Hermann Eris Busse
Bauernadel
Hermann Eris Busse

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Der Maimarkt

Es war Maimarkt in Buchenbronn, und am Sonntag waren alle Wirtschaften und Gassen voller Menschen. Von allen Gegenden her kamen die Bauern gefahren und gewandert, silbern vom hellen Staub der harten Landstraßen bedeckt. Aber das verdroß niemand. An diesem Maimarkt brachte man fröhliche Laune mit, selbst wenn es geregnet hätte, wäre die lustige Stimmung nicht abgewaschen worden. Man freute sich nicht umsonst schon seit Wochen auf dieses Fest, das mit seinem bunten, lauten Trubel einmal ein herzhaftes Loch in die große langwierige Bauerneinsamkeit stieß, so golden, wie die Sonne vor etlichen Tagen ein Loch in einen seit Wochen grauen, ungattigen, traurigen Himmel brannte. Und dann gingen die Herzen auf.

Den ganzen April durch war Regen vom Himmel gefallen, Regen, Regen, und verzweifelt sahen die Bauern in die endlos graue Ebene der Wolken hinauf, die niedrig und träge dahinzogen oder fast still standen, fast wie ein mächtiger Hängeboden leise hin und her zu schaukeln schienen; denn es fuhr in jeder Tageszeit ein anderer sanfter Wind dagegen. War das wohl der Atem der Sonne, die tief hinter der Wolkenebene verborgen stand, geheimnisvoll ihre ungehemmte Bahn zog und nur mit leisem Atem den traurigen Bauern unten anzeigte, daß sie noch am Werke war, Tag machte, wenn auch düster, und Nacht brachte mit dem klingelnden Wiegenlied des zäh herabrinnenden Regens? Was half auch das ewige Hinausstarren über den Wald? Was nützte das Herumwaten im aufgeweichten 75 Ackerland! Man sank bis an die Waden ein wie im Moor. Auch im Wald zu streifen, lockte nicht. Der Boden, von Nadeln dicht bedeckt, war glatt wie ein Spiegel, zwischen den Bäumen brodelte der Nebel, hingen dicke Wolken, von den Stämmen zu lockigen Strähnen gekämmt, sowie sie sich erhoben und zum Wolkenboden hinaufstiegen. Man wurde hier nässer als über freiem Land im Regen. Man entrann dieser dicken Feuchtigkeit nicht, die von allen Seiten sich um den Körper legte wie eine kühle, eklige Fieberpackung. Die Stämme glänzten wie mit Fett eingerieben, sie sahen gar nicht aus wie wildes Holz, sondern so, als habe sie ein Schreiner geglättet.

Was sollte man tun in diesem unwirklichen, verhexten Wald, wo kein Tier trat, kein Vogel den geringsten Laut gab? Die Straßen, graniten hart und abschüssig zu beiden Seiten, blieben verhältnismäßig gangbar in der Mitte, da lief der Regen ab. Aber er rieselte in die Matten und ersäufte das Wachstum. Sicherlich ersäufte er das. Regnete sich auf diese Weise eine heimliche, grausam schleichende Sintflut in die Welt? Betete man nicht genug schon in diesen leeren Stunden des Wartens? Suchte man nicht die Bibel ab nach Trostworten und nährte die angstvolle, ungeduldige Seele vom Rate Gottes?

Man wollte ja aus demütiger Hoffnung auf des Allmächtigen Hilfe nicht mehr daran denken, daß die Kartoffeln der zukünftigen Ernte vielleicht schon gegessen waren, auch das Mehl schon gemahlen war und alles Heu eingeheimst, kurz, daß auf die halbe Ernte des vergangenen Jahres diesmal überhaupt keine folgte. Und daß die Teuerung, die nach dem Krieg eingesetzt hatte, weiter stieg, Steuern hinzukamen, Hunger, Pest und Aufruhr. Man las, wenn man aufmerksam mitdachte, doch solche Folgen in der Heiligen Schrift, im Alten Testament. Der Herr schlug das Sündenvolk mit Strafen: Sieben magere Jahre, sieben . . .

Ein Sturm müßte kommen, die Bäume biegen wie Schilf, aufheulen und zwischen die Wolken turnen, sie surrend auseinanderzutreiben mit Blitz und Donner. Hei, würde es fliehen, dieses schmutzigfahle, bisher so zähe Gewölk, über die Grate der Wälder, aus Schlucht und Gruft der Täler, empor, hinaus, fort! Ein Sturm fuhr dann auch in die Trägheit des Blutes und schaffte die Schatten der Seele aus dem Leib. Wenn die 76 klare Sonne scheint, der lichte Tag im Grün sich spiegelt und im Gelb, im flammenden Gelb der riesigen Ginsterbüsche, die in prunkvollster Blüte stehen, trotz Regen und Düsternis, wenn die Sonne scheint, dann lacht des Bauern Herz, er stemmt das Geräte, schwingt das Werkzeug, ist flink wie ein Marder hinter der Arbeit her. Hoppla, hopp, hopp, tutswit (tout de suite) alles muß mit! Wenn die Knechte, Mägde und Kinder nicht wieseln, schreit der Bauer wie nie sonst im Jahr. Das muß nachgeholt werden, jede Stunde ist kostbar wie Gold. Der Weizen soll blühen! Hü, Bleß! Hoia, Muni! Hopp, hopp! Öhla!

Aber nun, man träumte solches auf der Ofenbank. Es regnete hingegen draußen Tag und Nacht. Man solle in die Kirche, um besseres Wetter zu bitten, meinten die Bauern. Der Pfarrer sah sie mit Sanftmut an; mit einer unbeugsamen Sanftmut sagte er: »Glaubt ihr, Kleingläubige, man könne Gott zu etwas überreden? Er straft jetzt. Tragt's in Demut und bessert euch.«

Da gingen sie verdutzt von dannen. »Ja, ein Gaukler ist unser Herrgott eben nicht«, gab Wendelin Ketterer dem sanftmütigen und doch so strengen Pfarrer recht.

Es gab viele Bauern, die murrten, als im Kalender Mondwechsel stand, die neue Mondsichel in den Himmel schnitt, aber das Wetter sich nicht zum Guten wandte. Und mancher betrat heimlich die Stube des Stündlers Josua Albiez, des närrischen Schneiders, und machte erst scheu, dann aber von der Besessenheit des Schwarmgeistes erfaßt, die Anflehungen des Herrn mit, die mit leiser Stimme im Chor gesprochen wurden mit ausgebreiteten Armen, gespreizten Fingern, auf und nieder schwenkend im Rhythmus des Gebetes:

»Herr, gib Sonne, gib Sonne uns, Christus Jesus!
Herr, erhöre uns, erhör', erhör', erhöre uns!
Gib Sonne, Herr, gib Sonne uns, Jesus Christus!«

Es regnete trotzdem weiter, sechs Wochen Tag für Tag, Nacht für Nacht.

»Auf den Feldern, das ist sicher«, meinte der praktische Bruder der Sixta, »da ist jede Maus versoffen. Kartoffeln und Rüben frißt euch keine weg.« 77

Das schöne Wetter kündete sich seltsam an. Kein Mensch konnte sich entsinnen, je etwas Ähnliches gesehen zu haben. Am Samstagabend, da man gen Westen schaute, zerriß plötzlich die graue Wolkenwächte, sie fuhr am Himmelsrand entlang in großer Länge auseinander, sichtbar wurde ein tiefes Blau des Himmels, wie ein Wunder, so niegesehen war dies Blau, und die Fläche dehnte sich langsam in die Höhe hinauf, die graue Masse rückte zurück, schob sich gleichsam ineinander, wie die Glieder einer Rollschiebtür. Und dann erschien plötzlich die Sonne, messinggelb, wie aus dem zusammengestauten Gewölk gestürzt, prunkte als mächtiger, griffiger Ball im Blau. Und dann geschah das ganz Unvergeßliche; wer weiß woher löste sich plötzlich vom Rande des Geschiebes ein blendend weißer Streifen ab, licht und leicht, dehnte sich wie ein Schleierbogen überm Rund der Sonne, färbte sich rosig, dann gülden, schimmerte zart und vielfarbig, zuletzt gleich einem Regenbogen. Der Sonnenball sank hinter den Wald, der Bogen glühte auf in sieben Farben, das starke Blau verwandelte sich längst in silbernes Grau. Der Bogen huschte davon, so schnell, wie er gekommen war. Unbegreifliches, hohes Zeichen Gottes! Nun hatte die Finsternis ein Ende, die Langeweile, die Verzweiflung. Nun schien die Sonne.

Am nächsten Morgen, Sonntag blühte ins Land, schien sie denn auch mit voller Kraft. Mensch, Baum und Tier tranken ihre Wonnen des Lichtes und der Wärme. Und acht Tage später, eben an dem Tag des Maienmarktes, wo alles so fröhlich den Weg ins Städtchen nahm, hatte sich die Erde in den Sommer hineingewandelt, üppig erholt stand die Flur. Was Wunder über Wunder! In Staub gebadet lag die Landstraße, den Bauersleuten knackten die Schwarten und Muskeln vor Müdigkeit, in einer Woche hatten sie die Arbeit von sechs geleistet, aber dennoch schlief man nicht an diesem Sonntag, man schlug sich daheim den Magen voll mit Sauerkraut und Speck, mit dicker Nudelsuppe und wandelte getrost durch Hitze und Staub. Man würde trotz allem seinen Mann stellen beim Gläserlupf und Würfelspiel und, wer weiß, auch noch einen Tanz wagen.

Bumfibeldei, bumdidllüt. Dideldi dideldi lüt! Juhuhu!

Ach, das klang und flutschte nur so im Takte, wer freute sich dessen nicht! Duckmäuser, Finsterlinge, ins Loch mit euch! 78

Am Pfarrhaus, sieh, die Läden »b'häb« zu. Die schießen wohl ab drinnen in ihren Stuben? Man sollt's meinen!

Jetzt, was schadet der ewigen Seligkeit das bissel Juhheida. Ha, hat er heute morgen nicht ein wenig bissig gepredigt von der weltlichen Freude und Sinnenlust? Das ging auf das Fest! Es ging kein Bauer am Pfarrhaus vorüber, ohne sich über die geschlossenen Läden Gedanken zu machen. Doch als das Gefiedel, Gerätsche und Geschrumme aus dem »Adler« vernehmlich war, vergaß man rasch die grollende Zurückgezogenheit des Seelenhirten und stellte die Ohren wie ein Roß, das den Futterknecht kommen hört. Das Karussell dudelte herrlich, ein buntes Mädchen mit Zigeunerhaar sammelte Geld ein und sagte den Burschen freche, süße Worte ins Ohr. Und dann standen viele Buden da: ein Wachsfigurenkabinett, das die Köpfe berühmter und berüchtigter Männer zeigte. Da stand Bismarcks runder Kopf mit den blauen Augen und dem kriegerischen Schnurrbart neben dem dreieckigen, gelblichen Wachsbild eines Räuberhauptmannes, das Lockenhaupt der französischen Königin Marie Antoinette neben dem Köpfchen des goldenen Kindes von Augsburg, das man anläßlich eines kirchlichen Umzugs am ganzen Leibe mit Bronze überzogen hatte als Engelchen im Strahlenglanze, und das dem Jesusknaben zu Füßen starb, als die Böller die Andacht am letzten Fronleichnamsaltar anzeigten. Und so stand vieles da, verblaßt, verstaubt, mit starrem, totem Ausdruck. Große Männer neben Verbrechern, Kurtisanen neben hehren Frauen. Ganz so, wie sie auch das Leben durcheinanderwirbelt oder der Schein, den man Leben nennt.

Die Bauern gaben ihren Groschen hin und standen halb neugierig, halb furchtsam vor den Gestalten.

Gedränge staute sich um den langen Lukas, da prüften die Bauern ihre Muskeln. Sie höhnten, reizten und bewunderten einander. Natürlich mußte auch Markus den schweren Hammer schwingen. Er war so aufgeräumt diesen Tag. Er hieb gut.

Die Schiltebacher jubelten ihm zu: »He, Michelsbauer, einen Liter nachher im ›Adler‹.«

»'s gilt.«

Die Reichenbacher hatten einen riesenhaften Kerl bei sich, blond, breithüftig und breitschultrig mit Armen und Beinen 79 wie Holländerstämme, doch stand er Markus nach im Lukashauen. Die Reichenbacher mit ihrem Gewann Siehdichfür, der Heimat von der Mutter des Markus, standen nicht gut mit denen vom Schiltebach. Der Riese stammte aus der Bruderhofsippe und war ein Vetter des Michelsbauern, er hieß Dominik Bruder, mit dem Spitznamen »Der Russenbruder«. Es ging das Gerücht um, eine Bruderbauerntochter habe von einem russischen Soldaten 1814 ein Kind empfangen, der sei ein Saufkerl gewesen, ein Raufkerl, aber nach seinen wilden Stunden fromm und gut wie ein Kind. So einer war auch sein Enkel Dominik. Er wurde wütend, als ihm Markus so spielend den Rang abschlug. Er rempelte ihn an und sagte: »Dahinten gibt's Ringkämpf, ich forder Euch.«

Markus lachte kurz hinaus, sagte spöttisch: »Hab' keine Ursach«, und schlenderte weiter. Beim Karussell traf er Sixta, welche die Kinder fahren ließ. Aber er war so aufgeregt im Blute, daß er nicht lange bei ihnen blieb, sondern sich im Strom der Menschen forttreiben ließ. Eine gierige Lebenslust erfaßte ihn, er pfiff die Weisen der Drehorgeln mit, lachte unbändig über die gemeinen Witze des wahren Jakob, sah durch runde Gläser die Erstürmung der Düppeler Schanzen an und die Schlacht bei Sedan, ließ von sich auf Blech ein Bild machen, ritt auf einem gezähmten Elefanten, hielt einen jungen Löwen im Arm, bestieg auch das Kamel, das sagenhaft langweilige Schiff der Wüste. Er warf Ringe auf ein Brett mit aufgespießten Taschenmessern und traf zweimal, steckte schmunzelnd den Solinger Feinstahl ein. Er schoß eine Blumenvase und ein Deckelglas heraus in der Schießbude, er ließ sich wahrsagen von einer alten, schmutzstarrenden Hexe: »Dreimal drei ist neun, mein Sohn, über einen kleinen Weg geht siebenmal das Glück, dreizehnmal das Unglück, Ihr gleicht Euerm Vater, habt aber das Blut Eurer Mutter, hütet Euch vor dem bösen Feind und vor einem bösen Blick. Eine Kuh kälbert letz. Das eins wird zwei, zu zwei kommt drei, drei ist einig, sieben heilig, neun aus drei mal drei, und dreizehn teilt sich nie. Geh, mein Sohn, befolge meine Weissagung. Das mit dem Feind ist wichtig.«

Markus lachte frech, zahlte und ging. »Hundesohn!« fluchte das Weib ihm nach und schnupfte aus schmieriger Dose. 80

So verging im Flug fast der ganze Nachmittag. Markus genoß alles, was der Maimarkt bot, mit Unruhe und Gier. Er lachte viel, machte kecke und boshafte Bemerkungen, wo es traf, aber es war ihm in Wirklichkeit gar nicht so fröhlich zumute; da, wo sein Herz saß, hockte Unheil, Kälte, Leere. Er fuhr mit den Blicken überall herum, die Augen funkelten wie die eines angeschossenen Hirsches, groß, dunkel, furchtbar. Es hatte ihm aber doch niemand ein Leids getan. Markus war durstig, sein Hals schien zusammengedorrt wie ein Hanfseil, er ging in den »Adler«.

Dort am Tisch, im Kreise ihrer Kinder, die Milch tranken und Wurstbrot aßen, saß Sixta. An den anderen Tischen drängten sich in Gruppen die Bauern der Gegend mit Weib und Kind. Sixta machte ein wenig weinerliche Augen, man hatte sie irgendwie gedemütigt, ihr gezeigt, daß sie eigentlich nicht an diesen großen, schönen Tisch am Fenster gehöre, sie, eines Häuslers Tochter und ehemals Magd. Aber wo sollte sie denn bleiben mit den müden, hungrigen Kindern im Spätnachmittag? Daß auch Markus nicht kommt, dachte sie in einem fort, daß er sie so dem spöttischen Wesen der Großbauern überläßt, dieser protzigen Männer und Weiber.

Endlich stieß er die Tür auf und trat ein, war mit großen Schritten schnell an ihrem Tisch, nachdem er den ganzen Raum mit scharfem Blick ausgeforscht hatte.

»Du sitzest allein?« fragte er mißtrauisch.

Sixta schluckte, sie fürchtete, Tränen müßten ihr aus den Augen brechen. Ihre Antwort klang halb erstickt: »Sie haben mich gern allein sitzen lassen, lieber hocken sie an den anderen Tischen eng wie die Schafe im Pferch, laß sie aber, sie gelten mir keinen Pfifferling, gottlob bist du endlich da, dann ertrag ich das besser.«

»Aber warum denn, Sixta, warum tun sie so?«

»Ich war nur eine Magd«, sagte sie und lächelte jetzt.

Markus reckte sich jäh, er stand noch, bezwang sich plötzlich, griff in die Tasche und legte vor jedes der fünf Kinder ein Häufchen Kandiszucker und Schokoladentaler: »Da, schlotzt, soviel ihr mögt«, sagte er laut, daß viele es hören mußten, »euer Vater ist der größte Bauer im Schiltebach, merkt's euch und nehmt von keinem andern was an.« 81

Einige Bauern sahen starr herüber. Nun blähte sich Markus förmlich auf in Trotz und Stolz, trat an den Schanktisch und bestellte: »Zwei Schoppen Wein vom besten, eine große Platte voll Schinken und Wurst und Brot. Macht schnell, Adlerwirtin, mein Weib und ich wollen bald heimfahren. Zwei kleine Kinder sind noch daheim.«

»Ihr habt Glück im Haus«, gab die kluge Wirtin ihm Wasser auf die Mühle.

»Ja, meine Sixta ist ein gutes Weib, fleißig, brav und die Schönste von allen.«

»Man muß ihr das lassen, Michelshofer«, schmeichelte die Wirtsfrau, »auch sonst habt Ihr viel Segen. Man merkt's schon, weil Ihr so viel Neider habt«, das sagte sie ganz leise, ließ dabei flink die lebhaften Augen in die überfüllte Stube schweifen und zeigte so dem Markus, daß sie begriffen hatte, weshalb man Sixta an dem großen Tisch allein ließ.

Ein paar Neuangekommene traten an den Schanktisch, Reichenbacher Bauern, sie hörten noch, wie Markus sich rühmte und sagte: »Habt recht, Adlerwirtin, viel Feind', viel Ehr'; in Frankreich drinnen haben wir uns die meisten Lorbeeren geholt, wo der Feind noch viel dichter anrückte, als die da in Eurer Stube jetzt hocken. Hei, das war ein saftig Streiten und ein ehrliches vor allem, Mann gegen Mann, ein Mann gegen zehn Mann oft, der Badener ließ sein Vaterland nicht im Stich. Wenn ich nicht zurück gemüßt hätte wegen des verheiten Schenkels, ich wär' gewiß Sergeant geworden, auf der Liste stand ich schon.«

»Nun, Ihr habt das Eiserne Kreuz, das ist schon große Ehr'.«

»Wohl, wohl«, schloß Markus das Gespräch ab.

Sixta hatte sich indessen gefaßt und die Freude der Kinder, die sie wie ein Frühlingssturm umbrauste, lebhaft geteilt. Nun, sie war eben auch ein bißchen eitel und empfindlich; welche Bäuerin, so jung wie sie noch, war dies nicht! Blickte sie vorhin scheu in den Schoß oder ratlos in die Gesichter ihrer Kinder, so mied sie es jetzt auf keinen Fall mehr, irgendeinem herschauenden Bauern oder dessen Weib kerzengerad mit einem Blick dawider zu stehen. Sie nestelte am prallen Mieder und 82 drehte die silbernen und goldenen Ringe an der Hand so, daß sie mit ihren Steinen blitzen konnten. Keine Bäuerin besaß wohl so viele und so köstliche. Stoffel Götz hatte sie, damals als er Vogt war, seiner Agathe für teures Geld aus Freiburg mitgebracht vom Hofgoldschmied, auf daß sie nicht abfalle in ihrer Pracht gegen die Obervögtinnen und die reichen Weiber der Handelsherren der Uhren- und Glasgesellschaften in Triberg, Lenzkirch und Furtwangen, mit denen Stoffel, der Vogt, auf Jagden und Versammlungen zusammentraf. Damals ging es auch zuweilen hoch her im Michelshof, wenn der waldreiche Bauer seinen Jagdgästen, einmal auch dem Fürsten von Fürstenberg, in der großen, schön ausgemalten Michelshofstube einen Imbiß vorsetzte, derb zwar, aber für Jägergaumen ein Fest.

Ja, der Stoffel hat eine Zeit gehabt, da war er gar nicht mehr er selber, da war er gesprächig, munter, aufs beste gekleidet und geschabt und trug einen mächtigen, geschliffenen Stein in goldenem Ring am Zeigefinger. Diesen Ring nahm Stoffel, obschon er längst wieder schlichter, stiller, besinnlicher Bauer war, mit ins Grab. Aber die Schmuckstücke Agathens blieben in der Truhe, aus Fichtenholz geschnitzt, liegen, bis sie Markus eines Tages, längst schon verheiratet, öffnete, den Schatz entdeckte und ihn schnurstracks seiner Sixta in den Schoß schüttete.

Sie hätte kein echtes Weib sein müssen, um nicht darüber heiße Freude zu empfinden. Seither trug sie an Festtagen viel Schmuck und sah schöner, wohlhäbiger, stolzer aus als sogar die grundreichen Reichenbacher, gegen die die Michelshofer, überhaupt die Schiltebachtäler, Waisenkinder waren mit ihrem Hab und Gut.

Jetzt fuhren die bestellten Sachen auf. Sixta spürte auf einmal, wie hungrig sie war. Sie griff lachend und guter Laune zu. Markus lachte auch, bloß klang es grob, nicht eigentlich lustig. Seine Augen flirrten bös. Der große Reichenbacher Kraftmeier, der Russendominik, kam jetzt herein, ging mit klobigen Schritten durch das Gastzimmer und suchte sich einen Platz. Einige Bauern wollten ihn gutmütig verspotten und sagten zu ihm. »Schau dort, beim Michelshofbauer ist noch Platz.« 83

Er bekam einen hochroten Kopf und spuckte aus: »Mit dem rupf ich schon noch ein Hühnle«, drohte er dumpf.

Er war wohl schon halb besoffen und verfiel dann immer in den Zustand eines großen, schwerfälligen Tieres, das sich ungern bewegt und mit trüben Augen in ein Loch hineinstiert. Höchstens sang er dann leise und eintönig ein russisches Lied, das einzige, das er wußte, von seinem Großvater her, der es ihn gelehrt. Es hatte wohl zwanzig Strophen und handelte von einem Bauern, der Hütte und Feld und seine Schweine dem Juden verkaufte, um seiner Natuschka einen roten Rock zu schenken, dazu eine goldene Festtagshaube auf Ostern und die schön gestickte Schürze, damit sie ihn liebe. Aber als sie das besaß, ging sie auf das Gut zu dem Grafen und lebte mit ihm; der arme Bauer jedoch legte sich in Schnee und Kälte, um zu sterben. Es war ein todtrauriges Lied, und Dominik sang es nur, wenn er betrunken war. So auch jetzt. Man hatte ihm kaum Platz gemacht, so warf er seinen kurzen, blauen Spenzer über die Stuhllehne, saß da in der roten Weste und den weißen Hemdsärmeln, breit und wuchtig, goß rasch einen Doppelschnaps und ein Bier in den Hals, stützte die mächtigen Arme auf den Tisch, den blonden, groben Kopf in die Hände, stierte eine Weile stumm vor sich hin und begann dann zu singen. Die Stimme klang unglaublich weich, voll und schmelzend aus dem massigen Menschen heraus, nicht laut, sondern gedämpft und von einer traurigen Zärtlichkeit, als erzähle er einer Geliebten ein schwermütiges Märchen.

Es fiel keinem der Bauern ein, darüber zu lachen. Sie unterbrachen sogar ihre Gespräche, sie gerieten in den Bann dieses fremdartigen Gesanges des Betrunkenen, aus dem unerhörtes Leid, Heimweh ohne Hoffnung sprach, Traurigkeit, die von allen lauschenden Seelen ringsum Besitz ergriff. In der überfüllten Gaststube wurde es still wie in einer Kirche, wenn der Geistliche die Passionsliturgie sang. Auch Markus und Sixta legten die Messer weg und hörten zu essen auf. Sixta lauschte erschüttert. Markus aber benahm sich wunderlich, er starrte geisterbleich den Sänger an, der mit dem Rücken gegen den Tisch der Michelshofer saß, stand plötzlich auf, leise wie eine Katze, und schlich sich neben den Stuhl des Reichenbachers. Nun konnte er ihm die seltsamen Worte vom Munde ablesen, 84 er verstand sie, oh, er verstand diese fremde Sprache. Es waren nur Laute, tiefe, gottverlassene Laute und eine Hoffnungslosigkeit ohnegleichen; man brauchte nicht zu wissen, wie die Worte eigentlich hießen. Sie klangen so, wie es oft in ihm klang, wenn der unruhige dumpfe Geist über ihn kam. Er lauschte gebannt, seine Hände zitterten, der zähe Mann wankte in bodenloser Erschütterung. Die Bauern dachten wohl, er sei so schwer betrunken wie der Dominik.

Sixta kam herüber, legte die Hand fest auf die Schulter ihres Mannes und sagte: »Komm, Marks, wir wollen heim, die Kinder verlangen nach dem Bett.« Da erschrak Dominik, brach das Lied ab, starrte die Frau verständnislos an; plötzlich erhellte sich sein zerwühltes, aufgequollenes Gesicht: »Mutter, Mutterle«, grinste er, ließ aber dann schluchzend den Kopf auf die Tischplatte fallen, daß er wie ein Gummiballen noch einmal zurückschnellte, und ergab sich kindischem Weinen.

Entnüchtert wandte sich Markus ab, halb ekelte es ihn. Was für ein Tag, was für ein Tag war das! Er zahlte, verließ mit Frau und Kindern die Wirtsstube und schirrte an. Im Hofe trieben sich ein paar Jungbauern herum, angetrunken und gerade in der Stimmung, etwas Wildes zu beginnen.

»Seht da, den Lukaszwinger, den Simson aus dem Schiltbach, den Siebenkindvater, seht, jetzt muß er heim. Muß Zwillinge hüten, muß die Kindswagle (Wiege) schucken. Ei, ri, ra susanni, ei, ri, ra, rum dei, das Küehli mueß kalbere, das Stierli mueß dalbere, ei, ri, ra, rum dei, gewaglet mueß sei.«

Sie lachten frech darnach und standen in dichtem Kreis um den Bauern herum. Sixta hielt sich vor dem Hause auf und hörte nichts von dem Umtrieb; sie wartete, müde wie die Kinder, bis Markus aus dem Hofe fuhr. Markus kümmerte sich scheinbar nicht um die lustigen Gesellen. Er paßte jedoch scharf auf, daß ihm keiner einen Streich anstellte am Wagen oder an den Pferden. Zum Glück waren die jungen Rösser vor Freude, auf den Weg zu kommen, ziemlich unruhig. Es traute sich keiner nahe hin. Wenn ihn einer der Kerle angerempelt hätte, freilich, dann hätte nichts anderes geholfen als zuschlagen, dann mußte er es mit ihnen aufnehmen. Er vermied es. Kaum waren die Sielen eingehakt und saß das Geschirr, schwang er sich schon auf den Bock, kreiste mit der Geißel bedrohlich über die Köpfe: 85 »Achtung, Achtung, brrr!« und erreichte, daß die Händelsüchtigen auseinanderstoben, schimpfend und johlend.

Sixta konnte ruhig mit den Kindern einsteigen, denn wenn eine Bäuerin dabei zusah, rauften die gestandenen Männer nicht gern, das war eine ungeschriebene, natürliche Losung.

Still, von duftendem Blütenhauch erfüllt, stand das Land zwischen den Wäldern. Sternbilder wandelten am Himmel, zartes Wölkchengerinnsel glitt gleich einer Schar weißer Tauben am Mond vorüber. Die Mädchen schliefen. Andres staunte die Nacht an. Er hatte sie noch nie gesehen, wenn sie so völlig über die Welt gesunken war. Er saß neben dem Vater auf dem Bock, die Gäule zogen gelassen die Menschenlast straßauf. Andres deutete mit dem Finger an den Himmel, und Markus sah in den großen Augen des stummen Knaben die Gestirne sich spiegeln. Er liebte diesen Sohn, diesen stillen Andres, der doch so licht schien, unwirklich licht und schlank wie Schaft und Blüte der Lilien im Garten, die jetzt blühten und nachts durchs offene Kammerfenster hereindufteten.

Aber was für ein Geist lebte in diesem Knaben! Neulich hatte ihn Sixta nachts, als alles längst schlief, behutsam aus der Wiese ob dem Hause holen müssen, dort tanzte er seltsam. Wenn nicht eines der Zwillinge geschrien hätte, würden sie das geheimnisvolle Entweichen des Andres nicht bemerkt haben. Vielleicht ging er oft so fort mitten in der Nacht mit geschlossenen Augen, durch versperrte Türen.

Schweigen über dieses Geheime im Michelshof, ja Schweigen hatten sich Bauer und Bäuerin erschrocken bis ins Innerste gelobt.

Nun seht diese Nacht, in solcher Nacht wurde das Christkind geboren, träumte Andres, und Kühlein und Eselein, auch die sanften, weißen Schafe schauten zu.

Ach, dem Vater sollte man davon sagen können, der hatte einen verborgenen Mund, weil er so oft traurig war. Der kannte wohl das kleine, süße Erlöserkind gar nicht. Da lächelte ja der Vater, schaute zurück, deutete mit der Peitsche auf die schlafende Mutter und die Mädchen und lächelte Andres in die Augen wie einem Mann.

»Bist nit müd?« fragte er den Knaben. 86

Der richtete sein schmales Wesen auf und tat, als wäre er doppelt so groß und breit, schüttelte energisch den Kopf.

»War's heiter auf dem Maimarkt?« fragte Markus.

»Viel schöner«, lallte Andres und schwang seine langen, dünnen Arme in die Landschaft, als wolle er die Nacht damit umfangen.

Da tat Markus, was ihm noch nie in den Sinn gekommen, er beugte sich rasch nieder und küßte die helle Knabenstirn. Drauf griffen die Rösser aus, es ging leicht bergab, und sie rochen den Stall. Davon wachten die Weibsleute im Wagen auf, fanden sich kaum zurecht, wurden dann aber völlig munter in der kühlen Nachtluft, und es gab ein Plaudern, Fragen, Erklären bis vor den Uhrenmichelshof, daß Markus und Andres nichts mehr taten als lächelnd horchen. Ihre Gemeinsamkeit machte sie froh, sie hatten sich viel gesagt in diesen letzten Minuten. Vater und Sohn lebten in eigener Welt, eine feine Haut umschloß sie beide wie eines, wie die Haut um den Eidotter, die zarte Hülle um das Samenkorn. Die Liebe der anderen berührte sie nur fern, wenn auch wohlig.

Sie kamen heim. Von weitem schon leuchtete ihnen das Licht aus der vielfenstrigen Stube traulich entgegen, und während Markus abspannte, durch das stille Haus schritt, brachte Sixta mit der alten Magd Christin die Kinder ins Bett. Dann schafften sie selbdritt noch fertig zu Nacht, das andere Gesind kam wohl viel später erst vom Maimarkt zurück.

Fast die ganze Nacht, bis nahe ans Morgengrauen, fuhren die Kutschen über die Straße ob dem Michelshof und brachten die Schiltebacher heim oder die geldstolzen Reichenbacher oder die wilden, dunklen Hofbauern vom Siehdichfür. Manchmal jauchzte ein Berauschter hellauf oder zerriß Frauenlachen grell die nächtliche Stille.

Für lange Zeit mußte die Lust ausgetobt haben; denn jetzt reihten sich schwere Bauerntage auf durch den Sommer bis in die Spätherbstabende. Es konnte am folgenden Morgen schon losgehen; die warmen Tage mußte man ausnützen. Vielleicht das Vieh ein paar Stunden austreiben, das Heu wurde knapp, und die Grasnarbe der Weide sah schon ziemlich nahrhaft aus. Sonst fuhr man meist erstmals an Pfingsten mit den Herden aus, aber das Wetter lockte. 87

Bald schlief das ganze Haus, nur Sixta erwachte flüchtig, als das Gesinde in den Hof schlich und sich in die Kammer tastete.

 


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