfähig und es blieb ihr nichts anderes übrig, als bei mir zu bleiben. Fünf Tage und fünf Nächte lag ich im Delirium; weiß der Himmel, welche Bilder mir meine kranke Phantasie damals vorzauberte. Eines davon spielte sich jedoch vor meinen leiblichen Augen ab.

Ich sah, knapp neben meinem Bette, einen Kranken, in meinem Alter und von meiner Figur, dessen Züge ich jedoch nicht erkennen konnte, da sie mit Blut bedeckt und zudem durch einen Verband verhüllt waren. Dieser Kranke lag regungslos da. Zwischen mir und ihm standen mehrere Personen, unter denen ich meine Mutter erkannte. Alle diese Personen umstanden still und regungslos wie Gespenster das Lager. Wie durch einen Schleier, hinter welchem die Gestalten stets wechselten, sah ich bald Herrn Fremin, bald den Abbé. Aber diese unheimliche Stille hielt an, eine wirkliche Fantasmagorie bei dem trüben Schein eines Lämpchens, dessen fahle Strahlen die Schatten dieser Schatten auf die großen weißen Vorhänge warfen. Endlich wandte sich meine Mutter zu mir und der Spuk verschwand. Ich will sie ansprechen, es war mir unmöglich. Ich versuchte zu schreien, als alle die Personen jenes Bett verließen und sich dem meinigen näherten. In meinem Kopfe hämmerte und pochte es, und alles spielte sich in einem Zeitraum ab, den abzuschätzen ich nicht imstande war, aber diese Szenen am anderen Bette wiederholten sich täglich. Größtenteils war der Kranke unbeweglich; entweder schlief er, oder er war tot! Der Kranke, das war André! Er hatte kein Blut mehr im Gesicht; das Antlitz war durchsichtig wie Elfenbein und hob sich durch seine bleiche Farbe selbst von dem weißen Kopfkissen ab, die Hand, deren Zartheit und Feinheit ich stets bewundert, lag regungslos auf dem abgemagerten Körper.

Dieses ganze Bild war vom Mondschein einer lauen Frühlingsnacht übergossen und steht noch heute vor meinem geistigen Auge. Wenn alles still geworden, schlich sich eine Gestalt an das Totenlager: ein älterer Kamerad, welcher viel mit André heimlich verkehrt hatte und welchen ich stets in Verdacht gehabt, daß er auf den jungen Amerikaner einen unheilvollen Einfluß ausgeübt hatte. Er weinte heftig und betrachtete mit wehmutsvollen Blicken den toten Freund.

Alle diese Eindrücke waren so nachhaltig, daß, als das Fieber von mir gewichen war, mein erster Blick auf jenes Bett fiel. Es war leer, weiße reine Linnen bedeckten es und nichts deutete auf die Ereignisse hin, welche ich gesehen hatte. Niemand war im Krankenhause außer meiner Mutter, einer Pflegerin und mir. Ich mußte wohl Alpdrücken gehabt haben. Von meinem Fieber blieb mir nichts weiter im Gedächtnis, als daß ich während längerer Zeit krank gewesen und es jetzt nicht mehr bin. Eine Schwäche lag in meinen Gliedern, welche mich aber nicht belästigte, vielmehr ein gewisses wohliges Gefühl hervorrief. Ich war nicht imstande, mich zu bewegen, oder an etwas zu denken. Meine Mutter hielt meine Hand in der ihrigen, mit Tränen in den Augen lächelte sie mir zu, indem sie mir durch Zeichen zu verstehen gab, daß ich nicht reden und jede Aufregung vermeiden solle. Mit einem dankbaren Blicke antwortete ich ihr. Ich habe niemals mehr in meinem ganzen Leben ein ähnliches Gefühl des Behagens und einer alle Fibern durchdringenden Wohligkeit gehabt wie damals. Ich schien mir wie neugeboren. Wer jemals eine schwere Krankheit überstanden, dem Tode ins Auge geschaut hat und dann fühlt, wie die Kräfte allmählich wieder in seinen Körper zurückkehren, wie die Glieder wieder ihre Elastizität erlangen; kurz, wie das Leben wieder durch seine Adern zieht, in seinen Pulsen pocht und in seinem Herzen warm schlägt, – wer dies jemals mitgemacht, wird mich verstehen und mir nachfühlen können.

Zu meiner vollständigen Erholung zog ich mit meiner Mutter nach Marly, wo wir einen vollen Monat verblieben. Wir hatten auf einer Anhöhe, in der Nähe eines Waldes, zwei Zimmer mit der Aussicht auf einen Obstgarten gemietet. Mehr erlaubten unsere Mittel nicht. Der Eigentümer dieses bescheidenen Besitztums war ein Töpfer, durch dessen Werkstatt wir gehen mußten, um nach unseren Zimmern zu gelangen. Um mir Zerstreuung zu bieten, gab er mir Ton, aus welchem ich Figuren kneten sollte. Das machte mir viel Spaß, und meine Arbeit fand seinen Beifall in dem Maße, daß er mich dazu aufmunterte, die Statue der heiligen Jungfrau, welche über dem Kirchenportale sich befand, zu modellieren. Ich verbrachte dort den ganzen Tag, umgeben von der Dorfjugend, welche mit bewundernden Blicken mein Tun verfolgte. Diese Bewunderung, so wenig Wert sie eigentlich hatte, und die aufmunternden Lobesworte des Töpfers, welcher ganz überrascht war von meiner Begabung, machten mir großes Vergnügen.

Als ich mit meiner Arbeit fertig geworden, zeigte sie der Töpfer dem Adjunkten des Maire und dem Pfarrer, welche nun ihrerseits mich aufmunterten. Mein Gönner versprach mir das Tonmodell zu brennen, damit ich es aufbewahren könne. Er versicherte mir, daß ich noch ein großer Künstler würde, und daß mir dann mein Erstlingswerk großes Vergnügen bereiten werde. Mit freudestrahlendem Auge sah ich meine Mutter an; sie schien aber trotz dieser günstigen Perspektive kein großes Vertrauen in die Prophetengabe des Töpfers zu haben. Ich nahm meine Studien wieder auf und beschäftigte mich während meiner freien Zeit mit meiner neuen Arbeit, an welcher ich Geschmack gefunden hatte. Ich dachte mir: man kann nicht wissen, was die Zukunft bringen wird.

André weilte nicht mehr unter uns. Ich hatte also in der Tat gesehen, was wirklich geschehen. Er war gestorben. Man hatte vor mir verschwiegen, was geschehen, um mich nicht aufzuregen. Dieser arme Bursche war plötzlich von heftigem Blutsturz befallen worden, und der starke Blutverlust hatte seinen schwächlichen, entnervten Körper vollständig zerstört. Ausschweifungen hatten dem jungen Mann die Widerstandsfähigkeit geraubt, und die kostbaren Lebenssäfte, welche zur Erhaltung des Lebens notwendig, waren verschwendet worden. Innerhalb zweier Tage war er den Anfällen erlegen und unter großer Teilnahme seiner Mitschüler zu Grabe getragen worden. Als ich von diesem traurigen Ereignisse Kenntnis erhielt, fühlte ich lebhafte Gewissensbisse. Hatte ich nicht André ins Gesicht geschlagen, daß Blut geflossen war! Vielleicht hätte dieses Blut genügt, um ihn am Leben zu erhalten. Ich suchte Beruhigung beim Abbé Olette, welcher mir Trost zusprach. Aber in meinen Gebeten dachte ich des toten Kameraden, und als ich mich zur Beichte und zum heiligen Abendmahl vorbereiten mußte, beschäftigten sich meine Gedanken lebhaft mit dem ersten Feinde, den ich gehabt und an welchen ich später in so verhängnisvoller Weise noch erinnert werden sollte.

Ich beichtete mit aufrichtigem Herzen und nahm das heilige Abendmahl tiefgläubigen Sinnes – oder richtiger gesagt mit einem wahren Enthusiasmus – denn der Glaube ist erst die Frucht des reifen Alters, beim Kinde ist er nur eine Blüte. Eine allgemeine Versöhnung ging dem Empfange des Abendmahls vorauf. Die Absolution wurde uns unter der Bedingung erteilt, daß alle ihre Zwistigkeit sich vergeben, und nolens volens mußten wir uns vor dieser kirchlichen Feier zum Zeichen der Vergebung umarmen. Mit uns empfingen gleichzeitig mehrere Töchterschulen im selben Quartier das Abendmahl, und ich bemerkte, wie viele meiner Mitschüler mit den Pensionärinnen kokettierten, sie heimlich ansprachen, oder ihnen kleine Billetts verstohlen zuwarfen; zwei oder drei meiner Mitschüler, welche sich gern als Freigeister aufspielten, spuckten sogar unter Grimassen die Hostie aus.

Meine Mutter befand sich mit mehreren anderen Müttern unter den Kirchenbesuchern. Sie hatte mir gesagt, wo sie sich aufstellen würde und zwar in der Nähe des Altars, damit ich sie sehen könne, ohne mich umdrehen zu müssen. Ihre Arbeiterinnen hatten es sich nicht nehmen lassen, sie zu begleiten und teilzunehmen an ihrer freudevollen Rührung. Was mich anbetrifft, so waren meine Augen voller Tränen, und ich machte gar keinen Versuch, dieselben zu unterdrücken. Seit jener Zeit haben sich meine Ansichten über die Religion und selbst über Gott vielleicht geändert, aber ich habe niemals den Wunsch gehabt, daß ich damals mit anderen Gefühlen kommuniziert hätte, als dies tatsächlich der Fall gewesen, und ich bedaure alle Menschen, welchen aus ihrer Jugend eine solche Erinnerung nicht geblieben ist. Ich weine heute noch, wenn ich dieses Tages gedenke. Aber, das sind nicht die nämlichen Tränen, die ich jetzt vergieße!

Aber weshalb sie auch immer fließen, ich segne sie, denn es sind Tränen, und es ist schon so lange her, daß ich habe weinen können.


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