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13. Kapitel

Man sagt, daß Gott dem Menschen das freie Selbstbestimmungsrecht verliehen habe. Wer behauptet das? Diejenigen, welche daran glauben; denn Gott hat niemandem über seine Absichten oder über die Elemente, aus welchen er seine Geschöpfe zusammengesetzt, Rechenschaft gegeben. Wenn dieses freie Selbstbestimmungsrecht überhaupt verliehen worden war, so ist dies nur bei dem ersten Menschen der Fall gewesen, welcher direkt aus den Händen des Schöpfers ohne Unterstützung irgend eines menschlichen Wesens hervorgegangen ist. Wir wissen nach der Ueberlieferung, welchen Gebrauch dieser erste Mensch von diesem Geschenk unter dem Einflusse des Weibes gemacht hat, welches seinen Rippen entnommen worden war. Seit Kain hat dieses freie Selbstbestimmungsrecht aufgehört zu existieren. Kain ist nicht mehr Herr seiner Handlungen. Er leidet für seinen Erzeuger. Der Vater war ein Sünder, der Sohn ein Verbrecher. Der physiologische Prozeß beginnt, die Erbsünde wird auferlegt und findet kein Ende. Wie der Vater, so der Sohn.

Von den Aerzten weiß man es, daß wiederholt, sogar sehr oft, bei einem Menschen plötzlich eine fremdartige, heftige chronische Krankheit ausbricht, ohne daß vorher irgendwelche Krankheitssymptome sich gezeigt hätten und welche im Grunde der Lebensweise, dem Temperamente und der Konstitution des Patienten widerspricht. Sie fragen dann den Kranken nach seinen Eltern und Verwandten, gehen zwei, drei Generationen zurück und finden endlich bei einem der Vorfahren den Grundkeim zu dem plötzlichen Uebel.

So ist es auch in geistiger und sittlicher Hinsicht. Diese Krankheiten vererben sich, wie man es bei Wahnsinnigen oft findet. Vom zweiten Menschen angefangen, sind wir nicht mehr die reinen und lauteren Geschöpfe Gottes. Jeder von uns ist das Produkt zweier Menschen, und wir tragen in uns die Bestandteile dieser beiden Individualitäten. Wenn dieselben sympathisch, geistig ebenbürtig und gleichartig sind, so haben auch wir alle Chancen, zu einer inneren Harmonie zu gelangen. Sind aber geistige oder sittliche Widersprüche zwischen den Charakteren jener Wesen, die man Vater und Mutter nennt, so unterliegt das Kind dem Widerstreite dieser entgegengesetzten Gewalten, bis eine über die andere den Sieg davonträgt. Bislang hatte ich unter dem Einflusse der zarten mütterlichen Natur gestanden, ausgenommen an jenem Tage, an welchem ich mich auf André gestürzt und denselben zu erwürgen getrachtet hatte. Bei jenem gemeinen und häßlichen Auftritte, zu welchem ich mich gestern hatte hinreißen lassen, war aufs neue der Charakter meines Vaters in mir wach geworden und seine rohen Neigungen und Gesinnungen waren bei mir an den Tag gekommen. Dieser Vater, den ich niemals kennen gelernt hatte, der bei ruhigem Blute in mir latent war, meldete sich durch eine Missetat; er brachte blitzschnell die Rechte der Vererbung zur Geltung. Das war um so gefährlicher, als ich keine Kenntnis von ihm hatte und daher auch nicht wußte, wie ich mich dagegen schützen sollte; aber durch die Heftigkeit, mit welcher sein Blut in meinen Adern sich geltend gemacht, hatte er sich verraten, und ich war auf meiner Hut. Von diesem Tage an sagte ich mir, sobald ich mich auf einem solchen schlechten Gedanken ertappte: »Aufgepaßt! Der Unbekannte rührt sich.«

Als ich nach dieser traurigen, gewonnenen Wette zu Hause angekommen war, als meine Gedanken sich gesammelt hatten, als ich ernüchtert alles überdachte, konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. Ich sank vor Izas Bild auf die Knie und bat sie um Vergebung. Ich wiederholte das Versprechen, welches ich so schlecht gehalten, und erneuerte vor ihrem Bilde den Schwur, nur sie zu lieben und nur ihr angehören zu wollen. Die Scham über meine scheußliche Tat verknüpfte mich nun in meinen Gedanken unlöslich mit diesem Kinde, welches an mich vielleicht gar nicht mehr dachte. Ich machte aus ihr meine Patronin, meinen Schutzengel, meine Schutzheilige. Ich versprach ihr täglich Rechenschaft über mein Tun abzulegen und nichts mehr zu unternehmen, worüber sie erröten müßte.

Das Laster macht auf diejenigen, welche nicht in demselben zu Grunde gehen, sondern der Reue fähig sind, einen ganz merkwürdigen, bizarren Eindruck, welcher im Grunde genommen nur eine Züchtigung der Sünder ist; er ändert den Maßstab für das absolut Tugendhafte und verleiht das Aussehen der unbedingten Anständigkeit jenen Erscheinungen, welche nur sehr bedingungsweise als anständig gelten dürfen. Im Vergleich mit sehr vielen anderen Frauen mußten Iza und deren Mutter als das erscheinen, was sie waren, oder was sie naturgemäß werden mußten: als zwei Abenteuerinnen, von denen die eine am Anfang, die andere am Ende eines bewegten Lebens stand. Wenn man sie aber mit jenen feilen und liederlichen Frauenzimmern verglich, in deren Gesellschaft ich die letzten Stunden verbracht hatte, so erschienen sie wie zwei Heilige; und daran hielt ich mich. Ich sah nur ihre Lichtseiten; ich erinnerte mich nur an die Gutmütigkeit der Mutter, an die Grazie, die Unschuld und Schönheit der Tochter, an die Tage, welche wir gemeinsam bei der Arbeit oder im Gespräche verbracht und welche einen so schreienden Kontrast zu dem gestrigen Auftritte bildeten.

Mag der Himmel in welchem Zustande immer sich befinden, ob Schnee fällt oder Schlossen hageln, es kommt einem, wenn man soeben einen dunklen und dumpfigen Kerker verlassen hat, vor, wie wenn der Himmel nie so schön, niemals so blau gewesen wäre. Es war geschehen: für mich gehörte Iza zu den unschuldigsten aller Geschöpfe.

Trotz aller meiner Entschlüsse, trotz der Verachtung für dieses erste Weib, trotz aller abstoßenden Erinnerungen, welche diese Szene in mir wachgerufen, konnte ich dennoch nicht so leicht, wie ich gehofft hatte, dieses »erste Weib« vergessen. Das neue Empfinden, welches sie mich gelehrt, war bei mir von derselben Wirkung, wie wenn man plötzlich mit aller Kraft eine Saite anschlägt, deren Ton dann noch lange in der Luft nachzittert. In meinem ganzen Seelenleben zitterte dieser Ton nach.

Es ist wahr; das Weib, welches ich auf so merkwürdige Weise kennen gelernt hatte, war schön; eine Brünette mit üppigem, rabenschwarzem Haar, einer niedrigen Stirn und dichten Augenbrauen. Ihre Augen funkelten unter den langen Lidern hervor und strahlten von heißer Begehrlichkeit.

Meine Freunde bereuten den Scherz, welchen sie sich gemacht, da sie sahen, wie ich mich durch denselben gedemütigt fühlte. Sie entschuldigten sich bei mir so aufrichtig und ernst, als es unter solchen Umständen möglich ist. Einer derselben erzählte mir, daß Claudia (der Name der Vestalin, zu welcher sie mir Modell gestanden, war dem Mädchen als Spitzname geblieben) ganz verliebt in mich wäre! Ein großer Triumph; denn sie hatte nicht mehr Herz in ihrem Leibe als die schöne Olympia, der Automat in »Hoffmanns Erzählungen«.

Ich weiß nicht, ob dieser Eindruck, den ich bei meinem Modell gemacht, von Dauer gewesen; aber ich konnte bei mir, wenn ich sie traf – es war in einem Zeitraume von sechs Jahren im ganzen zwei bis drei Mal – eine Erregung nicht unterdrücken, und auch sie schien bei meinem Anblicke verlegen zu werden.

Mit noch größerem Eifer machte ich mich an die Arbeit, ohne jede andere Zerstreuung als die Briefe von Iza.


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