Hermann Eris Busse
Bauernadel
Hermann Eris Busse

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Die Gekränkten

Als Sixta eines Sonntags vom Erlenmoos herüberkam, trat ihr auf der Stubenschwelle ein junges Menschenkind entgegen, sonntäglich geputzt in der feinen Reichenbacher Tracht. Zart sah das Mädchen aus, gleich einem Mondstrahl, licht und schmal, glitt dieses Gesicht an ihr vorüber, scheu. Sixta sah ihr nach und staunte über die hellen, blonden Zöpfe, die von dem schwarzen Moiréband herleuchteten.

»Die kenne ich ja gar nicht«, sagte Sixta vor sich hin und trat leise erregt in die Stube.

Die ältliche Magd hörte kaum der Großbäuerin gewichtigen Schritt in der Stube, als sie schon aus der Küche schoß und mit rotem, stumpfnasigem Kopf zornig aufgeplustert vor die Altbäuerin hintrat. Ihre Ellenbogen stachen spitz in die Luft zu seiten der dürftigen Hüfte, die breit aufgeworfenen Lippen zitterten und suchten Laute zu formen, man sah, daß die Person im Zorn schier umkam. Natürlich war sie Flurs wegen wütend. Hatte sie wohl noch auf Grund ihres wohlgespickten Sparstrumpfes geglaubt, hier Bäuerin werden zu können? Kurzum, der Zapfen sprang ab, die allzeitig geduldige, arbeitsame, tüchtige Magd verlor ihre Ruhe, verlor sich ganz an ihre selbstsüchtige, verbohrte Leidenschaft. Sie keifte endlich los, zog nach manchen Sätzen tief und schmerzhaft Atem, als litte sie an Keuchhusten, und als sich ihr Wutausbruch gestillt, erfuhr Sixta die ganze Naturgeschichte des jungen Mondstrahls, der vorhin vorübergehuscht war. Aber sie blies nicht in dasselbe Horn wie die Magd, nein, sie verbarg ihre Meinung, winkte ihr mit würdiger Gebärde, aus der Stube zu gehen, und sagte: »Kamilla, mach's gnädig, es wird schon nicht so arg sein!«

»Es ist arg, Michelsbäuerin, neben so einer Schlutti schlaf ich nimmer, eher sag ich meinen Dienst auf, sollen die Buben sehen, wie sie mit der Handvoll von Weibsbild zustreich kommen. Die kommt mir so schon vor, als wäre sie gar nicht wie unsereins, als wär's eine aus dem Muhrsee, ein Gespensterfräulein, das auf arme Seelen gelüstig ist. Auf die Stallschwellen mache ich heute noch den Fünfstern, daß dem Vieh kein Leid geschieht 68 von dem Blick dieser Flur. Flur, ist das ein Name überhaupt? Heiden heißen nicht einmal so. Jetzt saget auch, Bäuerin, was soll man da nur machen!«

»Geh, Kamilla, schau nach dem Mittagessen. Die Buben sind wohl in der Kirche?«

»Der Urban alleinig, und hinter ihm drein scheinheilig die Hex. Der Martin ist mit der Flint die Halde hinauf, die Wildsäu haben die Wintersaat verwuhlt.«

Sixta band die Kappe ab, legte das schwarzseidene Halstuch weg und kramte aus ihrem Schlitzsack einen älteren Schauben, den sie gegen den Sonntagskittel vertauschte, nahm das seidene Fürtuch ab und zog die Zeuglesschürze an. Also gerüstet betrat sie die Ställe, die Bühne, den Schopf, die Kammern, durchspähte alle Winkel, öffnete alle Türen, öffnete alle Schreine, ordnete das Unordentliche, glättete das Verrumpfelte, nahm einen Schurz voll zerrissene Socken, schmutzige Wäschestücke mit, hieß Kamilla heiß Wasser in einen Holzzuber füllen, werkte mit Schmierseife, rubbelte, planschte, schwenkte und rang aus, klatschte die Stücke glatt und hängte sie dann an die Wäschestangen, die, an der Decke festgehalten, um den Kranz des Ofens liefen. Als der Speck gar war, das Sauerkraut seine Mehlschwaize, der Kartoffelbrei seine Zwiebelrösti hatte und in der fetten Suppe die Rollgerste kreiste, da hatte Sixta wieder ihren Staat an und wartete, auf der Ofenbank sitzend, die Hände zum Gebet gefaltet, auf ihre Söhne. Die ganze, mit allerhand Arbeiten ausgefüllte Zeit dachte sie an das neue Wesen im Hofe, das also aus dem Lohrenhof stammte. Den Lohrenbauern kannte Sixta von einer Kirchweih in Furtwangen her, wo er sie einen Tiroler Tanz gelehrt. Das war vor vielen Jahren, und er war damals noch nicht Bauer, sondern ein armer Taglöhnersbub. Kurz danach hörte man, er habe die einsame Waise auf dem Lohrenhof genommen, er habe mehreren Großbauernsöhnen aus dem Reichenbach und dem Siehdichfür den Rang abgelaufen; denn auf die reiche, wenn auch für bäuerliche Begriffe allzu schmächtige Erbin spannte mancher. Und daß der Vitus Fleig den Vogel abschoß, nahm einen nicht groß wunder, er war ein recht schöner Gesell und gescheit.

Sixta hörte dann nur noch wenig von ihm, er verschwand 69 aus ihrem Gedächtnis, um jetzt wieder da zu sein. Aber wie! Ein strenger Vater, der sein Kind verstößt, um der Ehre seines Namens willen, seine einzige Tochter. Die Altbäuerin wartete gespannt, die Lippen beteten und die Hände, der Geist forschte wo anders.

Eines wußte Sixta nicht, ob sie sich wehren sollte gegen die Heirat eines ihrer Buben mit dem berüchtigten Geschöpf, das dann vielleicht beim reichen Vater wieder zu Gnaden kam, oder ob sie sie fördern sollte. Sixta war eine erfahrene Rechnerin. Wenn Martin oder Urban den Lohrenhof antrat, der, wie sie von Kamilla wußte, vom Jungbauern verlassen wurde, weil er durch Erbschaft unerwartet das Vatergut seiner Frau antreten mußte, wenn solches möglich war, dann konnte sie ja beruhigt in die Zukunft schauen – – –

Mitten im Rechnen betraten hintereinander Urban und jene Flore Fleig die Stube. Angegriffen vom kalten Wind, mit klammen Fingern und bläulichen Gesichtern standen sie da. Urban sagte: »Grüß Gott, Mutter, habet Ihr bei uns hereinschauen wollen?«

»Grüß Gott, ja es war an der Zeit«, antwortete Sixta doppelsinnig.

Urban ging ans Känsterle, das Kirschwasser und Heidelbeergeist barg, und trank einen Schluck aus der kleinen mit roten und gelben Rosen bemalten alten Glasguttere, die eine Inschrift hatte: Nur für mich, dies gehört Creszentia Kuß 1822. Der Bleiverschluß, ein Schraubenkäpselchen entfiel den klammen Fingern Urbans und rollte vor der Mutter Füße. Flur, die stumm beiseite gestanden hatte, bückte sich danach und hob es auf, trat an den Tisch, wohin Urban das Gütterle gestellt, und schloß es.

»Das ist nun Flore Fleig, Mutter, unsere neue Magd.«

Sixta fragte: »Braucht's die?«

Urban: »Wohl, Mutter.«

Flur verließ die Stube. Sie fürchtete sich ein wenig vor der stattlichen, strengen Frau.

Sixta sagte: »Ja, wenn ihr euch von jetzt ab selber euere Leut sucht, brauch ich ja nimmer nach dem Rechten zu sehen.«

Urban mußte lächeln. Er zog den Kittel ab und hängte ihn über eine Stuhllehne, dann stopfte er sich umständlich eine 70 Pfeife. Wölkte sein Gesicht ein, mitten in der Stube stehend, der große, schwere Kerl.

Sixta erhob sich und meinte bestimmt: »Es hat keinen Wert – –, ich geh jetzt ins Erlenmoos, b'hüt Gott!«

Urban hielt sie nicht. Er kannte ihren Eigensinn, seit sie den Hof abgegeben hatte, nicht mehr an dem Tisch ihrer Söhne zu essen. Er ließ sie gehen, machte ihr die Stubentür auf, paffte heftig, knirschte: »B'hüt Gott, Mutter, grüßet die Erlenmooser, guten Sonntag auch, adje!« Genau wie sonst. Und Sixta ging. Am Brunnen stand Flur und schlug mit dem Beil das Eis in dem Trog klein. Sixta in rascher Regung trat nah hinter sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Man will, daß die Flur Fleig brav ist, Bauern sind keine Zigeuner.« Und fort war sie, ehe sich Flur von ihrem Schrecken freimachen konnte. Aber die kluge Bäuerin Sixta hatte jetzt zwischen sich und Flore Fleig Feindschaft gesät, die nicht mehr auszurotten schien.

Blaß, erhobenen Hauptes, ein kleines, hochmütiges Lächeln im Gesicht, trug Flur die Speisen auf. Als Martin da war, setzten sich alle nieder zum Essen. Danach stand Kamilla steif auf und gab kund, sie wolle unwiderruflich am Andreastag bündeln. Die Bauern blickten sie erstaunt an. Flur verließ, ahnend, was nun geschehen würde, die Stube. So konnte die ältliche Magd zum zweiten Male heute ihrer Enttäuschung in stürmendem Wortschwall Luft machen. Das arme Ding fand nicht sehr teilnehmende Zuhörer, sowohl Martin wie auch Urban winkten ihr mehrmals mit der Hand ab. Martin verkniffen, Urban breit lächelnd.

»Alt Eisen wirft man weg, gut. Ich gelte Euch nichts, gar nichts?« zeterte die Magd. »Ich bin froh, loszukommen vom Michelshof; am alten Fluch muß doch was dran sein. Den Drudentritt könnt' ihr nun selber zur Abwehr des Muhrseeweibes auf die Schwellen ritzen. Kamilla Stockburger geht, geht, geht! Grüß Gott und b'hüt Gott – ja, sie geht!«

Ihre Stimme schrillte sich heiser am dumpfen Gemüt der Jungbauern. Die lächelten. Und Kamilla verließ unaufgehalten schon am Nachmittag, obwohl bis zum Andreastag noch zwei Wochen waren, den Hof, der ihrer schlichten Seele unheimlich zu werden begann. 71

*

Und die kleine Flur nistete sich im Michelshof ein wie eine zierliche Taube. Bald tanzten die Blicke der beiden Brüder um sie, wenn Flur irgendwo in der Nähe weilte. Sie jedoch gab mit keiner Gebärde zu erkennen, daß sie das merkte und davon erfreut oder behindert schien. Sie tat ihre Arbeit mit stillem Mut, und alles, was sie verrichtete, war gut. Sixta, die Bäuerin, kam ein paarmal unverhofft unter der Woche auf den Hof, doch so scharf sie spähte, einen Fehler fand sie nirgends. Indes Flur grüßte jedesmal mit kleinem, ein wenig hartem Lächeln und verschwand. Es gab keine Gelegenheit für Sixta, mit dem Mädchen zu sprechen.

Sie kehrte zu ihrer Lieblingstochter Magdalen zurück und sagte: »Weiß Gott, man muß es dem jungen Gücksi lassen, es schaffet wie ein Altes. Aber wer weiß, wie lang die Herrlichkeit hebt.«

»Eh nun«, lachte da der Erlenmooser Jungbauer auf seine knitze Art, »eh nun, soll eine nicht in Freud schaffen um so saubere Gesellen wie die Zwilling; es wird schon schnappen, Mutter, Ihr erlebt's noch.«

»Was Gott verhüt! Tochtermann, Ihr seid aber auch ein kerzengerader Narr, müßt Ihr meinem Kummer noch Futter hinstreuen; das Unheil wär groß, wenn einer von den Buben sich vergessen wollt mit der Zigeunerdirn. Solche haben untreues Blut im Leib. Nein, nein, verhüt das Gott, verhüt er das, so gut er kann.«

Der Jungbauer sagte Amen, sonst nichts mehr, pfiff sich eines seiner Schelmenlieder und begann an der Häckselschneidemaschine zu arbeiten. Der Erlenmooser, dieser schmale Siebenkindvater, der noch aussah wie ein Bursch von zwanzig Jahren, galt als der unternehmendste Bauer im Umkreis. Er sprach jetzt schon davon, das elektrische Licht in Haus und Stall anzulegen. Eigene Kraft bekam er vom Wildbach, der vom Kapf aus einer Schrunde herausschoß und nur über sein Gebiet brauste. Er hatte schon einmal einen Ingenieur dagehabt, und der Plan stand fix und fertig in den Köpfen. Es spukte im Erlenmooser höllisch, aber sein Weib Magdalen bremste, die Sache sei noch zu wenig ausgeprobt; ehe man Geld daranhänge, müsse man anfragen, wie sich das neue Licht anderen Ortes bewähre. Wenn die stattliche Frau nicht hier und da einmal den Hemmschuh 72 angelegt hätte, der unruhige Verbesserer hätte keinen Stein mehr auf dem anderen an seinem Erbgut gelassen, und das hätte den Besitz auf den Hund gebracht. Magdalen war im wahrsten Sinne ihrer Mutter Sixta Tochter, und wer den Großvater Stoffel gekannt hatte, sagte, sie habe viel von ihm geerbt.

Magdalen schürte auch gegen die Magd Flur. Sie legte sich nie Rechenschaft darüber ab, warum sie diese Fremde bis in den hintersten Seelengrund hinein nicht leiden konnte. Wenn Sixta zugab, die Fleig mache ihren Dienst ohne Tadel, und versöhnlich gestimmt war, blies Magdalen ein glühend Zornfeuerchen an aus dem Funken Groll, der in der Mutter Herz gegen Flur, den Eindringling, gloste. Sixta hielt sie vom Michelshof fern, setzte mit Müh und Not bei ihr durch, daß sie den Brüdern nicht mit ihren bösen Aufklärungen komme; ein Feuer, das schlafe, solle man nicht wecken, es würde gar rasch eine Brunst daraus.

Jedoch das Feuer war bereits geweckt. Eines Abends, ein kühles Abendrot stand am Himmel, fielen Flur und Urban einander zu. Im Futtergang mußten sie aneinander vorüber, es war so wärmlich und roch nach frischer Milch und wohlgepflegtem Heu, sie befanden sich allein im Haus, Sonntags abends, da ergriffen sie Besitz voneinander. Flur hatte seit Tagen eine Blutsunruhe zu bekämpfen, träumte von Zigeunern, litt und lachte in diesen Träumen. Bei Tag sah sie diesen starken, schönen Urban schaffen und feiern und mit staunenden Augen auf sie schauen, wo sie ging und stand. Nach der heimlichen, raschen Liebesstunde verlor sich die Unruhe. Alles war gut.

Martin, viel auf der Jagd und im Wald beim Holze, kam im Abend zurück, aß und rauchte und merkte nicht, wie anders sich die beiden ansahen. Der Knecht schnarchte am Ofen, die Hüterbuben spielten Mühle. Alles geschah im gewohnten Ablauf.

Der Frühling trat früh in diesem Jahr seine Herrschaft an. Untrüglich scheinbar; denn das fahrende, landstreichende Volk zog über die Landstraßen. Hinter den Scheiben, welche die Sonne beschien, war es ordentlich heiß, die Fliegen wachten auf und surrten mit noch steifen Flügeln hin und her. In den zarten Sonnenbahnen, die durch die Fenster in die Stube fielen, tanzte 73 der Staub. Urban, der dies beobachtete, dachte: »Ganz sauber hält die Flur scheint's nicht.«

Er blätterte in einem Verzeichnis, das Saatgut aller Art anpries. Über seinem Kopf in ihrer Kammer hörte man Flore. Sie summte leise und freute sich des schönen Sonntagnachmittags. Unterm geöffneten Fenster machte sie sich das Haar, löste die blonden Zöpfe auf und strählte langsam die geschmeidigen Strähnen. In den Scheiben, hinter die sie, weil sie keinen Spiegel besaß, eine schwarze Schürze gehängt hatte, konnte sie sich sehen. Auch die Straße spiegelte sich drinnen, die nach Buchenbronn führte. Flur war zufrieden und voll stiller Hoffnung. Böser Traum schien ihr Vergangenheit, weggescheucht mit einer einzigen Handbewegung. Ach, wenn der Urban mich nimmt, wird der Vater seinen Zorn vergraben und stolz sein.

Sie dachte an Urban; aber so oft sie sich sein Gesicht vorstellte, verwischte es sich, und Martin war da. Martin blieb ihr fremd. Noch keine drei Worte hatten sie miteinander geredet. Hungrig kam der heim, putzte an seinen Flinten herum und legte sich früh zum Schlafen nieder. Vor Tag machte er sich meistens schon wieder aus dem Hause. Seine Augen sahen heiß und wild aus, wenn er sie anschaute, immer überhaupt. Flur ertrug diese Augen nicht, ohne flammend rot zu werden. Dann zuckte sein Mund, als lächelte er verstohlen.

Flur strählte und sann, spähte ab und zu in der Scheibe die Straße hinauf. Sie war wunderfitzig und betrachtete alle Leute, die vorbeizogen, konnte es doch einmal geschehen, daß jemand vom Lohrenhof darunter war und berichten konnte hin und her, wie es gehe und stehe. Aber sie wartete vergebens.

Seit einer Weile mußte Urban unter der Haustür stehen. Der Rauch eines guten Tabaks schwelte um die Hausecke. Bauern, die vorbeiwandelten, riefen »Grüß Gott« herüber und einige Worte auf den schönen Tag. Urban stand mit voller, ruhiger Stimme Rede und Antwort.

Plötzlich schlug der Sultan an, rannte zum Hof hinaus und auf die Straße. Auf der Höhe des ersten Anstieges stand scharf gegen den blauen wolkenlosen Himmel ein schwarzer Hund. Dem raste Sultan in mächtigen Sprüngen entgegen. Voreinanderstehend in knappem Abstand, unterhielten sie ein grobes Zwiegespräch, das an den Wäldern hinhallte. Flur schaute 74 ziemlich gedankenlos dieser Begegnung zu, als droben ein Roß sichtbar wurde, dann ein grüner Wagen, neben dem ein schlanker Mann herschritt, laut mit der Peitsche knallend. Der fremde Hund raste ihm entgegen und umsprang Roß und Mann; Sultan erhielt einen scharfen Pfitz über die Schnauze und kehrte winselnd in den Hof zurück.

Dies alles beobachtete Flur auf einmal in starrem Schrecken. Sie verlor die Herrschaft über ihre Arme und Hände, der Kamm entglitt ihr, das bereits gescheitelte Haar fiel wirr um ihren Kopf. Der Wagen kam langsam näher, scharf quietschte die Bremse. Flur erwachte, riß sich zusammen, raste halb irrsinnig die schmale Stiege hinab zu Urban, der unter der Haustür stand.

»Was ist denn?« fragte er, erstaunt über ihr gelöstes Haar und ihre unordentliche Hast.

Sie fand fast nicht rasch genug Worte: »Da kommt er, der Klempi Gatterer, will mich am End wiederholen. Hilf mir, verrat um tausig Gottswillen nicht, daß ich da bin, ich will lieber tot sein als ihm noch einmal in den Händen.«

Noch ehe Urban richtig begriffen hatte, was sie wollte, war sie schon wieder im Haus verschwunden. Martin trat aus dem Schopf, wo er an dem Schnitzstuhl im Groben aus altem Nußbaumholz an einem Gewehrschaft schnefelte und sagte: »Den Kerl lupfen wir zum Hof naus, wenn er ankehrt, ohne ein Wort, er wird schon merken, wie's gemeint ist.«

»Abgemacht.«

Die Kampflust blitzte Urban aus den hellen Augen. Er knöpfte die Hemdsärmel vorn auf und meinte: »Ha, das gibt dann Schmieröl in die verrosteten Winterknochen.«

Der Mann mit dem grünen Wagen kam näher, der schwarze Hund tanzte voraus in tollen Kreiseln seinem Schwanze nach. Das Fuhrwerk hielt vor dem Michelshof, und der Zigeuner trat zu den drohend dastehenden Brüdern, bat um Milch, er habe eine Wöchnerin im Wagen. Ehe sich die Brüder gefaßt hatten, sprang schon Flur, die im Gang gelauscht hatte, in die Küche, kehrte zurück mit einem Topf Milch, drängte ihn dem Fremden auf, der wortreich und unterwürfig dankend sich zurückzog und dann, nachdem er durch ein Fensterchen die Milch in den Wagen gereicht, gemächlich, peitschenknallend weiterzog. 75

Flur stand beseligt lächelnd, durch den aufgelockerten Haarwald schmaler im Gesicht als sonst, und sah dem Wagen nach, wandte sich dann, das Lächeln nicht verlierend, den Brüdern zu. Martin und Urban starrten sie an. In Martins Augen glomm etwas auf, das Flur erschreckte. Jetzt fiel ihr das Haar ein. Sie griff beschämt in die Fülle, raffte es notdürftig zusammen und zog sich, im Banne von Martins Augen bleibend, gegen die Tür zurück. Wie sie sich vergaß! Urban, der blitzschnell das Schauspiel begriff, das die beiden ihm boten, überfiel der Jähzorn, er stürzte auf Flur zu, hob die Hände, weiß Gott zu welcher Tat, senkte sie aber wieder, als sie eben Gefährliches tun wollten wie auf unhörbaren Befehl, sagte heiser zu dem schneeweißen Mädchen: »Mach dein Haar richtig, geh in die Kammer.«

Flur, mit schwer gehorchenden Lippen, sagte wie um ihn zu versöhnen: »Ich bin so froh, es war ja nicht der Gatterer.« Ihr Blick irrte unwillkürlich zu Martin zurück. »Geh!« schrie Urban, und hätte nochmals die Hand gehoben, wenn nicht Flur entflohen wäre.

Nun geschah in den folgenden Tagen das Merkwürdigste mit den Brüdern: Statt daß sie sich mieden oder miteinander stritten, waren sie fast unzertrennlich. Da der Winter doch wieder zurückgekehrt war, dem wunderfitzigen Frühling ordentlich die Nase weiß zu machen, hielten sie sich im Hause auf. Ging Martin in den Wald, nahm er Urban mit zum Holzriesen. Das war eine sehr gefährliche Arbeit, leicht sprang ein Holzstamm aus der von anderen Stämmen gelegten Schrunde, in der man ihn hinabließ wie in einem steil abfallenden Kanal, und erschlug den Rieser. Das kostete in jedem Jahr Menschenleben auf dem Walde.

Urban war diese Waldarbeit von allen die liebste. Er spielte mit seiner wundersamen Kraft förmlich mit den Stämmen.

Holee, holee, hoha, ho, Herrgottsakziment!

So und in vielen anderen Wendungen und Wandlungen hallte der Wald wider, in dem die Holzfäller tätig waren. Im Wald lag nicht viel Schnee. Es duftete nach dem Tannenreis, das in schweren Ästen, gleich großen Vogelfittichen, vom Stamm gekappt niedersank. Raben schrien überm Wald. Weit 76 leuchteten die roten Beeren der Stechpalme durch den schütteren Teil des Tanns.

Nach dem Riesen, als die Stämme, sauber geschält und wohlgeordnet wie Streichhölzer in der Schachtel, nebeneinander auf der Ladstatt, der Lichtung an der Hochstraße, lagerten, nach dieser schweren Arbeit begannen sie mit dem Holzsägen. Tagelang sang die lange Bandsäge durch die Stämme hin und her, hin und her. Urban zog hüben, Martin drüben. Das Sägemehl sammelte sich wie zu riesigen Ameisenhaufen an beiden Seiten des Stammes. Wenn sie ihren Schluck Schnaps, Brot und Speck einnahmen, konnten die Brüder darauf kommen, mit den Augen mühsam die Jahresringe zu zählen. Scheitholz für den nächsten Winter wurde in Festmetern aufgebeugt. Bis zum Herbst blieb es im Walde sitzen.

Über Flur fiel nie ein Wort. Keiner merkte dem andern an, ob er an sie dachte. Wer las in ihren verschlossenen Seelen? Kurze Zeit nachher aber trennte ein Ereignis für immer ihre Einigkeit.

 


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