Hermann Eris Busse
Bauernadel
Hermann Eris Busse

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8
Flore Fleig

Drei Jahre rannen hin, wie Spreu im Wind verflogen, da kehrte Martin Götz vom Militär heim. Mit einem großen und stolzen Aufatmen. Er war ein guter Soldat, aber kein leidenschaftlicher, auch der Hochmut auf sein Regiment, seinen Waffenrock und die Gefreitenknöpfe verging ihm, je mehr er in die Mannesjahre kam. Nun konnte Urban Soldätles spielen. Dem würde ein bißchen Drill und Zwang recht gut tun. Wie ein Bulle im Joch würde der aussehen.

So kehrte Martin heim. Ihn umfing das Wesen der Heimat gleich so warm und stark, daß er förmlich im Fieber tagelang herumlief und nicht wußte, wo zuerst er anpacken und schaffen 57 helfen sollte. Es war Herbst und Arbeit genug vorhanden. Urban wurde nicht gezogen. Er habe Anlage zum Bruch, sei frei, erhielt er als Bescheid. Urban war es recht. Sixta atmete auf. Sie wünschte keinen der Söhne mehr fort. Sie wurde alt und mürb. Urban sollte heiraten, damit sie zu der Magdalen ziehen könne.

Unzertrennlich und einig wie noch nie zeigten sich die Söhne, obschon sie sich als Zwillinge ins Erbe des Hofes teilen mußten, was Zänkereien Tür und Tor hätte öffnen können. Aber Martin war Jäger und Waldfreund, Urban Bauer und der Pflege von Acker und Vieh zugetan. Sie kamen sich nicht ins Gehege.

Sixta, die wie jede echte Bäuerin das Ehestiften nicht verheben mochte, wies unter der Hand manche Tochter aus guter Sippe, bald dem Urban, bald dem Martin, doch schienen die jungen Männer in jedem Falle blöd oder verstockt. Kühl schweiften die Kerle ab, wenn man ihnen ein Frauenzimmer noch so sorgfältig pries.

Die Agnes Ganther strich hin und wieder am Hof durch – sie war für einige Zeit aus der Stadt, in der sie diente, heimgekehrt –, linste scharf in alle Ecken, durchstreifte sogar Sonntags den Wald nach Martin, der ihr tief im Sinne lag, trotz der Abfuhr, die sie vor Jahren von ihm am Herbstfeuer erhalten. Aber die kam gar nicht als Weib für Martin in Frage, so dachte Sixta. Sie verschmähte auch nicht, die schlimmen Geschichten, welche über das Mädchen im Umlauf waren, beiläufig anzudeuten, worauf die Söhne schwiegen. Nur einmal sagte Urban: »Ha, so einem Ding wird halt die Zeit auch lang in der Einöd. Ist auch nur einmal jung, und ein sauber Mädel dazu. Das gibt manchmal die besten Frauen.«

»Oha, Büble, wer nix gelernt hat und seiner Lebtag nicht ist zum Schaffen angehalten worden und seiner Lebtag nichts anderes gesehen und gehört hat als Saufen, Fluchen, Kartenspielen und sonst noch Sachen, die Gott verboten hat, und das hat sie gesehen in dem runtergekommenen Talbauernhof und mehr noch in der Stadt, dann kann eines nie was leisten. Und – schau sie doch an, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«

»Schönes Äpfelchen«, lachte Martin, »aber die Mutter hat recht, Urbe, und im Unterland, wo es so viel schöne Äpfel gibt, 58 wahrhaftige, mein ich, hab ich's erlebt: in den glättesten war innen der Wurm.«

»Ja, die Ganthers Agnes ist wie ein halbseidener Schurz, schön ins Aug am Anfang, hernach, trägt man ihn recht, guckt bald der Baumwollzettel raus, und die Seide ist heidi«, sagte die Mutter.

Urban winkte ab: »Ha, man meint grad, ich wollt sie freien, so redet Ihr drum, Mutter, ich denk nicht dran. Frei überhaupt nicht, meine Freiheit ist mir lieber.«

»Nach dir verlangt sie auch nicht, Urbe, du Dralle, sondern nach mir. Ich war ein Soldat, man sieht's mir noch an« sang Martin in spöttisch guter Laune.

Urban stand auf von der Ofenbank mit hochrotem Kopf und verließ, Unverständliches murmelnd, die Stube. Wenn er die Agnes sah, stürmte ihm eben doch immer wieder das Blut auf. Daß sie keine Bäuerin gab, im Leben nicht, das wußte er wohl und hielt sich ihr drum fern. Zu Fisimatenten, denen schließlich ein Muß nachhinkte, hatte er keine Lust, was das Weibervolk anbetraf.

Ein paar Jährchen konnte die Mutter schon noch zum Rechten sehen, dann fand sich wohl, wenn nicht eine Bäuerin, so doch eine tüchtige Großmagd, die ihre Stelle vertrat. Die Zeit wurde nur Sixta lang, den Söhnen nicht, diesen Sonderlingen.

Urban war ein Bauer. Er liebte nichts mehr in der Welt als seine Scholle, seine Geräte, sein Vieh. Am meisten die Scholle, die sich ihm hinbreitete, auf daß er sie bestellte. Unter seiner Hand gedieh alles. Dachte man noch an die finsteren Sagen, die über die Michelshofsippe umgingen? Glück und Zufriedenheit schienen unvertreibbar eingezogen zu sein. Sie lebten einsam, nur in sich gesellig, diese beiden Brüder. Sixta indes besorgte ihnen, da sie nicht mehr hoffte, daß bald eine Frau auf den Hof kam, eine ältere, erfahrene, derbe, tüchtige Großmagd und siedelte ins Erlenmoos hinüber, sich und Magdalen einen Herzenswunsch erfüllend. Dann und wann verbrachte sie ein paar Tage wieder im Michelshof in regelmäßigen Abständen, um noch ihre Augen über allem wachsam zu haben; denn das Erbe sollte nicht vernachlässigt werden, solange sie lebte. Indes die Großmagd Kamilla war ein treues, anständiges Frauenzimmer, das anspruchslos und gelassen seine Pflicht tat. Die 59 Söhne spürten sie nicht, sie waltete wie eine ältere Schwester ihres Amtes. Es waren noch zwei Knechte und zwei Hüterbuben da, lauter stille, arbeitsame Menschen ohne große Daseinswünsche. Herzenskämpfe gab es für die Knechte nicht mehr, für die Hüterbuben noch nicht. Sixta fand alles in rechten Händen, mochten die beiden Gesellen ihren Einspännerwillen haben und Hagestolze werden. Jedoch wandte sich unversehens mitten im Winter das Blättlein.

*

Zwischen dem Siehdichfür, jener weit auseinander verstreuten Siedlung auf der schmalen Hochebene, die eine Stunde lang und waldbestanden von einer schnurgeraden Straße durchschnitten wurde und in deren Waldlücken, Blößen, Weiden Höfe gebettet waren, zwischen dieser Gemeinde und dem hinter die Ebene hinabfallenden Reichenbachtal lag eine unvermutet in tiefen Wald hineingeschwungene Bucht mit riesigen Findlingsblöcken besetzt, die wie geduckte Ungeheuer inmitten von kleingehügelten Matten ruhten, und nahe am Wald stand ein großes, wohlgepflegtes Bauernhaus. Diese Stelle trug den Namen das »Wiß Loch«; weshalb das weiße Loch, ließ sich nur vermuten. Das Gelände war feucht, selten ging man abends vorbei, ohne das weißliche Gewoge zu bemerken, das die Bucht samt ihrem Haus geheimnisvoll verschleierte. Der Hof hieß Lohrenhof, sein Besitzer Vitus Fleig, seine Frau war seit vielen Jahren tot, an der Auszehrung, sagte man, gestorben, was nicht wunder nahm in dieser sumpfdünstigen Luft, sein Sohn hieß Jörg, ein tüchtiger Bauer mit einer braven Braut, seine Tochter Flore – – –

Flore? Ihr Name war nicht üblich auf dem Walde, aber der Vater, ein strenger Mann, hatte seiner in Fiebern gebärenden Frau, die auf dem Siechenbett viel gelesen hatte, vor allem viele Märchen, versprochen, Flore oder Tristan müsse das Kind heißen. Widerwillig versprach er es, und konnte doch nicht anders, als erschüttert und ungläubig in das verzückte Heiligengesicht seines hinsterbenden Weibes schauen, das dem neugeborenen Mädchen wohl hundertmal diesen süßen, fremden Namen ins Ohr flüsterte.

Monate darauf starb die Bäuerin erst. Niemand konnte ihr 60 etwas anderes nachsagen, als daß sie eine fleißige, stille Frau gewesen, willig zur Arbeit, sparsam im Haushalten, fromm und gütig. Vitus allein wußte, daß sie innerlich von heißer Lebensliebe glühte, daß sie nur übers Maß schaffte, um nicht an der großen Glut ihrer Sinne zu verbrennen. Sie sah so hinfällig aus, blond, schmal, weiß im Gesicht, aber in ihren grauen Augen, die stets in feuchtem Glanze leuchteten, lohte es, und sie allein waren schön. Sie hatte die Gewohnheit, jedem Menschen groß und lang mit dem Blick zu begegnen, ob Mann, ob Frau, Knecht oder Magd, Kind oder Greis. Die Pracht und Ruhe dieses Blickes vergaßen wenige wieder. Aus ihm las der Lohrenbauer, der hinter seiner Strenge eine tiefe Leidenschaft für die Frau barg, um die er hatte als armer Häuslersbub sehr kämpfen müssen, las er ihre starke Menschlichkeit ab. Er war ein kluger Mann, weitgewandert, belesen, ein fortschrittlich gesinnter Bauer, der sich viel mit der Politik abgab, Zeitungen hielt und für den landwirtschaftlichen Teil des »Echo« zuweilen Ratschläge und Beobachtungen schrieb. Er schien ehrgeizig, und es gab hellköpfige Bauern im Reichenbach, die meinten, man könne aus dem Lohrenbauer mit Vorteil den Bürgermeister machen, wenn der alte abdanke.

Zwischen den Eheleuten hatte es nie Streit, kaum je ein ungattiges Wort gegeben. Man merkte, obschon sie es nie zeigten, daß sie noch nach vielen Jahren ihres Bundes einander nicht gleichgültig waren. Deshalb kannte und verstand der Vitus sein Weib besser und kümmerte sich mehr um ihr Heil, als es die Bauern für gewöhnlich tun. Er merkte bald: ihr Leib verzehrt sich, ihre Seele wächst. Und ihre Träume, die reich und blühend über sie herfielen, in leichten Fieberanfällen, pflegte sie ihm feierabends, auf dem Bänkchen vor dem Haus, im Sommer, zu erzählen. Sie machte viel dazu, das merkte er wohl, aber es klang seltsam schön und fremd. Oft begann sie: »Ich war gestern nacht wieder die Prinzessin auf der weißen Straße« oder »Auf einer Flur unter Sternblumen mußte ich stehen – – –.«

Eines Tages im Herbst verschied sie nach einem Blutsturz, mutterseelenallein. Flore, das Kindchen, schlummerte in der Kammer, der Bub war mit dem Bauer draußen in Wind und Regen beim Kartoffelausmachen. Die sieche Frau fühlte sich 61 an diesem Tag wohl wie seit langem nicht mehr, sie summte und träumte vor sich hin, indem sie kleine Arbeiten im Haus verrichtete. Da überfiel sie gleichsam von hinten Gevatter Tod. Als Bauer und Bub am Staffeleisen draußen die schweren Erdballen von den Schuhen stampften, vernahmen sie das Schreien des kleinen, hungrigen Kindes, und als sie in die Stube traten, lag die Mutter am Boden und war erloschen.

Seither hatte sich die Strenge des Bauern noch schärfer gezeigt; an dem Sohn zwar bekam er keine Gelegenheit herumzumäkeln, doch an Flore, die er kurzweg Flur rief. Es gab auch vielleicht weit und breit kein eigensinnigeres Kind als dieses; Schläge halfen nichts, was in dem kleinen Kopf steckte, mußte ausfliegen. Flurschaden, sagte der Vater oft im Zorn, weil er sie nicht zwang, Flurschaden sollte sie heißen.

Flore Fleig hatte so eine harte, doch heimlich blühende Jugendzeit mitgemacht. Sie stahl sich in den Wald, so oft sie konnte, und lebte im Gespräch mit Tieren, Blumen und Bäumen das königlichste Dasein. Als sie ein junges Mädchen war, glitt dieses Traumwesen nicht von ihr ab. Sie entlief der Arbeit, gleichgültig wo und wann, unter den Augen des Vaters entwischte sie und streifte umher. Und plötzlich von heut auf morgen konnte der Lohrenhofer sein störrisches Mädchen nicht mehr mit Schlägen strafen, da sah ihn aus ihrem erwachten Gesicht die längst verewigte Frau an, Flur blühte dieselbe Pracht und Ruhe aus den großen, grauen Augen wie der Mutter. Da ließ der Bauer sie bei ihrem Tun, zumal sie Zeiten hatte, in denen sie schaffte wie jedes andere brave Mädchen auch. Glückliche Hände besaß sie wohl, alles gelang ihr und lief hurtig, und man meinte dabei immer, sie spiele bloß und arbeite gar nicht.

So kam es eben nur auf die eine Untugend der Flur heraus, diese seltsame Streicherei im Walde. Der Vater schickte sich finster und stumm drein; den Bruder, der Flore auf seine karge, wortarme Art sehr gern hatte, störte ihr Unwesen nicht.

Flores Waldläuferei schien sinnlos und ziellos bis zu dem Zeitpunkt, wo sie auf romantische Weise an einer Waldschneise das Zigeunerlager des Klempi Gatterer antraf. Klempi, eigentlich Klemens, war ein echter Pußtazigeuner, schwarzhaarig, 62 graubraun im Gesicht, hager und mittelgroß. Er war noch jung, genau wußte er sein Alter nicht, zu seiner Gesellschaft gehörten eine Großmutter, ein älterer Mann, dessen verblühtes Weib, ihre drei halbwüchsigen Töchter und viele, Gott wer zählte die, in allen Kindesaltern stehende, braunschwarze Buben. Wie Klempi mit den anderen verwandt war, schien er selber nicht richtig zu wissen, doch sie gehorchten ihm alle, als wäre er ihr Meister. Der schöne Bursch, geschmeidig und liebenswürdig, schmeichelte sich leicht in die Gunst der Menschen und bettelte nie vergebens, führte nie vergebens Taschenspielerkunststücke vor, geigte nie vergebens zum Tanz auf, spielte nie ohne andächtige, gebbereite Zuhörer die fremdartige Okarina. Ihm floß Geld zu und andere Habe. Durch ihn und von ihm lebten alle im grünen Wagen, sein war das Roß, sein der Wagen, alles sein eigen. Man lebte in Frieden, man fuhr durch die Lande, Heimweh im Herzen und Unruhe im Blut.

Da stand eines Mittags inmitten der Helle des Hochsommers vor dem Getreideacker, vor der leuchtenden Fülle des Klatschmohns am Grabenrand die schmale, blonde Flore Fleig und blickte ins Lager. Klempi sprang auf, trat zu ihr: »Scheren schleifen, Fräulein?«

»Nein.«

»Kessel flicken?«

»Nein.«

»Schirme?«

»Nein.«

»Was beliebt sonst, Fräulein? Aufspielen?«

»Nein.«

»Was beliebt Euch denn, weißes Fräulein?«

Der braune Kerl entzündete sich an ihrer lichten Erscheinung, er trat nahe an sie hin.

»Wie heißt Ihr?« fragte sie, um Verlegenheit zu verbergen.

Er sagte es, fragte keck dagegen, sie heiß anatmend: »Und Ihr?«

»Flore Fleig, Flur gerufen, Flurschaden geschimpft.«

»Schöne, süße Flur, goldenes Täubchen«, schmeichelte er.

Doch sie wich zurück, verschwand um das Kornfeld herum, wie ein Hauch zerstoben.

Klempi wischte sich über die Augen, er glaubte, ein 63 Mittagsgespenst habe ihn genarrt. Doch als er abends im Lohrenhof um Pferdefutter bat, ging sie über den Hof.

»Flur«, rief der Bauer, »Flur!«

»Vater?«

»Gib dem da was für seinen Klepper, und aber dann, Bursche, vom Hof, sonst laß ich den Hund von der Kette.«

Klempi verneigte sich grinsend.

Flur füllte ihm den hergereichten Sack mit Haber. Ihre Hände und ihre niedergeschlagenen Augenlider zitterten. Seine Finger strichen wie von ungefähr über die ihren, als er den Sack zusammenfaltete und sie ihm die Schnur hinreichte.

»Nix gebettelt«, sagte er und warf stolz den Kopf, ging in den Schopf zum Bauern und fragte: »Was kostet es?«

Der maß ihn nur von Kopf bis zu Fuß und lachte höhnisch erstaunt: »Oha, seit wann blecht ein Zigeuner?« und wies ihm die Tür.

Da wandte sich Klempi zum Gehen, ohne Dank, in Haltung und Miene so stolz, als habe er etwas verschenkt.

Als er an Flore vorbeikam, die seiner wartend am Milchhaus stand, sagte er, ohne umzuschauen: »Süße Flur, weiße Taube!«

Flur verfiel ihm. Nachts brach sie auf und traf ihn im Walde.

Da das fahrend Volk nur einmal am gleichen Platz nächtigen, das heißt nur vierundzwanzig Stunden in derselben Gemarkung bleiben durfte, löste Klempi sich für einige Tage von seiner Gruppe los. Und es kam so weit, daß das blonde Mädchen mit ihm zog und sich zu seiner Sippschaft gesellte. Doch seine Frau wurde es lange nicht. Blieb blaß und rein neben ihm wie ein Mondstrahl. Die Weiber im Wagen haßten sie, der ältere Mann schaute auch heiß nach ihr. Später nahm Klempi sie mit zum Singen, Tanzen und Betteln. Mit grellen roten Fetzen ausgestattet, folgte sie den Befehlen des Geliebten, sie, die nie verstanden hatte zu gehorchen. Aber der Zigeuner bekam sie satt. Die keifenden, lügenden, eifersüchtigen Weiber sorgten auch dafür. Man schlug das Mädchen, Klempi ließ es geschehen, bald half er mit. Das alte, alte Lied – – elend und zu Tode traurig, in Lumpen, hustend und frierend, schlich Flore heim.

Der Bauer war nicht zu Hause. So konnte sie in ihre 64 Kammer schlüpfen, anständige Kleider anlegen. Der Bruder sagte karg: »Bist wieder da? Der Vater weiß alles, es wird bös hergehen, wenn er dich sieht.«

Flore lachte zuversichtlich. Alles würde sie aushalten können, nur um wieder daheim zu sein.

Doch als der Lohrenhofer zurückkehrte, in die Stube kam, sie sah, wies er nur mit stummer Gebärde an die Tür. Flur wußte, da gab es keine Gnade und schlüpfte schluchzend unter seinem starren Arm durch in den Winter hinaus. Irrte hin und irrte her. Bis die Nacht hereinbrechen wollte, der Wind kalt über trockenen Schnee pfiff. Da betrat sie mutig den Uhrenmichelshof im Schiltebachtal. Sie kannte sich nicht recht aus, obschon der Lohrenhof zur Gemarkung Reichenbach gehörte, die in Buchenbronn zur Kirche ging, besuchten seine Bewohner das Gotteshaus zu Sonnenkirch, weil sie dorthin nur über einen Berg zu gehen brauchten, über den hohen Lohrenwald, der eine Bucht bildete, in deren Hut der Hof ruhte.

So kannten auch die Michelshofer das Mädchen nicht, das ihnen im wahrsten Sinne des Wortes zur Tür hereinschneite. Sie saßen gerade feierabendlich am Tisch. Urban zeichnete auf die in die Buchenplatte eingelassene Schiefertafel mit Kreide die Linien des Mühlenspieles. Die Stube steckte voller Tabakqualm. Um die Hängelampe wehte ein Meer davon.

Da raste plötzlich der Hund aus dem Schopf und bellte scharf. Eine Frauenstimme, die ihn beruhigen wollte, klang matt, aber ruhig. Sultan ließ nicht ab von seinem Toben. Es fiel den Brüdern nicht ein aufzustehen, um zu schauen, wer da komme. Es kann Besuch für die alte Magd, für Kamilla sein, dachten sie. Urban zeichnete weiter, Martin baute mit den Mühlespielhölzchen.

Jemand öffnete der Ankommenden die Haustür, ein kurzes Gemurmel wurde laut, dann schob man ein schmales, dunkelgewandetes Frauenwesen zur Tür herein. Das wankte sogleich zum Ofen, ließ sich mit tiefem Seufzer nieder und kroch ganz nah an die heißen Kacheln.

»Um Gotteslohn, lasset mich erst warm werden, dann will ich Red und Antwort stehen.«

»Eilt nicht«, sagte Urban und zeichnete weiter. Martin schlug den Rauch vor seinem Gesicht auseinander und spähte nach 65 der Fremden hinüber. Reichenbacher Tracht trug sie. Und keine schlechte.

»Alla!« mahnte ihn Urban, der seine Klötzchen schon aufgestellt hatte.

Martin tat desgleichen, sie begannen ihr erstes Spiel. Schweigend schoben sie ihre Truppen hin und her, schienen so vertieft in ihr Tun, daß sie des Gastes vergaßen. Dem war inzwischen Mauz, der Kater, auf den Schoß gesprungen, knetete ein Weilchen das Plätzchen, um sich dann schnurrend niederzulassen. Die Hand des Mädchens griff vertraut in das warme, graugetigerte Fell. Die Uhren holten nacheinander zum Schlagen aus. Acht Uhr.

Kurze Zeit hernach gewann Urban das Spiel, und Martin fluchte beleidigt. Urban lachte gutmütig, stand auf und machte sich durch die Stube an den Ofen, blieb vor dem Mädchen stehen. Es nahm das Kopftuch ab und die mit schöner gestellter Spitze umrandete Reichenbacher Kappe. Strähnig gelocktes Blondhaar rieselte an den Schläfen nieder und in die Stirn. Flur hob die Augen mutig und blickte den großen, breitschultrig dastehenden Bauern fest an.

»Ich wollt' um ein Nachtlager bitten«, sagte sie. Ihre Stimme klang heiser.

»Kannst es haben«, gewährte Urban. »Droben bei der alten Magd.«

»Ich wollt' euch inständig bitten, mich als Magd zu behalten, ich will schaffen, ich kann schaffen, alles was es gibt. Nichts wird mir zuviel sein, wenn ich hier bleiben darf.« Sie hob die Hände vor Urbans Brust.

»Langsam, langsam!« sagte der, um seiner Verlegenheit Herr zu werden. »Bedenkt es!« sagte Flur, mutlos zurücksinkend.

»Wie heißt du?« fragte endlich Urban, erleichtert, um Weiteres zu erfahren.

»Flore Fleig, man ruft mich Flur.«

»Woher? Fleig gibt's auf dem Siehdichfür und im Reichenbach viele, vom Rüttenhof etwa oder vom Fleighansenhof?«

»Vom Lohrenhof.«

Nun kam Martin auch herbei. Den Lohrenhof, den kenne er. Der Michelswald, das heißt, nein, der ehemalige 66 Götzenhofwald stoße an den Lohrenwald im Sonnenuntergang. Sei ein Prachtswald, der vom Lohrenbauern, viel Wild, sogar Hirsch gäb es dort. Es jage nur selten jemand drinnen, schad.

Flur wandte ihren Blick nicht von Urban; Martin, der dunkle, hochgewachsene Mann, flößte ihr wenig Vertrauen ein, eher Unruhe.

»Warum bist du nicht daheimgeblieben?«

»Es ist eine lange, traurige Geschichte. Mein Vater hat mich verstoßen, und zu meinem Mann kann ich nicht mehr zurück. Er ist Zigeuner.«

Urban und Martin sahen sich verständnislos an. Sie haspelte, um allen anderen Fragen zu entgehen, ihre traurige Geschichte herunter. Mochten sie alles wissen, es erleichterte ihr das Leben, wenn sie sie hier behielten.

»Wollet Ihr mich behalten?« fragte sie zuletzt, Urban wieder klar anschauend.

Urban sah zu Martin hinüber, der am Eckpfosten des Speckschreins lehnte.

Martin zuckte die Achseln: »Mir gleich, wenn noch eine Magd Arbeit findet bei uns, kann sie bleiben.«

Urban dachte ans Frühjahr und daran, daß die alte Magd, die Sixta eingesetzt hatte, sich in letzter Zeit als ein ziemlich böses Ripp gezeigt hatte, dem er wohl bald den Laufpaß geben würde. Und diese, wie hieß sie doch seltsam, diese Flore Fleig, Flur genannt, schien sehr jung zu sein, eine von den Feinen, Schmächtigen, die in Wirklichkeit so zäh sind wie Katzen.

»Wohl, so bleib halt!« gab er zur Antwort.

Flur erhob sich, lächelnd und rot angeflammt über den Wangen, reichte erst Urban, dann Martin die Hand, zu dem sie hinüberlaufen mußte. Der sah sie merkwürdig starr an. Bohrte den Blick förmlich in ihre Augen. Ihre Hand in der seinen zitterte leise, er hielt sie länger fest, als es Brauch war.

Urban rief indessen der alten Person und sagte ihr, daß er zu ihrer Hilfe die Flore Fleig gedungen habe, und befahl, dem Mädchen heiße Milch und Brot zu reichen. Brummend tat sie es. Flur aß und trank am Tische gierig und wohlig. Schweigend sahen Urban und Martin ihrem Mahle zu.

So trat Flur ihr zweites Schicksal an. 67

 


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