Hermann Eris Busse
Bauernadel
Hermann Eris Busse

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16
Die Botschaft

Die Nachbarn, die Leute mit den dumpfen Gefühlen für auffällige Zeichen des Schicksals, verliefen sich in die Nacht. Der Abend stand wie ein einziger Riesenbrand auf den Höhen und machte die Herzen unruhig und furchtsam. Als die Mägde 132 dem Veitel Asch die Unglücksfolge im Michelshof flüsternd berichteten, breitete er unaufhörlich und wie von einem Uhrwerk peinlich geregelt, die Hände aus, hob sie hoch, fuhr mit dem knochigen, bärtigen Kopf hin und her, senkte die Hände wieder schlaff und begann von neuem. Er schwieg dazu. Aber sein Gesicht sagte genug. Schließlich kam Urban in die Stube und verscheuchte das Gesinde. Veitel Asch kroch auf die Bank am Ofen, legte die Arme auf die Knie und sank in sich zusammen. Urban trat an das Fenster und spähte in den flammenden Himmelsrand, seine Gedanken flohen aus dem festen Kern des Begreifens, sie wurden wie im Traum von Bild zu Bild geschleudert.

Nun kam Bruder Martin nicht wieder, nun war Flur allein, und Fabian, der eben übern Hof ging, vaterlos. Martin war tot. Das spürte Urban schmerzhaft. Ein Strom Blutes von seinem Blut düngte fremde Erde, der Zwilling nahm vom Kameraden doch eine stille Habe mit in das dunkle Jenseits. Und was nahm er mit? Eine Welle abergläubischer Furcht überlief den Rücken Urbans. Er wollte sich zwingen, an anderes zu denken. Er fühlte, daß hinter dem Tod des Bruders verhüllte, große, dumpfe und gewalttätige Dinge standen. Da lagen Soldaten in riesigen Todesreigen hingestürzt, das war nicht nur des einzelnen Bruders Tod, das war der Tod aller Tode und ein Ende, das alle anging, die daheim und die draußen. Ist der Tod wirklich verschlungen in den Sieg? Ach, man müßte sie sehen können, die Gefallenen, ob sie wirklich lächelten, wie man es las zuweilen.

Urban durchfuhr der Gedanke, halt, der Veitel, der hat viel gesehen, auch Krieg, auch Gefallene, auch Kämpfende.

»Wie ist das, Veitel Asch, wenn draußen die Toten liegen, wie sehen ihre Gesichter aus?«

Veitel hob die Arme von den Knien, in einer hilflosen Gebärde ließ er sie aber wieder sinken.

»Ihr denkt an Eueren Bruder Martin, Bauer. Ihm ist wohl. Gefallen, hi, hi, auf dem Feld der Ehre.«

»Lach nit, dummer Jud!«

Veitel sog laut den Atem ein: »Treibjagd auf Hasen, Bauer, Ihr kennt das, nichts anderes ist's, wenn Soldaten über das Feld gehetzt werden, sie rasen besinnungslos, da ist keiner mehr 133 Mensch und fühlt nichts, denkt keiner an Gott oder an irgend jemand sonst. Sie rennen und schreien und schießen und töten und werden getötet wie Tiere.«

»Das ist nicht wahr, Asch, stinkender Lügner!«

»Wenn Ihr es besser wißt, Bauer, weshalb fragt Ihr?«

»Man hört, sie stürmten singend, sie leuchteten vor Begeisterung und schlugen ihr Leben in die Schanze fürs Vaterland«, sagte Urban.

Veitel Asch lachte leise. Urban hörte es nur halb, er irrte mit den Gedanken schon wieder wo andershin. Der sonst so zäh und unabwendlich an einer Sache herumgrübeln konnte, fand keinen Pol. Draußen verlohte der Prunk des Sonnenunterganges schon längst, bescheiden schwebte die Dämmerung von den Tälern her. Und nah hinter ihr die Nacht. Urban machte Licht und langte nach alter Gewohnheit die Bibel vom Schaft. Aber die Buchstaben tanzten vor seinen Augen und sprangen wortweis aus den Zeilen, sie gaben keinen Sinn. Da schlug Urban das heilige Buch zu, stand auf und verließ mit schweren Füßen die Stube. Nicht lange danach schlug draußen der Hund wütend an, und nagelbeschlagene Schuhe klirrten mit mächtigem Schritt das Pflaster herauf, und gleich darauf betrat ein hochgeschossener blonder Mann die Stube nach raschem Anklopfen; es war ein Leutnant.

»Grüß Gott!« sagte er zu Veitel, ihn erstaunt musternd. Veitel machte sich klein. Blauäugig Blonde von der Art des fremden Soldaten liebte er gar nicht. Sie zeigten sich gewalttätig und kriegsbesessen nach seiner Meinung und Erfahrung. Der fremde Soldat sah die Krummnase und das stechende Dunkel der hastig schauenden Augen und wußte, wohin mit dem Alten.

Der Fremde blieb mitten in der Stube stehen, vielleicht verlegen und benommen von dem unvermuteten Reichtum der Bauernstube, den er nicht erwartet hatte; denn er sah sich mit großen Augen um, blieb an den Malereien auf dem Getäfel haften, streifte die Bildnisse der drei Ehepaare, das städtisch vornehme des jungen Salomon Kuß, das seiner Frau und die der wieder zur Bauerntracht zurückgekehrten alt gewordenen Eheleute – diese Gemälde schuf der Bauernmaler Lukas Moser – und an der Wand gegenüber, die Bildnisse des ersten 134 Michelshofbauern namens Götz, Stoffel Götz, und seines Weibes Agathe – diese stammten von Lukas Kirner. Sie gaben der großen Stube eine bürgerliche Würde, die noch von der Sauberkeit und Ordnung, die allenthalben spürbar herrschte, vertieft schien.

»Ja so«, sagte jetzt der Fremde, ohne Veitel anzusehen, »wo steckt denn der Bauer hier, Martin Götzens Bruder?«

»Ich, ich will ihn rufen, schnell, auf der Stell, Herr Leutnant«, rief Veitel erlöst aus und rutschte vom Sitz, jedoch hatte er Unglück, verwechselte die Füße und lag stöhnend am Boden.

Der Leutnant hob ihn auf und drückte ihn auf die Bank zurück. »Laßt nur, ich such den Mann selber, ein Wort noch, ist auch eine Frau da? Die brauch ich noch nicht, haltet sie auf.«

Veitel Asch, mit verstörtem Gesicht, legte den Finger an den Mund.

»Still, Herr Leutnant, dort drinnen liegt sie und ist schwer krank, auf den Tod vielleicht, o Gottogott, viel, viel Unglück hier im Hause, seit jeher, das müssen Sie wissen, Herr – ehe Sie reden. Auch der Bauer ist wunderlich.« Und ganz nah an den Leutnant hin, so daß der sich unwillkürlich zu ihm hinabneigte, flüsterte Veitel: »Er hat Angst, er muß in den Krieg.«

»Pfui Teufel!« entfuhr es dem Fremden, er schnellte in die Höhe, blaß und kalt im Gesicht, das merkwürdig schmal über den breiten Schultern stand. In diesem Augenblick betrat Urban die Stube. Sie starrten wortlos einander an. Auf einmal hörte Veitel ein leises Geräusch wie von Frauengewand hinter sich, und als er sich umwandte, stand Flur auf den Stufen vor der Kammertür. Er hob die Hände und beschwor sie mit Gebärden, wieder zurückzugehen, aber sie schüttelte hartnäckig den Kopf. Da konnte Veitel nichts anderes mehr tun, als mit seinen scharfen Augen von einem Menschen zum anderen zu spähen, die drei regten sich ja nicht; ein unmeßbarer Zeitraum bannte alles in seine tonlose Leere. Erst das Eintreten der Magd, die das Abendbrot auftragen wollte, zerstörte die stumme Spannung. Urban fand zuerst die Sprache wieder, er winkte dem Mädchen hinauszugehen, machte ein paar Schritte gegen den Leutnant hin und sagte mit rauher Stimme: »Grüß Gott, was führt Sie in den Michelshof, Herr Lehrer?« 135

»So, Ihr kennt mich, Michelshofbauer, dann ist es ja recht«, gab der Fremde zu.

»Ich hab Sie zuweilen in Sonnenkirch gesehen, wenn ich dort bei den Blessings ankehrte«, erklärte Urban, »wollet doch niedersitzen!« Er wies auf einen Stuhl in der Nähe des Tisches. Jetzt entdeckte er Flur, der Schreck malte sich weiß in seinem Gesicht, er stürzte auf sie zu und drängte sie in die Kammer. Man hörte durch die halboffene Tür seine beschwichtigende Stimme, die in ein leidenschaftliches Frauenschluchzen hinein viel Tröstliches sagen mußte. Es währte eine Weile, bis es drinnen still wurde und Urban auf den Zehenspitzen durch die Kammertür und die drei Stufen herabkam.

»Sie schläft fest«, sagte er zu dem Leutnant.

»Ich bring letzte Nachricht von Martin Götz, der an der Somme den Heldentod fand. Er war mein treuer Kamerad.«

»Wie ist es gewesen?« fragte Urban, gezwungen ruhig. Der Leutnant sah sich nach Veitel Asch um.

Urban sagte: »Veitel Asch kann alles hören. Er kannte Martin und kennt den Krieg.«

Im Ton schwang etwas mit, das den Leutnant stutzig machte, eine trotzige Wehr gegen den Krieg etwa, sollte der Jud recht haben? Schwang Angst mit, hinterhältige Drückebergerei? Leutnant und Lehrer Gmelin setzte sich nicht. So mußte Urban, der Bauer, stehenbleiben. Sie mußten auch wieder schweigen.

»Es ist so dumpf hier«, sagte endlich Gmelin, »können wir nicht vor das Haus treten?«

Schon war Urban an der Tür, machte große, schwere Schritte und stand vor den anderen draußen, nach ihm kam Gmelin, und dann schlüpfte Asch beflissen hinterdrein. Urban rief in die Küche, sie könnten essen und fertigmachen.

Gmelin dachte erbittert, was tut nun der Jud auch hier dabei, wir wollen doch nicht handeln. Oder doch, stürzte es in seine Gedanken, kann man vielleicht den zersetzenden Gedanken, die dieser Gesell sicherlich dem Bauern beredt ins Gemüt geschafft hat, noch eine arme Seele abschachern? Gmelin wollte scharf aufpassen und alle Kraft einsetzen, den Bauern von der Furcht zu lösen und den kleinen Umkreis seiner ichsüchtigen Schollenliebe auf das Feld der Vaterlandsbegeisterung führen. 136 Um jeden Preis. Engel mit dem blanken Schwert, hilf! Ich heiß Gabriel!

Sie gingen alle drei, ohne sich zu verständigen, denselben Weg, über den Steg aus den Totenbrettern der Götzenhofkinder den schmalen Mattenpfad hinauf, über die Weide, an Wacholderbäumen, Birken, Ginsterwällen vorüber, auch über die Hochstraße, an den Waldrand. Dort lagen frisch aufgepolterte Stämme. Da setzten sie sich hin.

Urban und Asch warteten. Aber Gabriel Gmelin mußte erst schauen. Er sah in die Runde an den Waldgraten entlang, die scharf an den irgendwie graublau beleuchteten Himmel stießen. Die Luft ging leise und duftete nach Erde, Quellen und Nadelwald. Ein Fuchs stieß Schreie aus, im Wald hinter den drei Männern knackte etwas. Das Wild spürte den Frühling. Der Wind kam aus dem Tann. Da konnten die Tiere die Menschen nicht wittern. Nicht weit von ihnen traten auch vorsichtig drei, vier Wildschweine heraus, merkten nichts und stürzten sich in den Acker, auf dem ein Haufen verwitterter Winterkohlköpfe lag. Die Sauen schrunzten leise. Ihre hohen, gebogenen Rücken zeichneten sich gegen die Luft ab, wie ferne Berge.

Die drei Männer sahen hin, aber ihre Jagdgier schwieg. Gabriel Gmelin dachte, das ist wild und schön wie eine germanische Sage, dies Land, die Wälder, die feierlichen Bergrücken, das Raunen und Schreien ferner Wesen, Wasserrauschen in der Tiefe, Einsamkeit ringsum und der aufsteigende Mond am Himmel. Man sieht ihn noch nicht, ahnt ihn nur. Plötzlich rasten die Säue los, zurück in den Wald, Gebüsch brach nieder, der Waldboden empfing wie eine nur schlaff federnd gespannte Trommel den fliehenden Hoppeltakt der Schweine. Ein Hund stürmte über die Weide, bellte scharf und kurz abgehackt, jagte dem Wild nach.

»Sultan« rief eine brüchige Knabenstimme, »Sultan, hierher!«

Doch Sultan hatte auf einmal anderen Wind, er winselte und jaulte und kroch zu Urban bei den Stämmen. Der Knabe, der ihn gerufen hatte und hinter ihm drein die Halde heraufkam, war Fabian. Er setzte sich, ohne daß einer der Männer es billigte oder wehrte, auch auf einen Stamm.

Jetzt sprang der Mond schiergar mit voller Scheibe aus 137 einem Sattel des östlichen Gebirges, groß, rötlichgelb, schwermütig einsam und unwirklich am grenzenlos hinaufgeschwungenen Himmel. Es stand nirgends ein Stern. Gabriel Gmelin erhob sich: »Das ist Euer Wald, Michelshofbauer?«

»Es war wohl mehr Martins Wald, meines Zwillingsbruders.«

»Ja, ich weiß, er liebte über alles den Wald und das Wild, er roch auch nach Wald und hatte ein wildscheues Herz.«

Die anderen schwiegen. Jud Asch wurde so winzig auf seinem Stamm, daß er wie ein warziger, verkrümmter Ast aussah. Ihm war recht, wenn ihn jetzt niemand bemerkte. Er hätte davonschleichen mögen; denn er fürchtete sich vor dem, was nun kam. Aber Gmelin vergaß ihn nicht, er fragte zu ihm hinüber, seine Stimme schwang scharf in die Stille: »Nun, Ahasverus, friedloser Friedensprediger, ist dir wohl heiß genug im Pelz vor Furcht unter uns Wüterichen?«

»Ich habe viel verwüstetes Land und verwilderte Völker schon gesehen«, entgegnete Asch still und sicher.

»Und fürchtest dich nicht mehr?«

»Ich habe dulden müssen, was keiner von euch nur im Traum zu dulden vermag.«

»Ein Hiob also?«

»Ihr sagt es.«

»Und Gott?«

»Ist meiner, wie er der meiner Väter war, gepriesen in alle Ewigkeit.«

Da setzte sich Gabriel Gmelin, senkte den Kopf und trommelte mit den Absätzen leise auf den weichen Waldboden. Nach einer Weile sagte er noch, das Gespräch mit Asch abzuschließen und wie um seinen Spott zu lindern: »Ihr Juden glüht, wenn ihr von Gott sprecht, das ist groß, darum geht ihr nicht unter, obschon ihr überall getreten seid. Im Namen eueres Gottes, der ja ein Rachegott ist, zersetzt ihr das Volk, unter dem ihr lebt, macht seine Heimat gering, weil ihr keine kennt, macht sein Volkstum brüchig, weil ihr ihm fremd bleibt, ihr flüstert: Schaut da und dort, schaut in alle Welt, laßt das kleinliche Haften an der Scholle in den lächerlichen Heimatgrenzen! – Nicht nur die Dummen glauben euch, auch die Gescheiten wollen nicht hintanstehen, wenn die sogenannte 138 Weltverbrüderung beginnt. Oha, geht hinaus auf die Schlachtfelder, da hört ihr andere Sprachen, da predigt der Haß, da waltet die dumpfe Gier des Tieres, da denkt keiner an Frieden und will es auch keiner. Der Krieg ist alt, Asch, alt wie die Menschheit, ihn hat nicht einmal der Christ weglieben können in seiner kraftvollen und wundertätigen Sanftmütigkeit.

Und es ist so wie schwarz zu weiß und rot zu grün, wie ja zu nein und nichts zu all, wie Leben zu Tod gehört und Mann zu Frau, muß Haß zu Liebe stehen und Krieg zu Frieden. Das ist unabänderlich.«

Gmelin sah zu Asch hinüber, der hatte sein Gesicht aufgehoben, daß es im Mondlicht stand, und Gmelin war es, als lächle Asch.

»Weshalb könnt Ihr nun lächeln, Ahasverus?«

»Weil lächeln kann zu diesem nur der, der alles weiß, oder der unwissend einfältig ist wie ein Kind.«

»Und Ihr wisset alles?«

»Alles, was ein Mensch zu wissen vermag, und die Formel ist einfach . . .«

»Sie heißt?«

»Alles ist eitel, Gott aber bleibt ewiglich.«

»Deine Weisheit, Asch, ist billig. Deinen Satz hörten wir schon oft. Was nützt es aber, wenn der Ton euch nur am Ohr klingt und nicht im Blut!«

Veitel Asch stand auf und entwich. Alle sahen ihm nach, wie er die Halde hinabglitt, und sahen ihn doch nicht. Als sie mit Verstand daran dachten, wußten sie kaum mehr, daß sie ihn leiblich hatten davoneilen sehen. Für sie schien er im Dunkel rätselhaft zerflossen. Gabriel Gmelin sagte nach einer Weile, den Bann des Geschehens unwirsch abschüttelnd: »Sind alles östliche Magier, diese Leute. Sie haben großtönende, blühende Worte, denen man verfallen möchte, aber sie denken nichts zu Ende, ihr Verstand ist verzehrt von der Glut ihres Fühlens. Das wichtigste aber ist, immer selbst daran zu denken, daß er zersetzt, der Jude, uns und alle Blonden in der Welt. Es ist an uns, wachsam, über allem wachsam zu sein.«

Fabian, der Jüngling, erhob sich nun, kam neben Gmelin, ließ sich auf den Stamm des Leutnants nieder und fragte, sachlich ablenkend von der Schwermut des Denkens um die 139 letzten Dinge: »Und, erzählen Sie jetzt, wie war es mit meinem Vater Martin?«

Gmelin begann.

»Es ist schwer, von dem zu erzählen, was einem noch so nahe ist, so nah, daß man noch alle Bilder und Handlungen in sich hat, sie zittern und flackern wie Fieber. Aber glaubt ja nicht, daß sie aus Angst bleiben, ich weiß nicht, ob ihr es versteht, ich will es ganz einfach sagen. Martin Götz war von seiner Kompanie versprengt zu uns hergeirrt gekommen nach einem furchtbaren Angriff. Ich erkannte ihn sofort, rief ihn an, er zuckte auf, seine eigentümlich glühenden Augen, die jähe Freude ausdrückten, vergesse ich nie mehr, und er sprang zu mir her wie ein ganz verwirrtes Wild, angstvoll noch mitten im Gefühl des Erlöstseins.

›Mensch, reiß dich zusammen‹, hab ich ihm zugerufen, und wir schüttelten uns die Hände wie alte Kameraden. Ihr glaubt nicht, wie einem zumut ist, nach langer Zeit mitten im Feuer, im Stumpfsinn der von Lärm und von ewigem Fieber gelähmten Nerven, plötzlich einen Kerl vor sich zu sehen, der aus der Heimat stammt und in diesem Augenblick die Heimat selber ist. Dazu noch diesen echten Wälder, dessen Haut nach Tannen und schwarzem Boden duftet. Beinahe hätte uns ein Schrapnell erwischt, so vergaßen wir unsere Umgebung. Wir ließen uns niederfallen, wo wir standen. Neben, vor und hinter uns lagen viele. Ob sie tot oder lebendig waren, konnte man nicht unterscheiden. Wir waren eben ins mörderischste Feuer geraten, es blieb uns nichts übrig, als im aufgewühlten Boden zu nisten wie lausige Hühner. Vor dem Kampf hatte die Kompanie Schnaps empfangen, nun suckelten sie die Flaschen leer. Zuletzt lagen sie doch wie Tote im bleiernen Schlaf. Heut denk ich: Wohl ihnen. Die hier wieder aufstanden nach sieben Stunden reglosen Liegens, traf am anderen Tag der Tod.

Martin Götz lag dicht neben mir, er trank mäßig aus meiner Flasche, und ich aß die Hälfte seiner Brotkruste, die er noch besaß. Seit zwanzig Stunden hatte ja mein Magen nichts mehr begrüßen können.

Lach nur, Fabian, du heißest doch so? Der Humor ist draußen oft eine bessere und wirksamere Speise als das schönste Mittagessen. Man kann mit einem guten Witz Schlachten gewinnen. 140

Wir kamen tief ins Gespräch. Erst verstanden wir uns schwer, wegen des Lärmes, dann drehten wir uns gegeneinander, zogen den Mantel über das eine Ohr wie ein dämpfendes Dach, legten das andere nah an die Erde und sprachen auch gegen den schwingenden Boden. So ging es ganz ordentlich.

Martin Götz war gesprächig, ich weiß ja, daß es nicht seine Art war, man sah es seinem Gesicht, seinem Mund schon an, wie zäh er am Schweigen hing. Auch klangen seine Worte hart, und seine Sätze saßen knapp. Was er eigentlich sagen wollte und auch mußte in dieser letzten Lebensspanne, das stand hinter ihnen. Man erriet und spürte es. Demnach hat er – ich will hoffen, der junge Fabian zeigt sich jetzt tapfer –, demnach hat er ein schweres Leben getragen, ohne daß ein Mensch es ahnte.«

Gmelin machte eine Pause. Es wehte ein kühler Wind den Versunkenen über die Schultern. Urban stand auf und ging ein paarmal hin und her. Er tat es wie im Traum, seine Schritte klangen dumpf, und die ganze, große, breite Mannsgestalt umgab ein dumpfes Wesen: die Achseln waren nach vorn gesunken, der gesenkte Kopf vorgebogen, die Arme fest am Leib und die Hände unsichtbar vergraben in den Taschen.

»Bauer«, hub Gmelin an, »woran leidet Ihr, daß man Euch nicht zum Soldat nahm?«

Urban veränderte sich nicht. Er schwieg.

Fabian besaß eine frisch in Saft geschossene Weidengerte. Er hieb pfeifend vier-, fünfmal durch die Luft und sagte mit abgewandtem Gesicht: »Ich, wenn ich das Alter hätt', ging.«

»Bist still, du Rotzbub!« trumpfte ihn Urban ab und setzte sich wieder auf den Stamm.

Fabian fuhr empor und rannte die Halde hinab, er heulte vor Zorn und Scham. Er hörte nicht, daß Gmelin ihm nachschrie, er solle dableiben, die Geschichte fertig hören.

»Nun habt Ihr, ohne es zu wissen, Euch eine schwere Arbeit aufgeladen, Michelshofbauer.«

»Meine Sach«, brummte Urban.

»Wenn Ihr es hört, wird's Euch schon beißen.«

»So redet.«

»Wie sagt Ihr es Fabian, daß er Euer Sohn ist?«

Urban sprang auf, starrte den Leutnant an wie vom Blitz 141 gelähmt, wischte sich dann mit dem Rockärmel über die Augen, sank auf den Stamm nieder.

Gmelin streifte ihn mit einem hochmütigen Blick. Wie sich ein starker Kerl so rasch hinwerfen lassen kann! Laut fuhr er ihn an: »Reißt Euch doch zusammen, Bauer, Ihr seid doch kein Weib!«

»Berichtet weiter«, sagte Urban sofort darauf mit einer festen Stimme, die Gmelin nicht erwartet hatte.

 


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